kamerateam beim Dreh in Gebäude
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Wie real ist Dok?

Dokumentarfilme haben den Anspruch, die Realität abzubilden. Doch gibt es diese überhaupt, wenn eine Kamera dabei ist? Oder basiert das Genre auf einem Paradox?

Auf den ersten Blick scheint alles klar: Fiktive Filme erfinden Realität, Dokumentarfilme zeigen Realität. Oder wie es der deutsche Filmkritiker Wilhelm Roth formulierte: «Als Dokumentarfilm anerkannt wird in der Regel ein Film, der Ereignisse abbildet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten.» Seit Roth diese Zeilen geschrieben hat, sind über 60 Jahre vergangen. An Gültigkeit hat seine Aussage jedoch nicht verloren. «Wir bilden Realität ab, bereiten sie aber gleichzeitig dramaturgisch auf», erklärt Jochen Frank, Co-Produzent der erfolgreichen DOK-Reihe «Auf und davon».

Simon Christen, Autor SRF DOK

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«Meine Filme beginnen stets mit einer Frage – nie mit einer These. Ich sehe es als meine Aufgabe, mir die Antworten anzuhören und dann möglichst vorurteilsfrei und so gut ich kann die Argumente zu prüfen. Das braucht Zeit, Recherchearbeit und Hintergrundgespräche. Mein Grundsatzcredo lautet: Ich würde nie relevante Fakten ignorieren oder gar unterdrücken, weil es der Geschichte dient.

Beim Dreh ist mein Ziel, möglichst authentische Momente einzufangen. Auch wenn man ehrlicherweise sagen muss: Allein die Tatsache, dass eine Kamera anwesend ist, hat einen Einfluss darauf, wie sich Menschen verhalten. Je länger wir Menschen begleiten und je grösser das Vertrauen ist, desto grösser ist die Chance, dass sie die Kamera irgendwann vergessen. Darauf arbeite ich hin.

Wichtig ist mir, dass ich als Autor nie zum Akteur werde. Das heisst: Ich versuche nach Möglichkeit keinen Einfluss auf das Geschehen zu nehmen und der Handlung keine Richtung zu geben.

«Filmemachen bleibt ein grosser Balanceakt.»

Manchmal kommt es vor, dass jemand etwas nur für die Kamera machen will. Sobald ich so etwas spüre, frage ich: «Würden Sie das auch tun, wenn ich nicht da wäre?» Unproblematisch finde ich es hingegen, für eine Handlung, die ein Protagonist ohnehin plant, ein passendes Datum zu suchen. Bei einem gesetzten Interview erlauben wir uns zudem, Licht zu setzen und Gegenstände im Raum zu verrücken. Die Ästheten unter den Zuschauer:innen danken es uns.

Trotz dieser Vorsätze bleibt das Filmemachen ein grosser Balanceakt. Natürlich möchten wir die Filme für das Publikum optimieren und dadurch möglichst viele Menschen ansprechen. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir uns überlegen, was wir erzählen und was wir weglassen. Daran ist grundsätzlich nichts falsch – solange wir bei der Wahrheit bleiben. Konkret bedeutet das: Wir dürfen nichts Wesentliches weglassen und nichts erfinden.

Natürlich gibt es beim Dokumentarfilm mittlerweile viele Graubereiche, und nicht alle Autor:innen arbeiten nach denselben Grundsätzen wie wir bei SRF. Aber wir leben glücklicherweise in einer freien Gesellschaft mit kritischen und sehr aufmerksamen Zuschauer:innen. Sie schreiben E-Mails, fragen nach, und manchmal beschweren sie sich auch bei der Ombudsstelle. Das ist wichtig, denn es zwingt uns dazu, uns regelmässig die Frage zu stellen, ob unsere Berichterstattung vielfältig, unabhängig und sachgerecht ist.»

Dazu gehört etwa, dass die «Auf und davon»-Autor:innen vorzugsweise Momente im Leben ihrer Protagonist:innen für die Dreharbeiten wählen, die Hürden versprechen. «Solche Hindernisse machen eine Geschichte spannend», erklärt Frank. «Auf diese Weise können wir auch mit Erwartungshaltungen arbeiten und im Realitätscheck sehen, ob sich eine Situation tatsächlich so zutragen wird, wie es die Auswander:innen vermuten oder erhoffen», erklärt der erfahrene Produzent. Ein weiteres nützliches Werkzeug ist die Verdichtung. «Indem wir einen langwierigen Prozess in wenigen Minuten zusammenfassen, können wir ihn attraktiver erzählen», sagt Frank weiter.

«Wir verändern nichts an der Realität.»

Jochen Frank, Co-Produzent «Auf und davon».

Schnell wird klar: Dokumentarfilme sind eben nicht allein das Abbild der Realität. John Grierson, Begründer der britischen Dokumentarfilmbewegung, beschrieb den Dokumentarfilm als «den kreativen Umgang mit der Wirklichkeit». Grierson implizierte damit, dass der Dokumentarfilm mehr ist als eine mechanische Aufzeichnung der Realität. Vielmehr ist er das Ergebnis eines kreativen Prozesses und unzähliger Entscheidungen darüber, wie die Realität mit den zur Verfügung stehenden Mitteln dargestellt werden soll. Je genauer man hinschaut, desto unschärfer wird das Bild also. Bedeutet das, dass der Dokumentarfilm eine Illusion ist?

«Nein», sagt Jochen Frank entschieden, «diese kreativen Entscheidungen machen den Dokumentarfilm ja nicht weniger dokumentarisch. Wir verändern nichts an der Realität.» Barbara Frauchiger, Teamleiterin MMT Serien & Langformate, ergänzt: «Der grosse Unterschied zur Fiktion ist: Wir inszenieren nicht, wir initiieren. Dokumentarfilmautor:innen haben visuell zwar einen grossen Spielraum, trotzdem darf nichts gescriptet, kein einziger Satz vorgegeben sein. Wir überzeugen Leute nie davon, etwas zu tun, was sie nicht ohnehin machen würden.»

«Der grosse Unterschied zur Fiktion ist: Wir inszenieren nicht, wir initiieren.»

Barbara Frauchiger, Teamleiterin MMT Serien & Langformate

Umso wichtiger ist es, bereits bei der Auswahl der Menschen und Geschichten ein gutes Gespür dafür zu haben, was im Film letztlich funktioniert und was nicht. «Im Idealfall hat die Geschichte bereits einen dramaturgischen Bogen. Als Autorin geht man dann hin und dokumentiert, was passiert», sagt Frauchiger. «Auf und davon» hat dieses «fly on the wall»-Prinzip über die Jahre perfektioniert. Bei der sprichwörtlichen «Fliege an der Wand» begleitet die Kamera die Protagonist:innen so unauffällig wie möglich und schafft dadurch noch mehr Nähe.

Letztlich, und das betont auch Barbara Frauchiger, verändert allerdings allein schon die Präsenz einer Kamera die Realität. «Es ist wichtig, diesen Umstand anzuerkennen und verantwortungsbewusst damit zu arbeiten.» Der Dokumentarfilm bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen dem realen und dem filmisch dokumentierten Leben. Damit diese beiden Realitäten so nah wie möglich beieinanderbleiben, ist das Vertrauensverhältnis
zwischen Filmemachern und Protagonisten umso entscheidender. «Nur wenn die Menschen uns vertrauen, dass wir sorgsam mit dem Gefilmten umgehen, werden sie sich irgendwann so wohl vor der Kamera fühlen, dass sie sie gänzlich vergessen. Darauf arbeiten wir hin», sagt Frank.

Das erreicht das «Auf und davon»-Team unter anderem damit, dass es seine Protagonist:innen nicht vorführt. Der Schutz der Menschen vor der Kamera ist ein wahnsinnig wichtiger Aspekt des Schaffens, bekräftigt auch Barbara Frauchiger. «Ich glaube, unser Erfolgsrezept ist, dass wir durchaus die Hochs und Tiefs der ausgewanderten Menschen abbilden und selbst naive Handlungen Platz haben dürfen. Insgesamt legen wir aber grossen Wert darauf, dass die Protagonist:innen authentisch rüberkommen», so Jochen Frank.

Dafür ist nicht nur die Berufsethik der Filmemachenden, sondern auch das Handwerk enorm entscheidend. So gibt es bestimmte wegweisende Momente, die das Team unter keinen Umständen weglassen kann. «Wenn eine Auswanderer-Familie ihr Kind ohne Sprachkenntnisse zur Schule schickt und das Kind weinend das Klassenzimmer verlässt, können wir das natürlich nicht rausschneiden.

«Wir tragen Verantwortung für diese Menschen und wie wir sie im Fernsehen darstellen.»

Barbara Frauchiger, Teamleiterin MMT Serien & Langformate

Die Frage ist aber, wie man das geschickt auffängt», erklärt Frauchiger. Eine Methode besteht darin, den Leuten anschliessend die Chance zu geben, ihre Entscheidung zu begründen, oder aber diesen schwachen Moment mit einem starken auszugleichen. «Wichtig zu verstehen ist: Wir tragen Verantwortung für diese Menschen und wie wir sie im Fernsehen darstellen. Dieser Verantwortung sind wir uns stets bewusst.»

Das grosse Berufsethos der SRF-Autor:innen ist ein wichtiges Fundament dafür, wie Dokumentarfilm im Leutschenbach verstanden und umgesetzt wird. Trotzdem bleibt die Frage bestehen: Wenn so viele kreative und berufsethische Überlegungen in die Entscheidung einfliessen, was dem Publikum letztlich gezeigt wird und was nicht, wie sehr ist das, was wir als Dokumentarfilm und somit als Realität verstehen, dann tatsächlich noch das Abbild der Realität?

Filmwissenschaftlerin Eva Hohenberg hat sich genau mit diesem Thema auseinandergesetzt und unterscheidet in ihrem Buch «Die Wirklichkeit des Films» fünf Realitätsebenen. Als «nichtfilmische Realität» versteht sie die gesamte Menge an möglichen Themen und Bildern, die die Welt zu bieten hat. Mit dem Begriff «vorfilmische Realität» beschreibt sie jenen Ausschnitt der Realität, den die Kamera tatsächlich einfängt. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die «Realität Film», die durch die Rahmenbedingungen der Filmemachenden geprägt ist. Also zum Beispiel Budget, Arbeitsstil, Technologie und Infrastruktur.

Allesamt praktische Aspekte, die einen wichtigen Einfluss darauf haben, welche Szenen und Bilder ein Team überhaupt einfangen kann. Die «filmische Realität» – und somit die vierte Stufe von Eva Hohenbergs Modell – umschreibt den fertigen Film mit einer Aneinanderreihung von Sequenzen, die ein Team im Schnitt zusammengestellt hat. Als fünfte Stufe nennt die Filmwissenschaftlerin die «nachfilmische Realität» – der Moment also, in dem der Film auf die Zuschauer:innen trifft.

Realität – ja. Aber eben doch nur ein kuratierter, von vielen Rahmenbedingungen und kreativen Entscheidungen geprägter Ausschnitt davon. Schlimm ist das nicht und trotzdem verlangt es eine gewisse Medienkompetenz der Zuschauer:innen, um genau diese Umstände zu verstehen und einzuordnen. «Man darf das Publikum nicht unterschätzen. Das spürt sehr schnell, ob etwas authentisch ist oder nicht», ist sich Barbara Frauchiger sicher. Umso kritischer beobachtet sie die aktuelle Entwicklung im Dokumentarfilm, die etwa von Streaming- Anbietern wie Netflix massgeblich mitgeprägt wird.

Michèle Sauvain, Autorin und Produzentin SRF DOK

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Bild: SRF/Oscar Alessio

«Ich halte mich bei meinen Filmen an die klassische Definition des Dokumentarfilms: Ich dokumentiere, aber stelle nichts. Trotzdem haben wir als Autor:innen viele Gestaltungsmöglichkeiten. Kürzlich habe ich mit einem Bauern telefoniert, der in einem meiner nächsten Filme eine zentrale Rolle spielen wird. Ich habe ihn gefragt, welche Aufgaben auf dem Hof anstehen und dann jene Arbeitsschritte ausgesucht, die visuell vielversprechend sind. Ein Dokumentarfilm entsteht meines Erachtens dreimal: das erste Mal im Kopf, dann während des Drehs und schliesslich im Schnitt. In jeder Phase muss ich als Autorin unzählige Entscheidungen treffen.

Zum Beispiel: Was in den Film kommt und was nicht. Es liegt in der Natur des Dokumentarfilms, dass er nicht alles zeigen kann. Wir drehen etwa im Verhältnis 1:10. Gewisse Aspekte sind spannend, gehören aber nicht zum Kern der Geschichte – also lassen wir sie weg.

«Letztlich ist alles, was wir filmen, in irgendeiner Form Realität.»

Meine Aufgabe als Autorin ist, eine Auswahl zu treffen und zu verdichten, ohne dadurch den Kern einer Aussage oder das Wesen eines Menschen zu verändern. Wenn es allerdings um den Schutz der Protagonist:innen geht, insbesondere von Privatpersonen, die zum ersten Mal vor der Kamera stehen, habe ich eine grössere Verantwortung.

Ich investiere viel Zeit, um ein Vertrauensverhältnis zu den Protagonist:innen aufzubauen. Wenn doch etwas vor der Kamera geschieht, das nichts mit dem Inhalt zu tun hat, die Menschen vor der Kamera aber in einem ungünstigen Licht zeigen würde, lasse ich das in der Regel weg.

Letztlich ist alles, was wir filmen, in irgendeiner Form Realität. Trotzdem gibt es im Dokumentarfilm viel Raum für Interpretation. Ich denke da unter anderem an die grossen Star-Biografien, die Netflix regelmässig seinem Publikum präsentiert.

Ich weiss nicht, wie bewusst es dem Publikum ist, dass die Protagonist:innen auf die Gestaltung dieser Filme sehr grossen Einfluss haben. Das läuft bei uns anders. Wir halten uns an die Grundlagen des journalistischen Schaffens. Sie sind das Fundament, auf dem unsere Filme aufbauen. Ich bin überzeugt, dass das Publikum das spürt und letztlich auch wertschätzt.»

Regelmässig fesseln dort Biografien von Stars wie Robbie Williams, Taylor Swift oder Victoria und David Beckham ein Millionenpublikum. «In solchen Formaten kommt dokumentarisches Arbeiten an seine Grenzen», erklärt Frauchiger und schiebt nach: «Natürlich bekommen die Filmemacher nur deshalb einen solch intimen Einblick, weil die Stars ein Mitspracherecht im filmischen Prozess haben.»

Trotzdem zeigen sich sowohl Frauchiger als auch Frank optimistisch, dass solche Graubereiche des Dokumentarfilms dem Genre und seiner Glaubwürdigkeit nicht nachhaltig schaden werden. «Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte. Dafür muss Robbie Williams nicht in Unterhosen auf dem Bett liegen. Natürlich funktionieren solche Biopics ausgezeichnet. Aber letztlich gilt früherwie heute: Je näher eine Geschichte an der Lebensrealität unseres Publikums ist, desto besser kommt sie an», so Frauchiger.


Text: Nicole Krättli

Bild: SRF

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