«Tagesschau»-Beitrag über die Ermordung des oppositionellen Politikers Boris Nemzow beanstandet (Ukraine-Konflikt 6)

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Wie bereits in Ihrer E-Mail vom 12. November 2014 (Fall 3699) sowie vom 18. Februar 2015 haben Sie mit E-Mail vom 2. März erneut die Berichterstattung von „10vor10“ und der „Tagesschau“ über den Konflikt in der Ukraine kritisiert. Als Beispiel erwähnen Sie die Tagesschau vom 28. Februar. Den Erhalt Ihrer Eingabe habe ich mit meinem Brief vom 4. März bereits bestätigt.

Wie üblich, habe ich die Verantwortlichen von SRF gebeten, zu Ihren Kritiken Stel­lung zu beziehen. Dies ist erfolgt und in der Zwischenzeit habe ich die von Ihnen kritisierte Sendung sehr genau angeschaut. Ich bin somit in der Lage, Ihnen heute meinen Schlussbericht zu senden.

1. Sie vertreten die Auffassung, wonach SRF „mit Bildern und Fakten und vor allem mit den Kommentaren von Christoph Franzen und Peter Gysling immer gegen Russland“ berichten würde. Auch die Moderatoren der Tagesschau und 10vor10 würden immer Anti-Putin-Fragen stellen. Für SRF seien immer Russland und Putin sowohl Feind wie auch Kriegsverursacher.

Auf meinen Wunsch nach Präzisierung Ihrer Vorwürfe zitieren Sie als Beispiel die Tagesschau vom 28. Februar. Sie werfen SRF-Korrespondent Christoph Franzen insbesondere vor, falsch über den Mord an Boris Nemzow berichtet zu haben. Es stimme nicht, dass in den russischen Medien nicht über eine mögliche Mitschuld von Putin und dem Kreml gesprochen wurde. Sie hätten am gleichen Tag alle russischen Medien angeschaut und feststellen können, dass über alle Versionen diskutiert wird. Auch in diesem Fall werfen Sie Herrn Franzen „Verleumdung und bewusste Manipu-lation der Schweizer Bevölkerung gegen Russland und Putin“ vor.

2. Wie bereits erwähnt, haben die Verantwortlichen von SRF zu Ihren Kritiken Stellung bezogen. Ich möchte Ihnen das Schreiben von Herrn Franz Lustenberger, Stv. Re­daktionsleiter der Tagesschau, nicht vorenthalten. Er schreibt Folgendes:

„In Ihrer Eingabe kritisiert Frau X die Berichterstattung der Tagesschau und von 10v10 zum Konflikt in der Ostukraine und zu Russland. Vor allem die ‚Kommentare von Christof Franzen und Peter Gysling’ seien immer gegen Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin gerichtet. Als konkretes Beispiel erwähnt Frau X die Einschätzung von Christof Franzen am Tag nach der Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow in der Tagesschau vom 28. Februar.

Die Tagesschau hat sehr breit über die Ermordung des oppositionellen Politikers Boris Nemzow in unmittelbarer Nähe des Kremls berichtet. Dies geschah in aktuellen Berichten, in einem Hintergrund zur Person Boris Nemzow, in einem zweiteiligen Schaltgespräch mit unserem Russland-Korrespondenten Christof Franzen sowie in einer schriftlichen Stellungnahme des EDA. Am Schluss des aktuellen Filmbeitrages wird Folgendes gesagt:

Sowohl die Polizei als auch der Kreml gehen von einem politisch motivierten Auftragsmord aus. Die Hintergründe sind nach wie vor unklar. Von den Tätern fehlt weiterhin jede Spur.

Die Kritik von Frau X an den Einschätzungen von Russland-Korrespondent be-zieht sich auf Diskussionen in den Medien. Darüber hat Christof Franzen aber gar nicht gesprochen. In seiner Antwort auf die Frage nach den möglichen Tätern bezieht sich Christof Franzen auf die russischen Untersuchungsbehörden. Diese sind rele-vant für die Wahrnehmung und die weiteren Nachforschungen im Mordfall Nemzow und nicht irgendwelche Diskussionen in einzelnen Medien. Relevant sind die Aus-sagen der Untersuchungsbehörden – allein auf diese stützt sich Christof Franzen in seinen Einschätzungen.

Christof Franzen verdeutlicht dies in seiner persönlichen Stellungnahme zur eigent-lichen Beschwerde und zum Mail vom 2. März 2015:

‚Ich nehme gerne Stellung zum Schreiben von Frau X. Ich muss mich aber auf die Sendung des 28. Februars beschränken, weil alle anderen Anschuldigungen allgemeiner Form sind und sich nicht auf konkrete Beiträge beziehen.

Ich zitiere hier nicht russische Medien (auch nicht Fernsehen), sondern die russi-schen Untersuchungsbehörden. Ich sage, dass diese von einer Vielzahl von mögli-chen Motiven ausgehen. Es war zeitlich nicht möglich, diese alle aufzuzählen und zu erläutern. Dann weise ich darauf hin, dass etwas auffällt: ‚die Variante, dass jemand aus der militärischen oder politischen Elite etwas mit dem Mord zu tun hat, die wird hier überhaupt nicht besprochen’. Dann erkläre ich, wieso dass das verwunderlich ist. Etwas unglücklich ist hier evtl. das Wort ‚besprochen’. Es wäre klarer gewesen zu sagen ‚verfolgt’. Dies, weil ich mich ja, wie gesagt, auf die Untersuchungsbehörden bezogen habe. Grundsätzlich kann ich aber auch heute noch voll und ganz zu meinen damaligen Aussagen stehen. Hier die Begründung.

Zuerst kurz zur Person von Boris Nemzow. In einem Gespräch mit mir bezeichnete sich Nemzow 2009 als ‚wichtigsten Putin-Gegner’ Russlands. Ich denke, diesen ‚Titel’ hatten ihm in den Jahren danach andere Oppositions-Politiker wie Alexej Nawalnij abgenommen. Aber es ist eine Tatsache, dass Nemzow bis zum Tode ein scharfer und eloquenter Putin- und Kreml-Kritiker war.

In den letzten Monaten und Jahren sorgte er insgesamt mit folgenden Aussagen/Ar-beiten für ein breites Echo.

  • Er kritisierte scharf, dass Russland den Krieg in der Ukraine angezettelt habe, Waffen dorthin schicke und dass dort russische Soldaten sterben würden.
  • Er sagte wörtlich, Wladimir Putin sei ‚durchgefickt’ (auf Englisch würde man das am ehesten übersetzen mit ‚Wladimir Putin is fucked’ (https://www.youtube.com/watch?v=YuMtk75UURc). Das russische Wort, welches Nezmow hier in Zusammenhang mit Putin nennt, gehört zu den belei-digendsten Fluchwörtern der russischen Sprache. Nach dieser Aussage hatte sich Nemzow gegenüber Kollegen besorgt darüber gezeigt, ob er wohl etwas zu weit gegangen sei.
  • Nemzow hat über Jahre verschiedene regierungs- und Putin-kritische Protest-schriften verfasst, die jeweils an Medienkonferenzen vorgestellt und auch sonst breit verteilt wurden (Putins angeblicher Luxus-Lebensstil; Korruption allgemein; Korruption in Zusammenhang mit Olympischen Spielen in Sotschi etc). Hier ein paar Beispiele: http://www.putin-itogi.ru; http://www.putin-itogi.ru/rab-na-galerah/; http://www.putin-itogi.ru/zimnyaya-olimpiada-v-subtropikax/ ; http://www.putin-itogi.ru/putin-i-korruptsiya/

Vor allem: Nemzow war daran, eine weitere Protestschrift zu veröffentlichen, in dem er angeblich Beweise präsentieren wollte über die russische Truppen-Präsenz in der Ukraine. Dieses Thema gehört derzeit wohl zu den heikelsten in Russland, weil der Kreml ja diese Präsenz strikt bestreitet (letztes Mal Putin letzten Donnerstag in seinem ‚Direkten Draht’). Diese Protestschriften wurden und werden in den Staats-medien kaum jemals erwähnt; aber in oppositionellen und internationalen Kreisen fanden sie breites Echo.

Wenn also ein so kritischer und bekannter Politiker vor dem Kreml erschossen wird, dann sollten meiner Meinung nach die Untersuchungsbehörden zumindest in Er-wägung ziehen, dass irgend jemand aus Militär- oder Regierungskreisen ein Inte-resse daran haben könnte, diesen Mann umzubringen. Sprich: dieses mögliche Motiv müsste bei den Untersuchungen mit einbezogen werden.

Das war aber nicht der Fall. Das Communiqué, das die Untersuchungsbehörden an diesem Tage veröffentlicht hatten (http://sledcom.ru/news/item/899512) und auch die Aussagen des Chef-Sprechers W. Markin erwähnten diese Variante mit keinem einzigen Wort. Insbesondere in der Hauptnachrichtensendung des ersten Kanals (http://www.1tv.ru/newsvideoarchive/pd=28.02.2015) sagt Markin: ‚Zum heutigen Zeitpunkt verfolgen die Untersuchungsbehörden mehrere mögliche Tatmotive. Allen voran diejenige, dass die Ermordung eine Provokation war, um die politische Situation im Lande zu destabilisieren.’ Weitere Versionen waren u.a.: eine islamisch-extremistische Spur in Zusammenhang mit Charlie-Hebdo; eine Version in Zusam-menhang ‚mit dem inner-Ukrainischen Konflikt’, weil es dort ‚auf beiden Seiten radikale Leute“ gebe’, dann mögliche geschäftliche oder private Motive.

Markins Aussage, wonach anfangs offiziell die Schiene ‚einer Provokation’ gefahren wurde, erhärtete auch der Beitrag in den Hauptnachrichten des Ersten Kanals (http://www.1tv.ru/newsvideoarchive/pd=28.02.2015). Dort kam als erster Gennadij Selesniow, Ex-Duma-Speaker, zum Wort mit der Aussage: ‚Eines ist klar, ohne Mitwirkung (ohne die Hände) von westlichen Geheimdiensten wäre das nicht möglich gewesen.’ In diesem Beitrag wird Nemzow zwar kurz als ein Leader der ‚sogenann-ten nicht-systemischen Opposition’ bezeichnet, aber kein Wort über seine scharfen Aussagen gegen Putin und vor allem über seine Protest-Schriften verloren. Auch im Beitrag der Hauptnachrichten des 2. Kanals wurde darüber kein Wort verloren. (http://www.vesti.ru/doc.html?id=2389810&cid=5#/video/http%3A%2F%2Fplayer.rutv.ru%2Fiframe%2Fvideo%2Fid%2F1182476%2Fstart_zoom%2Ftrue%2FshowZoomBtn%2Ffalse%2Fsid%2Fvesti%2FisPlay%2Ftrue%2F%3Facc_video_id%3D637314)

Frau X hat im Mail an die Ombudsstelle den Link zu einer Diskussions-Sendung geschickt, die an diesem Tag gelaufen ist. Diese dauerte 1 Stunde und 46 Minuten. Beim Durchzappen habe ich keine Aussagen gefunden, die meine Schal-tung von damals in irgendeiner Art und Weise in Frage stellen. So oder so finde ich die Sendung in Zusammenhang mit der Beschwerde von Frau X auch irrele-vant, weil ich mich wie bereits erwähnt auf die Aussagen der Untersuchungsbehör-den gestützt habe und, sekundär, auch auf die Hauptnachrichtenbeiträge der zwei grössten Sender des Landes. Ich möchte noch erwähnen, dass ich in der ersten Schaltung – im Gegensatz zum Schreiben von Frau X – weder den Kreml noch Präsident Putin erwähnt hatte.’

Soweit die umfassende Stellungnahme von Christof Franzen. Er begründet sachlich, worauf sich seine Einschätzungen – weniger als 24 Stunden nach der Ermordung von Boris Nemzow – stützen: Nämlich auf die offiziellen Stellungnahmen der Unter-suchungsbehörden sowie der wichtigsten Nachrichtensendungen Russlands. Von einer Verleumdung Russlands oder ihres Präsidenten Wladimir Putin kann keine Rede sein. Ich bitte Sie, die Beschwerde in diesem Sinne abzulehnen.”

3. Soweit die Stellungnahme der Verantwortlichen von SRF. Nachdem ich die Angele-genheit analysieren konnte, scheinen mir die Argumente des Stv. Redaktionsleiters der Tagesschau, Herrn Franz Lustenberger, sowie des Autors des Beitrages, Herrn Christoph Franzen, sehr plausibel zu sein. In meiner eigenen Beurteilung kann ich mich deshalb kurz halten.

Zuerst muss ich um Verständnis dafür bitten, wenn es mir nicht möglich ist, auf Ihre schwerwiegenden Kritiken, wonach „mit Bildern und Fakten und vor allem mit den Kommentaren von Christoph Franzen und Peter Gysling immer gegen Russland“ berichtet würde, einzutreten. Ihre Bemängelungen sind allgemein gehalten und betreffen nicht klar definierte Sendungen.

Die Ombudsstelle kann dagegen beurteilen, ob die Berichterstattung in der Tages-schau vom 28. Februar die geltenden programmrechtlichen Bestimmungen verletzt hat oder nicht. Dabei scheint mir eine Vorbemerkung wichtig zu sein. Sie sind sicher mit mir einig, dass die heutigen Konflikte von einem wahren „Informationskrieg“ be-gleitet werden. Sei es im Irak oder in Syrien, in Gaza oder eben in der Ukraine, die Konfliktparteien liefern ständig gegenteilige Informationen sowie umstrittene „Bewei-se“, welche eher als „Desinformation=Propaganda“ anzusehen sind. Im Fall Ukraine betrifft dies bei weitem nicht nur die russische Seite, was die Arbeit auch der Journalisten vor Ort besonders schwierig macht.

Gegenstand Ihrer Beanstandung ist der Kommentar von Christoph Franzen, wonach bezüglich der Motive der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow „über die Variante, dass jemand aus der militärischen oder politischen Elite etwas mit dem Mord zu tun hat“, hier überhaupt nicht gesprochen würde. Sie sind der Auffassung, dass dies nicht stimme. In den russischen Medien sei durchaus über eine Mitschuld Putins und des Kremls diskutiert worden. Als Beweis erwähnen Sie die Berichterstattung eines russischen TV-Kanals.

Anders als Sie und Herrn Franzen bin ich der russischen Sprache leider nicht mächtig. Ich bin deshalb nicht in der Lage, die von Ihnen zitierte Sendung zu verstehen. Dies ist aber eigentlich gar nicht nötig. Denn in seiner Berichterstattung hat sich Herrn Franzen nicht auf die Medien, sondern ausdrücklich und ausschliesslich auf die russischen Untersuchungsbehörden bezogen. Dabei habe ich keinen Anlass, am Kommentar von Herrn Franzen zu zweifeln, wonach diese eine mögliche Beteiligung der Machthaber in Russland gar nicht in Erwägung gezogen haben.

Dies wird eigentlich auch durch westliche Nachrichtenagenturen indirekt bestätigt. Laut einer Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur SDA vom 28. Februar um 18.32 Uhr wird lediglich berichtet, dass „der Kreml von einer gegen die Regierung gerichteten ‚Provokation‘“ sprach. Und weiter: „Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklär-te, das ‚brutale Attentat‘ trage ‚die Zeichen eines Auftragsmordes‘ und sei eine ‚gros-se Provokation‘. Peskow versicherte zugleich, Nemzow habe ‚keinerlei politische Ge-fahr‘ für Putin dargestellt. Das russische Ermittlungskomitee wertete die Tat als einen ‚Versuch zur Destabilisierung der politische Lage im Land’.“ In der gleichen Meldung wird unterstrichen, dass die „Ermittler als einen von mehreren Ermittlungsansätzen auch einen islamischen Hintergrund für den Mord nicht ausgeschlossen“ haben.

Bei dieser Ausgangslage scheint mir die von Ihnen kritisierte Bemerkung durchaus passend und zulässig zu sein. Ihre Beanstandung, soweit ich darauf eintreten konnte, kann ich deshalb nicht unterstützen.

4. Ich bitte Sie, das vorliegende Schreiben als meinen Schlussbericht gemäss Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes RTVG entgegenzunehmen. Über die Mög­lichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI (Monbijoustrasse 54A, Postfach 8547, 3001 Bern) orientiert Sie der beiliegende Auszug aus dem Bundesgesetz über Radio und Fernsehen.

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