Die neuen Formen der Dokumentation: Die Mischung macht’s
Neues entsteht, wenn man Altbekanntes mischt. Das gilt auch für das ehrwürdige Genre der Dokumentation. Warum Filmemacher, Reporter und Radiojournalisten die Lust am Mischen entdecken – und wie sie neue Wege finden, uns zu zeigen, was ist.
– Von Oliver Fuchs
Stolpert man beim Lesen über ein sperriges Wort, dann sind meistens die Griechen schuld. Die haben das Wort erfunden. Oder aber das Wort kommt aus dem Lateinischen – dann haben es die Römer bei den Griechen geklaut. Nur haben die sich beim Übersetzen aus dem Griechischen nicht sonderlich Mühe gegeben. Warum auch? Wer ein mächtiges Imperium hat, der fürchtet sich nicht vor Copyright-Klagen.
Ein Beispiel: Der harmlose «idiotes», bei den Griechen schlicht ein Bürger, der sich freiwillig aus der Politik heraushält, wurde bei den Römern zum «idiota», dem Laien, Stümper oder Pfuscher. «Hybrid», das ist auch so ein Wort. Die Römer übersetzten es als «Mischling». Und so verstehen wir das Wort bis heute: Ein Hybrid entsteht, wenn man Dinge miteinander mischt. Aber auch hier haben die Römer das Original mit Sandalen getreten. Die Griechen nämlich ... aber dazu später mehr.
Nach einer wahren Geschichte
Um bei den lateinischen Hybriden zu bleiben: Mischen kann man alles Mögliche. Auch Fernsehformate. Vorletztes Jahr war so ein Hybrid, ein Doku-Hybrid, die meistdiskutierte Sendung im Schweizer Fernsehen. Das Doku-Drama «Die Schweizer», stellte historische Szenen aus der Schweizer Geschichte mit Schauspielern nach. Zwischen den fiktiven Filmsequenzen erklärten uns Historiker, was wir davon zu halten hatten. Man hätte dasselbe wohl auch ohne Mischen, also im klassischen Dokumentarstil, machen können – anstelle von nachgestellten Szenen mit dramatischen Kamerafahrten über historische Kupferstiche. Wahrscheinlich hätten sich so aber deutlich weniger Zuschauerinnen und Zuschauer für eine Geschichtsstunde vor den Fernseher locken lassen.
Überhaupt findet sich manch ein Doku-Hybride im SRF-Fernsehprogramm: So auch der kommende Schwerpunkt diesen Sommer. Der spielt auf der Autobahn A1. Das Herz der Sendereihe ist die Raststätte Würenlos vor Zürich, der sogenannte Fressbalken. Laienschauspieler werden dort drei Wochen lang leben und arbeiten. Sie werden für die Kameras die Wirklichkeit simulieren – und so ganz nebenbei die Bedeutung der Autobahn für den nationalen Zusammenhalt vermitteln.
«Alles Doku oder was?»
Es gibt noch wildere Hybridformen als die Doku-Simulation. Da gab es neulich zum Beispiel den SRF DOK-Zweiteiler «Tatort Matterhorn». Der zeigte die Nachkommen der Matterhorn-Erstbesteiger auf Spurensuche: Sie versuchten herauszufinden, wieso vier der sieben Pioniere vor 150 Jahren am Berg in den Tod stürzten. Wenn man das Hybridformat von «Tatort Matterhorn» einigermassen genau beschreiben möchte – dann gehen einem beinahe die Bindestriche aus. Forensik-Doku-Drama-Krimi, das trifft es wohl am ehesten.
Zwar mögen immer wildere Hybriden gezimmert werden, neu ist die Entwicklung nicht. Schon 2003 versuchte die Deutsche Landesanstalt für Medien, im Auftrag des ZDF und des Westdeutschen Rundfunks, mit einer Studie ein bisschen Ordnung ins Formate-Chaos zu bringen. Titel und Programm der Studie: «Alles Doku oder was?». In gutdeutscher Grummeligkeit kam diese zum Schluss: «Das Wort ‹Doku› wird inzwischen schier an alles gepappt, was nicht Nachricht oder Spielfilm ist.» Darin zeige sich die Sehnsucht des Fernsehens, «stets Wirklichkeit zu versprechen».
Neben dieser – zugegeben etwas philosophischen – Erklärung, gibt es auch ganz profane Gründe für den Erfolg dieser Hybridformate. Sie sind zum Beispiel in der Regel deutlich günstiger als reine Fiktion. Und: Sie haben einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind Infotainment.
Komm bald wieder
Haben klassische, lange, dichte Dokus ohne solche spielerischen Elemente, ihre Existenzberechtigung verloren? Das sicher nicht. Das hat auch damit zu tun, wie Fernsehen funktioniert.
«Fernsehen», sagt Stefano Semeria, Programmleiter TV bei SRF, «besteht heute zu einem überwiegenden Teil aus seriellen Inhalten.» Beispiel: die «Tagesschau». Ihr Inhalt – die Nachrichten – ändert von Tag zu Tag. Aber wie diese Nachrichten präsentiert werden, bleibt gleich: Die Zuschauer werden eingangs begrüsst, die Beiträge sind immer etwa gleich lang, der Wetterbericht kommt erst am Schluss.
Denn es gebe eine unausgesprochene Abmachung zwischen Sender und Zuschauer: «Der Zuschauer bekommt etwas Ähnliches, ein Format also, immer wieder und immer zur gleichen Zeit.» Das schaffe für die Zuschauer Verlässlichkeit: Sie würden sich darauf verlassen können, dass sie auch die nächste Folge mögen werden, wenn ihnen die letzte gefallen habe. «Deshalb folgen beispielsweise serielle Dokumentationen im Fernsehen mehr oder weniger starren Formvorgaben, sie ähneln sich in der Machart», sagt Semeria.
Kinder von rebellischen Eltern
Die wirklich wilden Hybrid-Dokumentationen sind Kinder von rebellischen Eltern. Sie spielen mit den Formvorgaben oder ignorieren sie komplett. Sie laufen unseren seriellen Sehgewohnheiten zuwider. Darum funktionieren sie in jenen Medien am besten, in denen serieller Konsum nicht so wichtig ist. Mit anderen Worten da, wo Inhalte für sich alleine stehen, als Einzelstück oder als Experiment. Das erklärt, wieso die wildesten, innovativsten Doku-Hybriden oft online anzutreffen sind. Bei SRF zum Beispiel die webexklusive Serie «Güsel. Die Abfalldetektive»: ein Mockumentary (engl. für «Parodie» und «Dokumentarfilm»), das nur so tut, als sei es ein Dokumentarfilm. Tatsächlich sind alle Darsteller Schauspieler – und die Handlung ist frei erfunden.
Auch ausserhalb der Schweiz finden sich viele der spannendsten Projekte im Netz. Da gibt es die ZDF-Doku, in der die Zuschauer online aus verschiedenen Kameraeinstellungen eine eigene Dramaturgie zusammenbasteln können. Oder die Dokumentationen des amerikanisch-kanadischen Magazins «Vice», die auf YouTube Hunderttausende von Klicks machen, mit der extrem subjektiven Perspektive von jungen Video-Journalisten. Da gibt es «Serial», die tief recherchierte – und in epischer Breite erzählte – wahre Geschichte eines Mordes, die in den USA letztes Jahr im Alleingang das serbelnde Format der Podcasts wiederbelebt hat.
Radio mischt mit
Apropos Podcasts: Dokumentationen funktionieren auch wunderbar ganz ohne Bild. Radio-Dokumentationen gibt es seit den Dreissigerjahren. Vorreiterin war die BBC, der Rundfunk «Ihrer Majestät». Heute produziert Radio SRF jedes Jahr über 500 Audio-Dokumentationen, viele davon klassische Formate, wie die Kultur-Reportagen von «Kontext» und die Gesellschafts-Dokus von «Input». Aber: Was für Fernsehen und Online
gilt, ist im Radio nicht anders. Auch hier tummeln sich heute die Hybriden. So gewann Radio SRF 2012 den Europäischen Hörspielpreis, den «Prix Europa», mit einem Hybriden. In «Category 5» verschmelzen echte Nachrichten zum Hurrikan Katrina, mit der frei erfundenen Suche eines schrulligen Deutschen nach dem verschollenen Rock’n’Roll-Pianisten Fats Domino im verwüsteten New Orleans. Oder neulich auf SRF zu hören: «Christopher Columbus», eine «biografische Fantasie» über den Entdecker Amerikas, von dem die Macher selber sagen, sie überschritten mit dem Stück «augenzwinkernd und beiläufig geschichtliche Schranken».
Griechisch für Spielverderber
Das mit dem Schranken Überschreiten, ist so eine Sache. Hier lohnt es sich, noch einmal kurz darauf zurückzukommen, wie die Römer den Griechen die Wörter klauten. Beim Übersetzen von «Hybrid» aus dem Griechischen nämlich muss ein römischer «idiota» am Werk gewesen sein. Die Griechen sprachen nicht vom Mischling – sondern von der Hybris, der Hochmut, die nur böse enden kann.
Es macht Spass, Regeln zu brechen, zu mischen, was eigentlich nicht zusammengehört. Ein Beispiel: Mischt man Ketchup und Backpulver, dann explodiert es. Aber leicht schiesst man dabei übers Ziel hinaus. Man verfällt der Hybris.
Hybris, im Falle von Filmemachern, Reportern und Radiojournalisten bedeutet, dass diese ihrem Publikum zu viel zumuten. Dass sie so wild mischen, dass das Publikum Wahrheit und Fiktion nicht mehr trennen kann. So verlieren Journalisten ihr Kapital: das Vertrauen des Publikums, dass die Journalisten ihm die Wahrheit erzählen.
Zeigen, was ist
Bei SRF ist man sich dieser Gefahr bewusst. «Authentizität ist bei uns ein hohes Gut», sagt Nathalie Rufer, stellvertretende Leiterin des Bereichs Dokumentarfilm und Reportage bei SRF. «Wir sind zwar seit rund einem Jahr in der internen Organisationsstruktur bei der Kultur angesiedelt, aber wir fühlen uns der Information genauso verpflichtet wie zuvor», sagt Rufer. Selbstverständlich seien auch Dokumentationen immer subjektiv gefärbt – durch den Aufbau, die Auswahl der Szenen, die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt werde. «Der Anspruch eines Dokumentarfilms ist es aber letztlich, die Realität abzubilden», sagt Rufer. Das schliesse nicht aus, dass die Dokumentarfilme unterhalten, im Gegenteil.
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Das Ziel sei schliesslich, dass sich die Zuschauer während fünfzig Minuten in ein Thema vertiefen. So lange dauert ein DOK bei SRF. Und das wiederum würden die Zuschauer nur tun, wenn sie sich auch unterhalten fühlten. Aber, sagt Rufer: «Ich glaube nicht, dass wir Geschichten nur um der Geschichte willen machen. Wir machen sie, weil wir das Thema wichtig finden und weil sie uns beschäftigen.
Dass Hybriden die Grenzen zwischen Unterhaltung und Information zunehmend verwischen, ist Fakt. Aber ob die Grenzen nun völlig verschwinden, wenn im Infotainment die Unterhaltung möglichst lebensnah und im Dokumentarischen das Leben möglichst unterhaltsam sein soll? Und ob das nun sinnvoll oder Hybris ist – dafür müsste man wohl einen Philosophen fragen. Doch lassen wir die Römer und die Griechen fürs Erste in Frieden ruhen.
Oliver Fuchs
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