«Wir und die SVP» – SRF-Chefredaktor Tristan Brenn über eine publizistische Gratwanderung

«Der Kampf um die Initiative der SVP ‹zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer› ist vorbei, das Resultat bekannt: Die wählerstärkste Partei der Schweiz ist mit ihrem radikalen Begehren beim Volk durchgefallen. Was letztlich den Ausschlag dafür gab, ist bei aller stichhaltigen Analyse immer ein Stück weit Spekulation. Tatsache ist, dass einmal mehr während Wochen eine Vorlage der SVP das mediale Interesse dominierte, auch in unseren Sendungen.

So war es das erste Mal, dass die ‹Arena› einer Abstimmungsvorlage gleich zwei Diskussionen widmete. Die Redaktion hatte dafür gute Gründe vorgebracht, und sie versuchte in der zweiten Sendung etwas Neues, indem sie Volkes Stimme – um deren Stellenwert es ja ganz wesentlich ging bei dieser Initiative – zu einem Auftritt verhalf und diesen ins Zentrum rückte. So ganz nebenbei wurde dadurch noch vor der Abstimmung die ‹Wir sind das Volk›-Attitüde der SVP entzaubert, wie auch festzustellen ist, dass die grosse Aufmerksamkeit, welche die Partei auf sich zog, ihr diesmal wohl nicht zum Vorteil gereichte.

Wie legitim und publizistisch berechtigt ist die exzessive Auseinandersetzung mit den Themen der SVP?

Wie auch immer: Die Medien in der Schweiz müssen sich die Frage stellen, ob die exzessive Auseinandersetzung mit den Themen der SVP ihre legitime publizistische Berechtigung hat. Als konzessioniertes, gebührenfinanziertes Medium müssen wir uns diese Frage erst recht stellen.

Man kann im Fall der Durchsetzungsinitiative durchaus zum Schluss kommen, ja, das war legitim und publizistisch richtig. Wo es um grundsätzliche Fragen unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates geht, ist der Meinungsbildungsprozess besonders wichtig, und es kann deshalb nicht genug berichtet werden. Aber sonst? Die SVP ist mit fast 30 Prozent Wähleranteil zwar die stärkste Partei der Schweiz. Doch damit repräsentiert sie weder eine Mehrheit der Wählenden, geschweige denn eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung. Von über acht Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in diesem Land haben im Oktober letzten Jahres genau 734'171 die SVP gewählt. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist gar nicht wahlberechtigt, ein noch viel grösser Teil ging gar nicht erst wählen, und über 70 Prozent derjenigen, die wählen gingen, stimmten für eine andere Partei als die SVP.

Während bei der ‹Arena› ein gewisser Parteienproporz bei der Gästeauswahl gewollt und berechtigt ist, gibt es diesen in unseren News und Magazinen nicht.

In unserer Konzession steht nirgends, dass wir Parteien und ihre Themen nach der jeweiligen Wählerstärke abbilden müssen. Hingegen ist als klarer Konzessionsauftrag formuliert, dass wir die Vielfalt politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge in unseren Programmen zum Ausdruck bringen müssen. Während bei der ‹Arena› ein gewisser Parteienproporz bei der Gästeauswahl gewollt und berechtigt ist, gibt es diesen in unseren News und Magazinen nicht.

Spricht man mit Politikerinnen und Politikern in Bern, sind sich alle darin einig, dass wir die Inhalte der SVP tendenziell zu stark gewichten. Alle, mit Ausnahme der SVP, deren Exponenten uns hin und wieder vorwerfen, wir würden unausgewogen über sie berichten. Die Kritik der Parteien ist nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt relevante Politstoffe, die nichts mit Ausländer-, Migrations- und Sicherheitsfragen zu tun haben. Es gibt viele Nicht-SVP-Wählerinnen und -Wähler (sie sind in der Mehrheit), die auch Gebühren bezahlen, jedoch andere Interessen haben, in anderen Bereichen zu Hause sind, andere Prioritäten und Werte haben und von uns erwarten, dass wir uns mit diesen gleichberechtigt auseinandersetzen.

Schenken wir Themen wie der demografischen Entwicklung und den mit ihnen einhergehenden Problemen für die Sozialwerke und die Gesellschaft genügend Beachtung?

In einem spannenden Artikel widmete sich kürzlich die «New York Times» dem Thema Onlineshopping. Die Start-ups in dieser Branche schiessen in den grossen Agglomerationen der USA wie Pilze aus dem Boden, ihr Anspruch ist es, immer schneller immer mehr Produkte (am besten alle) bis an die Haustüre des Endverbrauchers abzuliefern. Die Folge sind neue ökologische Belastungen überraschenden Ausmasses, nicht nur wegen der vielen Lastwagenfahrten, sondern vor allem wegen der Tonnen Verpackungsmaterial, welches diese Branche zusätzlich verschleisst. Schenken wir solchen Themen genug Beachtung? Oder solchen wie der demografischen Entwicklung und den mit ihnen einhergehenden Problemen für die Sozialwerke und die Gesellschaft? Eine tickende Zeitbombe, ein ungelöstes Problem, für das niemand einen Plan hat. Diesen grossen Fragen unserer Zeit gemeinsam ist, dass sie komplex sind, teils abstrakt und vermeintlich noch weit weg – anders als die Flüchtlinge, die bereits vor unseren Toren warten.

Klar, auch diese Themen finden bei uns statt. Doch wir haben noch Luft nach oben. Wir müssen diese schwierigen, vielschichtigen Themen genau so konsequent angehen wie den Knatsch um ein neues Asylbewerberheim, die neueste Kriminalstatistik, den ‹Flüchtlingsstrom› in Richtung Europa. Wir müssen sie genau so anschaulich, inhaltlich präzise und mit gutem Storytelling umsetzen, sie so erzählen, dass jeder merkt, dass er oder sie früher oder später persönlich davon betroffen ist. Gelingt uns das, haben wir unseren vielbeschworenen öffentlichen Auftrag optimal erfüllt. Es wäre dann Service public at its best.»

Text: Tristan Brenn, Chefredaktor SRF TV

Bild: SRF / Oscar Alessio

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