Sendung «Liebesleben – im Bett mit Herr und Frau Schweizer», Teil 1, beanstandet
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Mit Ihrer e-Mail vom 20. Mai 2016 beanstandeten Sie die Sendung „Liebesleben“ von Fernsehen SRF vom 19. Mai 2016. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Voraussetzungen einer Beanstandung. Folglich kann ich auf sie eintreten.
A. Sie führten zu Ihrer Beanstandung aus:
„Gestern bin ich beim Zappen bei der Sendung Liebesleben hängen geblieben und ich bin entsetzt!
Als öffentlich-rechtliches Fernsehen bin ich zutiefst schockiert über das Niveau, auf welches das Schweizer Fernsehen sinkt.
Diese Sendung passt auf das Niveau von RTL II, aber ist eines öffentlich-rechtlichen TV nicht würdig, welches mit Steuergeldern finanziert wird.“
B. Ihre Beanstandung wurde der zuständigen Redaktion zur Stellungnahme vorgelegt. Frau Danielle Giuliani, Redaktionsleiterin Dokuserien und Reality von SRF, äußerte sich wie folgt:
„Es gehört zu unserem Auftrag als gebührenfinanzierter Service-public-Sender, alle gesellschaftlichen Themen zu behandeln. Dazu gehören selbstverständlich auch Themen aus dem zwischenmenschlichen Bereich wie Liebe und Sexualität, welche die Menschen tief bewegen und durch ihr ganzes Leben begleiten. Geliebt zu werden ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse fast aller Menschen. Darum hat SRF bereits in der Vergangenheit in zahlreichen Sendungen, Talks oder Dokumentationen über diese Aspekte des Lebens berichtet. ‚Liebesleben‘ erzählt Geschichten aus dem Leben. Ganz alltägliche und schräge – und zeigt den Zuschauern, wie die Schweizer Bevölkerung lebt und liebt. Die Erkenntnisse der Sendung werden dabei durch eine für SRF realisierte Literaturanalyse wissenschaftlich gestützt, welche die Hochschule Luzern mit Unterstützung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) erarbeitet hat. Die Redaktion war sich bei der Realisation der Sendung immer im Klaren darüber, dass gerade solche Themen mit grossem Respekt behandelt werden müssen. Es wurde daher bewusst auf das Zeigen expliziter Bilder oder Szenen verzichtet. ‚Liebesleben‘ ist eine Doku-Serie, in welcher Schweizerinnen und Schweizer, hetero- und homosexuelle Menschen ungezwungen und frei vor der Kamera über ihre Liebe und Sexualität, Vertrauen und Treue, ihre Bedürfnisse und ihre Ängste erzählen . Um sensiblere ZuschauerInnen nicht zu überfordern, wurde die Sendung zudem bereits im Vorfeld durch unsere Kommunikation und durch die Presse klar als Dokumentation über die Sexualität in der Schweiz deklariert und auf einem angemessenen Sendeplatz – d. h. nach 22:15 Uhr - programmiert. Die Zuschauerzahlen sowie die fast ausschliesslich positiven Reaktionen von Publikum, Presse und Fachkreisen auf die erste Folge von ‚Liebesleben‘ sind für uns ein Indiz dafür, dass das Thema dieser Dokumentation durchaus seine Berechtigung im Programm von SRF hat.
Gerade bei solch sensiblen Themen sind wir uns unserer Verantwortung gegenüber den ZuschauerInnen äussert bewusst und setzen alles daran, darüber mit Takt und grosser Sensibilität zu berichten. Wir sind der Meinung, dass wir dies hier eingelöst haben und in keiner Art und Weise gegen publizistische und konzessionsrechtliche Bestimmungen verstossen haben. Das Thema ist gewollt gewählt, wichtig für unser gesellschaftliches Zusammenleben und von grosser Bedeutung für viele Menschen. In dem Sinne können wir verstehen, dass Herr X sich aufgrund persönlicher Gründe allenfalls schockiert gefühlt hat, auf die Relevanz des Themas hat dies aber keinen Einfluss.“
C. Damit komme ich zu meiner eigenen Einschätzung der Sendung. Ich habe für Ihre Beanstandung durchaus Verständnis: Die Sendung „Liebesleben“ nennt die Dinge beim Namen. Sie zerrt die Intimsphäre einzelner Personen an die Öffentlichkeit. Sie nimmt dabei keine Rücksicht auf die Moral jener Menschen, die grundsätzlich nicht über Sex reden wollen und schon gar nicht mit Drittpersonen und zu allerletzt in einem Massenmedium, und die auch nicht zuhören wollen, wenn andere über Sex reden. Die Sexualität gehört neben dem eigenen Einkommen und Vermögen sowie dem eigenen Stimm- und Wahlverhalten zu den nach wie vor am stärksten tabuisierten Themen in der Schweiz. Viele, nicht nur Ältere, reden in der Regel nicht darüber.
Wobei differenziert werden muss: Seit der 68er Bewegung, also seit bald 50 Jahren, haben bereits mehrere Generationen viel offener über Sex zu reden begonnen. Und seit den Filmen von Oswalt Kolle, die ebenfalls 1968 anliefen, sind auch die Medien freizügiger geworden, und dort, wo Einschränkungen möglich waren, haben auch die Kontrollbehörden kaum mehr eingegriffen. Sex ist ein ständiges Thema in Filmen, Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, in Radio und Fernsehen geworden. Es gibt beispielsweise seit 1980 die Sexualberatung im „Blick“ – von Martha Emmenegger über Eliane Schweitzer bis zu Caroline Fux; es gibt solche Ratgeber-Sendungen in Fernsehprogrammen und am Radio. Für viele Menschen existiert das Tabu nicht mehr.
Wobei Sie zu Recht anmerken, dass sich ein Service public-Sender wie SRF nicht alles leisten kann. Er darf nicht vulgär sein. Er muss sorgfältig mit der Privat- und Intimsphäre umgehen. Das verlangen auch die „Publizistischen Leitlinien“ von SRF.[1] Und das Radio- und Fernsehgesetz, das für mich als Ombudsmann maßgebend ist, verlangt, dass Radio- und Fernsehbeiträge „die öffentliche Sittlichkeit“ nicht gefährden.[2]
Was ist das überhaupt: „die öffentliche Sittlichkeit“? Es handelt sich um die gesellschaftlich anerkannte Moral. Sie besagt beispielsweise, dass man nicht splitternackt in der Stadt herumläuft, dass man stillsteht, wenn ein Trauerzug vorbeizieht, dass man einen Gruß erwidert usw. Die gesellschaftlich anerkannte Moral umfasst Regeln, die in einem bestimmten Land oder in einem bestimmten Kulturkreis von der überwiegenden Mehrheit der Menschen mitgetragen werden und die teilweise auch in Gesetzen niedergelegt sind. Die „öffentliche Sittlichkeit“ in der Schweiz richtet sich nach den Regeln einer christlich-abendländischen und zugleich offenen liberalen Gesellschaft.
Gefährdet die Serie „Liebesleben. Im Bett mit Herrn und Frau Schweizer“ – konkret: die erste Folge über „das erste Mal“ – die öffentliche Sittlichkeit? Ich meine: nein. Es handelt sich nicht um einen pornografischen Film. Es werden keine obszönen Szenen gezeigt. Eva Nidecker bringt ihre Gesprächspartner auf subtile, einfühlende Art zum Erzählen. Die Gesprächspartner werden zu nichts gezwungen. Es ist ihr Entscheid, ob sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen schildern wollen. Es sind Geschichten, die das Leben schrieb. Das Publikum wird nicht mit Aussagen konfrontiert, die ihm nicht zugemutet werden können. Insofern scheint mir die öffentliche Sittlichkeit nicht gefährdet.
Ich glaube auch nicht, dass die Erzählungen der befragten Paare jugendgefährdend wären. Aber diese Frage stellt sich nicht in erster Linie, da ja die Redaktion durch den späten Ausstrahlungszeitpunkt eine gewisse Vorsorge dafür getroffen hat, dass Minderjährige nicht zuschauen. Im Zeitalter des Internets sind allerdings solche Schutzmaßnahmen nur noch halbwegs wirksam: Jugendliche, die sich im Netz auskennen, können solche Sendungen problemlos hinterher online anschauen. Man muss sich daher neue Wege überlegen, die sicherstellen, dass Minderjährige vor schädlichen Einflüssen geschützt sind.
Das einzige Problem, das die Sendung aufwirft, ist der Schutz der befragten Gesprächspartner. Die Redaktion hat nur ihre Vornamen und ihren Wohnort genannt, teilweise noch ihren Beruf, nicht aber ihre Familiennamen und ihre Adresse. Und ohne jeden Zweifel waren sie mit der Ausstrahlung ihrer Aussagen einverstanden. Doch die Frage ist, ob sie sich bewusst waren, dass sie ihre Geschichte nicht nur Eva Nidecker erzählten, sondern der Öffentlichkeit, und dass sie für einen Teil dieser Öffentlichkeit identifizierbar waren – zumindest für ihre Nachbarn, Verwandten und Bekannten.
Journalismus ist primär dazu da, Öffentlichkeit herzustellen. Journalistinnen und Journalisten müssen eher begründen, warum sie eine Nachricht nicht veröffentlichen, als, warum sie eine Nachricht veröffentlichen. Das Normale ist: Veröffentlichen. Aber es gibt Situationen, in denen auf die Herstellung von Öffentlichkeit verzichtet werden sollte, gerade wenn es gilt, die Privat- und Intimsphäre von Drittpersonen zu schützen. Der Journalist und Philosoph Ludwig Hasler hat in diesem Zusammenhang von einer „Tugend des Unterlassens“ gesprochen.[3]
Mir ist klar, dass durch solches Unterlassen die Sendung, ja womöglich die gesamte Serie „gestorben“ wäre. Und das wäre schade gewesen. Ich habe den Beitrag mit Interesse und Gewinn geguckt und bin beeindruckt von den Paaren, die sich in dem Film äußern. Das Publikum, dessen Interessen ich als Ombudsmann wahren muss, sehe ich durch den Beitrag nicht gefährdet. Wenn jemand der Öffentlichkeit preisgegeben war, dann die befragten Paare.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
[1] http://www.srf.ch/unternehmen/unternehmen/qualitaet/publizistische-leitlinien-srf , vor allem 6.1.
[2] Radio- und Fernsehgesetz, Art. 4 Abs. 1, https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20001794/index.html
[3] Hasler, Ludwig (1992): Die Tugend des Unterlassens. Ethik wirkt auch negativ – oder: Das Prinzip Offenheit lässt es gelegentlich ratsam erscheinen, auf Öffentlichkeit zu verzichten. In: Haller, Michael/Helmut Holzhey: Medien-Ethik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 212-
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