Radio-Nachrichtensendung «Heute morgen» über Syrienkonflikt beanstandet
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Mit Ihrer E-Mail vom 14. Dezember 2016 beanstandeten Sie die Syrien- und Russland-Berichterstattung von Radio SRF 1. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Folglich kann ich auf sie eintreten.
A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:
„Heute Morgen gleich nach 07:00 hiess es im Radio SRF1: ‚Der Machthaber Assad bombt sich mit Hilfe Russlands einen Sieg gegen die Rebellen‘. In diesem einseitigen Stil läuft das schon lange so. Warum kann das Radio nicht NEUTRAL von dieser Krise berichten? Warum unterstützt Radio SRF 1 mit solchen Meldungen die Rebellen, von denen einige Gruppierungen mit dem ISLAMISCHEN STAAT zusammenarbeiten? Auch die Rolle Russlands, das auf Anfrage der Syrischen Regierung die Rebellen bekämpft und damit mithilft, den Krieg endlich zu beenden und damit schon viele Menschenleben gerettet hat, wird vom Radio SRF systematisch verdreht dargestellt. Zu diesem Stil gehört auch, dass die Rolle gewisser europäischer Nachrichtendienste und der USA verschwiegen wird. Im Gegensatz zu Russland mischen sie sich ungefragt in diesen Krieg ein.
Ich beschwere mich gegen diese einseitige ‚Informationen‘. Damit wird den Hörern gesagt, wer aus der Sicht der verantwortlichen Journalisten gut und böse ist. Diese Art der subtilen Unterstützung der Rebellen finde ich mediale Kriegstreiberei. Wenn die Rebellen eine Offensive starten, wird das nicht erwähnt. Wenn die Regierung (im Jargon ‚Regime‘ genannt) die Rebellen bekämpft, ist von ‚Angriff auf die Zivilbevölkerung‘ die Rede.
Ich beziehe keine Stellungnahme für den ‚Machthaber‘. Das sollen die Gerichte nach Beendigung des Kriegs tun. Beide Kriegsparteien haben sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht. Ich erwarte aber vom Radio, dass es ausgewogen und neutral berichtet. In Bezug auf Syrien und Russland ist dies leider seit langem nicht der Fall.“
B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Fredy Gsteiger, stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF, schrieb:
„Herr X bezieht sich in erster Linie auf den Satz ‚Syriens Machthaber Assad bombt sich zum Sieg in Aleppo mit Hilfe Russlands‘ in einem Moderationstext in der Sendung ‚Heute Morgen‘. Er bezeichnet diese Aussage als einseitig und findet, Radio SRF unterstütze damit die Rebellen.
Der Satz ist jedoch eine Tatsachenfeststellung. Wie immer in Schlagzeilen oder Moderationstexten natürlich eine verkürzte. Denn es ist nicht allein Russland, das Assad im Kampf um Aleppo unterstützt, sondern ebenso der Iran. Da sich aber der so anmoderierte Beitrag mit den aussenpolitischen Erfolgen Russlands befasst, scheint es uns legitim, auch im Einführungstext auf Russland zu fokussieren.
Das Wort Machthaber in dem kritisierten Satz ist nicht wertfrei, ebenso wenig die Bezeichnung Regime für die syrische Regierung. Zwar war der vom französische ‚régime‘ abgeleitete deutsche Begriff Regime ursprünglich weder positiv noch negativ konnotiert. Inzwischen wird er aber fast ausschliesslich für nichtdemokratisch entstandene oder kontrollierte Herrschaftsformen verwendet. Insofern passt er exakt auf die Situation in Syrien. Dort fanden in der ganzen Ära Assad – Vater und Sohn – noch nie freie, demokratische Wahlen statt. Und das Land kann auch nicht als Rechtsstaat bezeichnet werden. Das galt bereits vor dem aktuellen Konflikt. Man muss sich ausserdem die Frage stellen, wie denn ein Präsident einzuschätzen ist, der nach wie vor die überwiegende Mehrheit der geschätzten rund 300 000 Toten zu verantworten hat und der wiederholt Fassbomben mit Chemikalien auf seine Bevölkerung abwerfen liess? Beide Sachverhalte wurden auch durch mehrere Uno-Untersuchungskommissionen bestätigt.
Der von Herrn X ebenfalls monierte Begriff Rebellen, den wir – und die grosse Mehrheit der übrigen Medien, national und international – für die syrische Opposition verwenden, ist weitgehend wertneutral. Würde man einen negativ besetzten Begriff wählen wollen, müsste man von Terroristen oder zumindest Aufrührern sprechen. Zöge man eine positive Charakterisierung vor, spräche man von Widerständlern oder Befreiungskämpfern. Im Fall Syrien drängt sich jedoch eine möglichst wertfreie Wortwahl aus, da sich unter den Rebellen – wie Herr X richtigerweise schreibt – sehr wohl auch radikal-islamistische Gruppierungen wie der sogenannte ‚Islamische Staat‘ oder al-Qaida befinden, aber ebenso liberalere Vertreter, die auf eine Demokratisierung Syriens setzen.
Wir haben in unserer Berichterstattung seit Ausbruch des Syrienkonflikts und seither konsequent auf diese Heterogenität der Opposition hingewiesen. Auch darauf, dass gewichtige Elemente in dieser Opposition unsere westlich-demokratischen Werte keineswegs teilen, ja oft massiv verletzen. Unser Nahost-Korrespondent Philipp Scholkmann beispielsweise hat in Dutzenden von Berichten darauf hingewiesen.
Richtig ist auch die Aussage von Herrn X, dass sich beide Lager in Syrien schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Ihre führenden Vertreter müssten sich deshalb vor dem Internationalen Strafgerichtshof ICC verantworten, was allerdings Russland im Uno-Sicherheitsrat verhindert.
Herr X mahnt bei uns ausserdem eine ‚neutrale‘ Berichterstattung an. Neutralität jedoch ist kein journalistisches Kriterium, sondern ein politisches. Dazu kommt: Zwischen welchen Lagern müssten wir uns neutral positionieren? Was wir hingegen anstreben, ist eine faktengetreue Schilderung von Konflikten und nachvollziehbar verargumentierte Einschätzungen.
Herr X greift ausserdem mehrere Punkte auf, die nicht direkt im Zusammenhang mit dem erwähnten Moderationssatz und dem damit eingeführten Beitrag stehen. Ich gehe dennoch kurz darauf ein, sofern es zumindest zum Teil einen Bezug zu unserer Berichterstattung gibt. Herr X spricht davon, dass Russland mithilft, den Krieg endlich zu beenden und damit schon viele Menschenleben gerettet habe. Diese Haltung vertreten wir in unserer Berichterstattung nicht. Sie steht auch den Beobachtungen und Erkenntnissen von humanitären Hilfswerken, von Menschenrechtsorganisationen und der Uno entgegen. Viel eher eine frühere Beendigung des Krieges wäre dann möglich gewesen, wenn der Uno-Sicherheitsrat rasch geeint aufgetreten wäre, was aber aufgrund eines mehrfachen Vetos durch Russland nicht möglich war.
Schliesslich noch die Aussage, dass wir die Rolle der Nachrichtendienste und der USA verschweigen würden. Wobei sich letztere ‚ungefragt‘ in den Krieg einmischten. Tatsächlich haben wir wenig über die Rolle der Nachrichtendienste berichtet. Dies deswegen, weil es nur sehr wenig überprüfbare Informationen gibt – unabhängig davon, ob diese Geheimdienstaktivitäten nun amerikanische, russische, iranische, saudische oder westeuropäische sind. Hingegen haben wir wiederholt die Problematik der ‚Anti-IS-Koalition‘ thematisiert. Dass sich da eine sehr widersprüchliche Gruppierung mit sehr unterschiedlichen Zielen zusammenfand. Und dass solche Luftangriffe unweigerlich ‚Kollateralschäden‘ zur Folge haben. Illegitim ist das Vorgehen der Allianz gegen den ‚IS‘ indes nicht. Zumal der ‚IS‘ auch westliche Länder bedroht, also berechtigterweise ein Ziel darstellt. Dazu kommt die von den Vereinten Nationen postulierte ‚Schutzverantwortung‘ (Responsibility to Protect).
Es handelt sich dabei um einen noch nicht abschliessend definierten und erprobten Teil des Völkerrechts. Offensichtlich ist aber, dass die Regierung Assad der Verantwortung, die eigene Bevölkerung zu schützen nicht nachkommt, ja sogar massgeblich dazu beiträgt, sie zu gefährden.“
C. Soweit die Äusserungen von Herrn Fredy Gsteiger. Damit komme ich zu meiner eigenen Einschätzung des Sachverhalts. Es ist uns allen klar, dass die Lage in Syrien ziemlich kompliziert ist und dass in den Konflikt in diesem Land am Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident viele Interessen involviert sind. Wir können grob zwischen vier Lagern unterscheiden:
- Da ist erstens das radikal-sunnitische Lager, in Syrien repräsentiert durch den „Islamischen Staat“, die Dschabat Fatah asch-Scham sowie andere Al-Kaida-Ableger und finanziell und operativ unterstützt durch die Muslimbrüder, Saudi-Arabien und Katar.
- Da ist zweitens das Lager der amtierenden syrischen Regierung, die im Land selber getragen wird von der Baath-Partei, der Armee, den Geheimdiensten sowie maßgeblichen Kräften der Alawiten, Christen und Drusen, und die von außen unterstützt wird durch die schiitische Hisbollah, das schiitische Iran und Russland.
- Da ist drittens die Türkei, die vor allem verhindern will, dass sich die Kurden Syriens, Iraks, Irans und der Türkei zu einem gemeinsamen Kurden-Staat zusammenschließen und die aktuell die Regierung Assad unterstützt, aber auch schon im gegnerischen Lager stand.
- Da ist viertens das laizistisch-„westliche“ Lager, zu dem in Syrien selber einige kleine Rebellengruppen gehören, vor allem aber die Kurden, und das von außen gestützt wird durch die USA, Frankreich und Großbritannien.
Alle diese Lager und Akteure ringen um regionale und/oder geopolitische Macht und um Einfluss. Alle Lager haben seit 2011 (und schon vorher) Verbrechen begangen. Alle scheren sich einen Deut um zivile Opfer.
Die Ansichten über die Zustände in Syrien und darüber, wer Recht hat, gehen weit auseinander. Man muss einander nur zwei Bücher gegenüberstellen, nämlich „Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad“ von Daniel Gerlach[1] und „Der schmutzige Krieg gegen Syrien. Washington, Regime Chance und Widerstand“ von Tim Anderson[2], und man erhält zwei völlig gegensätzliche Wahrheiten: die Wahrheit über die Verbrechen der syrischen Regierung und die Wahrheit über die Verbrechen der islamistischen syrischen Opposition und ihrer Verbündeten. Solange nicht restlos geklärt ist, wer in strittigen Punkten Recht hat, gibt es für Radio und Fernsehen SRF nur eine Möglichkeit: Zu allen Konfliktparteien Distanz zu halten, auch gegenüber denjenigen, denen man sich traditionell näher fühlt als anderen, immer zu erwähnen, auf welche Quelle man sich abstützt und mit wem sie allenfalls verbandelt ist, und möglichst mehrere Quellen zugrunde zu legen.
Sie verlangen, dass Radio SRF ausgewogen und neutral berichtet. Dass man sich mit keiner Konfliktpartei gemein macht und zu allen Abstand hält, versteht sich eigentlich von selber, denn Journalismus ist Fremddarstellung von Entwicklungen, Ereignissen und Personen. Aber neutral berichten hieße ja, dass man über keinerlei Maßstab verfügt. Dante schrieb in der „Divina Comedia“, die heißesten Plätze in der Hölle seien jenen vorbehalten, die in einem moralischen Konflikt neutral bleiben. Wenn eine Partei lügt und die andere die Wahrheit sagt, dann würde die neutrale Berichterstattung erfordern, dass man beiden Recht gibt und als Fazit zieht, dass beide die Halbwahrheit sagen. Wenn eine Partei ein offensichtliches Verbrechen begeht und die andere keines, dann würde die neutrale Berichterstattung erfordern, dass man beiden Parteien Verbrechen zutraut und beiden auch friedfertiges Verhalten. Das ist aber Unsinn: Medien müssen Verbrechen Verbrechen nennen können. Und Medien müssen sich an einem Maßstab orientieren. Dieser Maßstab ist für Medien in der Schweiz einerseits die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (Uno) von 1948[3], anderseits die „Europäische Menschenrechtskonvention“ des Europarates von 1950/53[4], ferner die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“, die auch die Verpflichtung zur Wahrheit enthält.[5] Und dieser Maßstab führt dazu, dass man Konfliktparteien, die sich weitgehend an diese Kodizes halten, mehr vertraut als jenen, die sich nicht an diese Kodizes halten.
Dies gesagt, muss sofort angefügt werden, dass westliche Medien Saudi-Arabien und Katar viel zu wenig brandmarken: Sie sind für mindestens so viele, wenn nicht für mehr Verbrechen verantwortlich als Iran und die Hisbollah. Die Art, wie Saudi-Arabien mit Kritikern umgeht, ist mindestens so brutal, wenn nicht brutaler, als in Syrien. In Syrien gab es 2014 zumindest nationale Präsidentenwahlen mit einer Kandidatenkonkurrenz, in Saudi-Arabien gab es überhaupt noch nie nationale Wahlen und 2015 erstmals Lokalwahlen. Hier gibt es sicherlich eine gewisse Einäugigkeit in der Berichterstattung, die darauf zurückzuführen ist, dass die USA mit den autoritären Regierungen von Saudi-Arabien und Katar zusammenspannen. Via Saudi-Arabien und Katar unterstützen die USA den islamistischen Terror.
Ob auch die Berichterstattung über Russland verzerrt ist, müsste sich an konkreten Beispielen erweisen. Ich habe aber den Eindruck, dass Sie die Politik Russlands in Bezug auf Syrien verharmlosen und schönreden. Russland hat im Nahen Osten ganz handfeste Interessen, die weit über den Militärstützpunkt in Tartus hinausgehen. Man kann die Intervention Russlands nicht naiv mit dem Argument verteidigen, Russland sei ja im Unterschied zu den USA, Großbritannien und Frankreich von Assad dazu eingeladen worden. Wenn die Interessen sich decken, erhält man schnell eine Einladung. Die Einladung enthebt eine auswärtige Macht nicht von der Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schonen. Das aber hat Russland nicht getan. Es ist daher meines Erachtens richtig, wenn Radio SRF jeweils die Verdienste einer Konfliktpartei, aber auch ihre Verbrechen erwähnt.
Alles in allem danke ich Ihnen dafür, dass Sie Radio SRF ermahnen, nicht auf einem Auge blind zu sein. Die Konsequenz dieser Mahnung kann aber nicht sein, dass Radio SRF fortan auf dem anderen Auge blind ist. Die Devise muss sein, dass nicht neutral und ausgewogen, sondern faktengetreu und fair berichtet wird. Dies ist auch die Grundlinie der Stellungnahme von Herrn Fredy Gsteiger. Und diese Grundlinie schließt Korrekturen der Einschätzung bei neuen Erkenntnissen mit ein. Wenn Sie indes eine totale Kehrtwendung erwarten, dann kann ich Sie nicht unterstützen.
D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
[1] Daniel Gerlach (2015): Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad. Hamburg: edition Körber Stiftung. 388 S.
[2] Tim Anderson (2016): Der schmutzige Krieg gegen Syrien. Washington, Regime Chance und Widerstand. Marburg: Liepsen Verlag. 274 S. (Original in Englisch).
[3] http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger
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