Dokumentarfilme als Spiegelbild der Gesellschaft

Wie filmische Perspektiven zwischen der Westschweiz und der Deutschschweiz Brücken schlagen, erzählt Irène Challand im Interview. LINK hat die Leiterin Dokumentarfilme von Radio Télévision Suisse (RTS) getroffen.

LINK: Wie unterscheidet sich denn ein Dokumentarfilm, der für RTS produziert wird, von einem für SRF?

Portraet von Irene Challand

Irène Challand: Bei RTS produzieren wir Dokumentarfilme schon seit langer Zeit mit Regisseuren und Journalisten. Der Journalist ist verantwortlich für den Inhalt und der Regisseur legt den Fokus auf Bilder und Erzählform. So wird viel Wert auf den Zugang zur Geschichte gelegt. Auch haben wir eine lange Tradition, mit unabhängigen Filmemachern zusammenzuarbeiten. Bei SRF hingegen produzieren Fernsehjournalisten die Dokumentarfilme. Doch in den letzten Jahren hat man auch in der Deutschschweiz angefangen, Dokumentarfilmen von unabhängigen Filmemachern mehr Raum zu geben.

Woher kommt diese Westschweizer Tradition, Dokumentarfilme mit Regisseuren zu produzieren?

Angefangen hat das vor 15 Jahren, als bei RTS die Abteilung Dokumentarfilme gegründet wurde. Damals war Reality-TV bei den Privatsendern gross in Mode. Wir wollten andere Wege gehen. Neues probieren wollte zu der Zeit auch eine junge Generation von Westschweizer Regisseuren. So fingen wir an, mit ihnen zusammenzuarbeiten und zeigten fortan 90-minütige Kinodokumentarfilme in der Primetime.

Entspricht ein solch langer Film denn noch den heutigen Bedürfnissen des Publikums?

Die Menschen wollen sich rasch informieren. Aber zu bestimmten Themen, die sie interessieren, wollen sie in die Tiefe gehen. Dies können sie mit einem Buch tun oder eben mit einem Dokumentarfilm. Auch das junge Publikum interessiert sich für Dokumentarfilme. Dieses müssen wir einfach auf anderen Kanälen darauf aufmerksam machen, beispielsweise über Facebook. Kurze Dokumentarfilme, produziert fürs Web, laufen hingegen noch nicht so gut.

Werden die Produktionen aus der Westschweiz nur auf RTS gezeigt?

Wenn es um Themen geht, die vor allem regional von Interesse sind, dann produzieren wir nur für RTS. Oder wenn die Protagonisten ausschliesslich aus der Romandie stammen. Die meisten Filme produzieren wir aber gemeinsam mit anderen Sendern wie SRF oder auch Arte.

Übernimmt RTS auch Dokumentarfilme von SRF und umgekehrt?

Wir übernehmen etwa 20 Dokumentarfilme im Jahr von SRF und sie übernehmen rund zehn Filme von uns. In der Primetime zeigen wir Filme mit Voice-over. Ansonsten strahlen wir sie mit Untertiteln aus. Ebenso sind die Koproduktionen im Programm vertreten. SRF und RTS produzieren jährlich 25 Dokumentarfilme gemeinsam, manche davon mit RSI und RTR.

Was macht eine solche Koproduktion aus?

In diesen Dokumentarfilmen gibt es Protagonisten aus den verschiedenen Landesteilen. So haben wir den Film «Zwischen den Fronten – IKRK-Delegierte im Einsatz» gemeinsam mit SRF produziert. Es werden bewusst IKRK-Delegierte aus der Westschweiz und aus der Deutschschweiz gezeigt. Das fördert den Zusammenhalt zwischen den Sprachregionen und ist ein wichtiger Teil des Service public. Eine der nächsten Koproduktionen, die ausgestrahlt wird, ist die zweite Serie von «Grüezi Schweiz». Im Mai laufen die Folgen auf SRF und im Juni auf RTS.

Lohnt es sich, Dokumentarfilme eigens fürs Schweizer Publikum zu machen?

Ja. Schweizer Filmemacher sind mitten in unserer Gesellschaft und zeigen die Schweiz und die Welt aus einer ganz anderen Perspektive als ausländische Filmemacher. In Frankreich beispielsweise wird oft aus Sicht der Elite erzählt, ohne die Mittel- oder die Unterschicht einzubeziehen. So werden dem Publikum Sachverhalte von oben herab erklärt, es erlebt sie aber nicht.

Woran liegt es, dass Schweizer Filmemacher eine andere Perspektive haben?

Das hat mit unserem politischen System zu tun. In einer direkten Demokratie wie der Schweiz leben wir nicht nur im selben Land. Wir tragen viel mehr gemeinsame Verantwortung und wachsen so zusammen. Das widerspiegelt sich im Dokumentarfilm.

Text: Regina Schneeberger

Bild: Marc Pahud

Die SRG.D hat an den Solothurner Filmtagen mit Filmschaffenden und Mitgliedern über die Bedeutung des Dokumentarfilms für die Schweiz und die Wichtigkeit der SRG für die Schweizer (Dokumentar-)Filmszene gesprochen. Drei Statements zum Thema:

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