Neue SRF-Serie in der Beziehungskrise

Zwischen Kuhweide, Einkaufszentrum und Neubausiedlung entsteht zurzeit Güzin Kars ­Serie für SRF zwei, in der es um Sex in Langzeitbeziehungen geht. Ein Besuch am ­Drehort verspricht beste und gesellschaftsrelevante Unterhaltung.

Gianni und Nele sitzen nicht wirklich entspannt auf einer Holzbeige vor ihrem gros­sen, umgebauten Bauernhaus. Sie schweigen. Irgendwann legt Nele ihre Hand auf das Bein des Mannes, mit dem sie schon seit zehn Jahren verheiratet ist, er legt seinen Arm um ihre Schulter. Das Paar hat schon leidenschaftlichere Momente erlebt. Nur Sekunden dauert diese Szene, wer zuschaut, begreift sofort: o-oh, eine ernsthafte Beziehungskrise. Güzin Kar ruft: «Danke!» Sofort kommen alle in Bewegung, ein Team aus knapp zwanzig Personen an einem Märzabend in der Agglomeration von Zürich: Regie­assistentin, Kameramann, Licht- und Tontechniker, Maskenbildner und viele andere. Kurze Anweisungen, Ruhe, Klappe, ein weiterer Take. Flugzeuge dröhnen über die Szenerie, es ist längst dunkel.

Wenige Meter neben dem Bauernhaus, das in einer Senke liegt, steht ein riesiges, hell erleuchtetes neues Wohnhaus für Dutzende Familien. Der Drehort hat eine starke Symbolik – hier walzt sich, wie vielerorts in den städtischen Agglomerationen, eine neue Siedlung mit viel Beton in noch grünes Land, das bereits von einer Autobahn begrenzt ist.

Keine drei Gehminuten vom Drehort entfernt hat es auch eine neue, gut frequentierte Bushaltestelle. «Das ist typisch für die Schweiz», sagt Güzin Kar: «Bei uns ist alles per Zug, Bus, Postauto erreichbar. Jedes Einkaufszentrum muss eine eigene Bushaltestelle haben. Nur in der Schweiz gibt es diese Art von Mobilität. Und sie macht etwas mit den Menschen.»

Es ist einer der ersten Drehtage der ­Serie «Seitentriebe». Die acht Folgen à 25 Minuten werden ab Frühling 2018 auf SRF zwei ausgestrahlt. Güzin Kar hat sie geschrieben und führt mehrheitlich selber Regie. Die Autorin von Drehbüchern, Büchern und Kolumnen beschäftigt sich schon lange klug und humorvoll mit Themen rund um die Paarbeziehung. «Seitentriebe» stellte sie sich ursprünglich als Stoff für die Theaterbühne vor. Güzin Kar schrieb dankbar um, sie sagt: «Die Form der Serie ist ideal. So kann ich Parallelhandlungen entwickeln und die inneren Befindlichkeiten über die äusseren Gegebenheiten erzählen: die Emotionen nicht nur in den Gesichtern spielen lassen, sondern vor allem auch in der Umgebung.» Dass eine Drehbuchautorin bei der Serienproduktion auch Regie führe, sei eher unüblich, erklärt Bettina Alber, ­Serienprojektleiterin SRF, «aber ‹Seitentriebe› ist in der gesamten Tonalität durch und durch ein Güzin-Projekt, und dass sie auch Regie führen kann, hat sie bereits mehrfach bewiesen.»

«Die Form der Serie ist ideal. So kann ich Parallelhandlungen entwickeln und die inneren Befindlichkeiten über die äusseren Gegebenheiten erzählen: die Emotionen nicht nur in den Gesichtern spielen lassen, sondern vor allem auch in der Umgebung.» - Güzin Kar, Filmautorin und Regisseurin

Eine heiter-unterhaltsame Serie zu Sex in Langzeitbeziehungen hat es – zumindest in der Schweiz – noch nie gegeben. Auch neu ist, dass eine Serie explizit für SRF zwei produziert wird. «Seitentriebe» verspricht gehaltvolle Komik, was nicht nur mit Güzin Kars Talent zu tun hat, sondern auch mit bewussten dramaturgischen Entscheidungen, etwa dem Erzählen aus weiblicher und männlicher Perspektive. Und obwohl es um Liebe, Sex und Langzeit­beziehungen geht und nicht um Politik, Wirtschaft und Macht wie in anderen Serien, soll «Seitentriebe» gesellschaftlich relevant sein und für Gesprächsstoff sorgen. Die heutzutage vielfältigen Formen und Möglichkeiten von Beziehungen, Sexualität und Elternschaft bieten tatsächlich jede Menge Stoff für nahrhafte Auseinandersetzung. Güzin Kar, die sich immer wieder mit viel Beachtung in Gender- und andere gesellschaftliche Diskussionen einmischt, fokussiert mit ihren drei Filmpaaren aber ausschliesslich auf die heterosexuelle Beziehung von Schweizer Paaren und blendet den Rest aus. Warum? Das sei eine bewusste Entscheidung, sagt die 46-Jährige: «Wenn man von allem ein wenig nimmt und erzählt, wird es schnell oberflächlich und entsprechend irrelevant. Man muss anhand der Figuren, die man hat, etwas durcherzählen. Ich erzähle die Krise der heterosexuellen Beziehung.»

Obwohl es um Liebe, Sex und Langzeit­beziehungen geht und nicht um Politik, Wirtschaft und Macht wie in anderen Serien, soll «Seitentriebe» gesellschaftlich relevant sein und für Gesprächsstoff sorgen.

Dem Schreiben ging ein mehrmona­tiger Rechercheprozess voraus, in dem sie auch Fragen nachging wie: «Woher kommt die innere Unzufriedenheit von Menschen, die in einer sicheren, wohlhabenden Gesellschaft aufwachsen und leben? Was ist es, das sie ständig unterwegs sein lässt, reisend oder in Shoppingcentern?» Kar las etliche Bücher, schaute Filme und führte mit zig Menschen intime Gespräche. «Die Recherche ging aber noch viel weiter», sagt sie, «es ist ein Kanalisieren aufs Filmthema von allem, was ich sehe und erlebe, ein permanentes In-Bezug-Setzen. Oft waren es dann Bilder oder Melodien, die ich unbedingt im Film haben wollte.»

Das Schreiben einer Serie ist wegen der vielen möglichen Parallelgeschichten noch anspruchsvoller, als das Drehbuchschreiben ohnehin schon ist. Güzin Kar sagt: «Schreibtage sehen bei mir aber alle gleich aus: Ich setze mich morgens um sieben vor den Bildschirm und finde mich unbegabt, hässlich und überflüssig. Und staune, dass am Abend trotzdem so viel zusammen­gekommen ist.»

Am Drehort steht die letzte Szene auf dem Programm: Hauptdarstellerin Nele spielt versonnen vor ihrem Haus mit gelben Plastikenten in einer mit Wasser gefüllten Tonne. Dabei driftet einer Ente der Kopf unter Wasser weg, sinkt ab und ist nicht mehr zu retten. Die Regisseurin sagt gelassen: «Wir drehen einfach ohne den Entenkopf weiter.»

Fünf Fragen an Bettina Alber, Serienprojektleiterin SRF:

  • Erleben Schweizer TV-Serien zurzeit einen Aufschwung?
  • Wie unterscheiden sich die neuen SRF-Serien?
  • Gibt es bestimmte "Schweizer" Themen?
  • Eine Schweizer Serie auf SRF zwei - ein Strategiewechsel von SRF?
  • Wie finanziert SRF seine neuen Serien?

Hier geht es zu den Antworten von Bettina Alber, Serienprojektleiterin SRF

Text: Esther Banz

Bild: Sandra Blaser

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