«Ich sehe mich in einer langen Kette»

Mit Journalismus lasse sich kaum mehr Geld verdienen, das sei eine Gefahr für Demokratie und Gesellschaft. Ein Interview mit SRG-Generaldirektor Roger de Weck.

In Kürze:

  • Die Grundwerte der Aufklärung muss man von Generation zu Generation einpflanzen.
  • In der Schweiz wird es schwierig, mit Journalismus gutes Geld zu verdienen.
  • Gegenwärtig bündeln sich vier Kräfte gegen öffentliche Medienhäuser:
  1. Gegner öffentlicher Einrichtungen
  2. Befürworter kompletter Kommerzialisierung
  3. Finanzkräftige Politiker mit Interesse an Medienmacht
  4. «Pay per Use»-Unterstützer

Roger de Weck, sind Sie überrascht, dass Sie noch als SRG-Chef miterleben müssen, wie der US-Präsident ein Video verbreitet, in dem er fiktiv einen Fernsehreporter zusammenschlägt?
Beim Präsidenten Donald Trump überrascht nichts mehr.

Was hat dieses Video in Ihnen ausgelöst?
Trump verachtet nicht nur die Vierte Gewalt, die Medien, sondern auch die Dritte Gewalt, die Justiz, und die Zweite Gewalt, den Kongress. Er ist kein Demokrat. Das ist eine neue Lage: In der westlichen Welt gibt es wieder undemokratische Regierende.

Das ist erschreckend, ist doch im Westen die Aufklärung immer noch das höchste Prinzip.
Nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust beachtete Westeuropa umso bewusster die Werte der Aufklärung – Menschenwürde, Grundrechte, Gewaltenteilung, Respekt vor Minderheiten; sie galten jahrzehntelang als selbstverständlich. Inzwischen regen sich wieder Kräfte, die all das in Frage stellen, was die Aufklärung bedeutet.

Warum? Um persönliche Interessen durchzusetzen? Oder besteht da ein grösserer Zusammenhang?
Die Grundwerte der Aufklärung muss man von Generation zu Generation einpflanzen. Das habe ich nach und nach gelernt, und zwar widerwillig. Ich erinnere mich an einen Beitrag in einer Zeitschrift zu Zeiten des Präsidenten George W. Bush, als das Gefangenenlager Guantanamo entstand. Der Artikel rechtfertigte die Folter. Ich war fassungslos, so etwas in einem Schweizer Blatt zu lesen – denn ich glaubte, die Grundrechte seien bei uns akzeptiert, ein für allemal. Für die Menschenrechte überhaupt noch argumentieren zu müssen, schien mir sie sogar zu relativieren. Damals habe ich gelernt: Wir müssen immer wieder neu anfangen. Und jetzt trumpfen diejenigen auf, die geschichtsvergessen keine Kompromisse wollen. Wer keine Kompromisse will, verursacht und erntet Konflikte.

Pausanias’ Diktum, dass der Überbringer der schlechten Botschaft bestraft wird, hat Inflation: Die Medien werden gezielt angegriffen. Warum?
Die Medien sind Kinder der Aufklärung, sie entstanden mit dem Buchdruck. Dank des Buchdrucks verbreiteten sich die Reformation und bald auch die Gedanken der Aufklärung. Die bürgerlichen Revolutionäre in Nordamerika und Frankreich waren erst Revolutionäre der Schrift, dann der Tat. Sie kämpften, um die Werte der Aufklärung durchzusetzen. Der Kampf geht jetzt von Neuem los, weltweit. Der sich verbreitende Fanatismus ist vielerorts religiös grundiert.

Inwiefern spielt die Religion eine Rolle?
Die Tea-Party-Bewegung in den USA besteht aus Evangelikalen, fundamentalen Christen. Die Nationale Front in Frankreich beruft sich auf die Heilige Jeanne d’Arc. Viktor Orbán in Ungarn zelebriert das christliche Abendland, das es vor der Islamisierung zu retten gelte. Terroristen berufen sich auf den Islam. Fanatische Sikhs, Hindus, Shintoisten oder Juden verabsolutieren ihr Weltbild. In einer Zeit des Umbruchs durch Globalisierung und Digitalisierung berufen sich viele auf das, was man seit je kennt: Religion und Nation.

In den USA schlägt der Präsident fiktiv den Fernsehreporter zusammen, in der Schweiz wollen die Junge SVP und Jungfreisinnigen die SRG zerschlagen. Die «No-Billag»-Initiative will die Empfangsgebühren für die SRG und private Lokalsender abschaffen. Wollen sie das, weil sie diese Angebote nicht hören, nicht schauen?
In Europa bündeln sich vier Kräfte gegen die öffentlichen Medienhäuser. Diejenigen, die gegen alles Öffentliche sind und die unabhängige SRG als Staatsradio, Staatsfernsehen diffamieren. Die zweite Kraft bilden jene, die alles kommerzialisieren möchten; ihnen ist ein schlechteres privates Angebot immer noch lieber als ein gutes öffentliches. Sie nehmen in Kauf, dass ein privatisiertes Radio SRF 3 kaum mehr Schweizer Musik, keine kostspieligen Vertiefungssendungen und dafür Nachrichtenbulletins mit viel Boulevard brächte.

Und die andern zwei Kräfte, was wollen die?
Die dritte Kraft, das sind jene Geldmächtigen aus der Politik, die auch Medienmacht wollen. Sie wollen Medien kaufen, gründen, auf Kurs bringen, beherrschen – und die unabhängige SRG schwächen oder gar beseitigen. Schliesslich die vierte Kraft, die sagt: «Ich zahle nur für das, was ich nutze.» Das Gegenteil des eidgenössischen Solidaritätsprinzips! Sonst gäbe es weder Spitäler noch Museen, weder öffentlichen Verkehr noch die AHV. Die SRG sorgt dafür, dass auch Berggebiete, Randregionen und kleinere Sprachgruppen ein gutes Angebot haben. Die Stabilität der Schweiz beruht auf dem Willen, Minderheiten gut zu behandeln, so wie im Ständerat zum Beispiel die kleinen Kantone gleich viel Gewicht haben wie die grossen.

Die «No-Billag»-Initiative, die vielleicht schon ab März 2018 zur Abstimmung kommt, birgt Risiken. Parteien und Verbände sind dagegen, aber hier könnte sich ein Macron-Effekt ergeben: Das Volk stellt sich gegen das Establishment.
Jede Volksabstimmung ist ernst zu nehmen, nie ist sie ein Spaziergang. Aber ich glaube nicht, dass die Schweizerinnen und Schweizer auf eine audiovisuelle Produktion in ihrem Land verzichten wollen. Alle sprechen heute vom Internet. Das ist ein neuer Verbreitungsweg – aber viel anspruchsvoller als die Distribution ist die Produktion. Auch die SRF-Tagesschau, die manche gern auf YouTube schauen, musste produziert werden. In der kleinen, viersprachigen Schweiz hat noch niemand mit audiovisueller Produktion, die kostspielig ist, wirklich Geld verdient.

Private Betreiber sehen das anders.
Längst nicht alle! 34 private Regionalsender sind in ihrer Ortschaft oder Talschaft auf die Empfangsgebühren angewiesen. Mit einem Ja zur «No Billag» wären sie existentiell bedroht. Selbst der Verleger der AZ Medien, der Aargauer Peter Wanner, möchte mehr Gebührengeld. Andere wollen ans Portemonnaie der Schweizer. Ein Beispiel: Die SRG hat gut 100 Sportarten im Angebot. Das kostet einen Haushalt 1,16 Franken pro Woche, 60 Franken pro Jahr. Wer in Deutschland wohnt, den deutschen Fussball verfolgen möchte – was nur beim Bezahlfernsehen möglich ist –, den kostet allein schon das Fussballpaket so viel Geld wie die ganze Schweizer Empfangsgebühr.

Die SRG hat dennoch heute nicht nur Freunde. Das war schon einmal so, als die Privatradios mit einer Rundfunkversuchsverordnung zugelassen wurden. Dann kamen die privaten Fernseher. Dann die Gebührenumverteilung. Warum lässt der Druck trotz vieler Zugeständnisse nicht nach?
Ich erwähnte die vier Kräfte, die wirken. Hinzu kommt, dass etliche Verleger in ungemütlicher Lage sind, weil ihr Geschäftsmodell nicht mehr aufgeht. Die Werbung ist ins Internet abgewandert, und die Verlage holen aus dem Internet bestenfalls zehn Prozent der Werbeeinnahmen zurück, die sie im Print verloren haben. Die Kleinanzeigen, früher das Rückgrat einer Zeitung, sind auf Onlinemarktplätzen; sie finanzieren nicht mehr den Journalismus. Hinzu kommt die Gratis-Kultur. In der Schweiz wird es schwierig, mit Journalismus gutes Geld zu verdienen.

Dennoch weisen grosse Medienhäuser auch für 2016 immer noch respektable Gewinne aus.
Es gibt zwei Kategorien: einerseits jene Verlage, die dem Journalismus treu bleiben, wie die AZ Medien oder die NZZ – sie erzielen eher kleine Gewinne. Anderseits jene Verlage, die allmählich aus dem Journalismus aussteigen und Onlinemarktplätze kaufen – sie machen gute Geschäfte. Wir werden Medienhäuser haben, die mit Journalismus nur noch wenig zu tun haben. An dieser Entwicklung würde eine Schwächung der SRG nichts ändern.

1988 erschien im Lenos-Verlag das Buch «Schöne Fernseh-Aussichten – die folgenreiche Demontage einer öffentlichen Institution». Da sind Thesen nachzulesen, die sich bewahrheitet haben. Zwei Beispiele: «Konkurrenz drückt auf die Qualität» oder «Mehr Angebote, weniger Vielfalt».
Privatfernsehen ist fast durchwegs Boulevardfernsehen. Boulevard ist nicht nur ein journalistisches, sondern auch ein wirtschaftliches Prinzip: Wer mit dem Minimum an Kosten das Maximum an Publikum erreichen will, macht Boulevard. Das Angebot der SRG hingegen wird von ihrem Auftrag im Dienst des Gemeinwesens bestimmt und nicht einfach von der Nachfrage. Die SRG will nah beim Publikum sein, aber sie produziert auf ganz andere Weise, sonst gäbe es kein Kultur-, kein Wissenschafts- und kein Wirtschaftsmagazin zur besten Sendezeit. Die Herausforderung heute ist, Qualität zu bieten für ein breites Publikum. Wochentitel für die kaufkräftige Elite, wie meine frühere Wochenzeitung «Die Zeit», behaupten sich gut, während gute populäre Zeitungen unter Druck geraten sind.

Aber können Sie bestätigen, dass die Privatisierung im Radio zu einem Einheitsbrei geführt hat, der für das Radio-Programm der SRG eine Gravitationskraft hat?
Der Spardruck bei privaten Medien mindert die Breite und die Tiefe des Angebots. Ich denke, dass sich die SRG mit ihrem Willen zu einer populären Qualität alles in allem bewährt. Qualitätsarbeit ist allerdings Dauerarbeit, sie hört nie auf!

Kann man heute im Rückblick sagen, dass mit der Privatisierung der Abschied vom Service public begonnen hat?
Auf keinen Fall.

Wie wird der Service public durch die fortschreitende Digitalisierung verändert?
Der kleine Bildschirm meines Smartphones ist so wichtig wie der grosse zu Hause. Beide haben Zukunft. Wir müssen überall dort sein, wo das Publikum ist. Nach wie vor sitzt auch junges Publikum vor dem grossen Bildschirm, gerade beim Sport oder bei Filmen wie «Gotthard» und Themenabenden wie «Blackout». Wir hatten früher zwei Distributionswege: Radio und Fernsehen. Heute bedienen wir sechs, um alle Nutzer zu erreichen: Radio, Fernsehen, Smart-TV, Apps, Webseiten und die sozialen Medien. Das ist anspruchsvoll, da je nach Verbreitungsweg andere journalistische Formen gefragt sind.

Das bedeutet Mehrarbeit.
Und dafür gibt’s nicht mehr Geld. Trotzdem produzieren wir sehr bewusst zum Beispiel Mini-Serien, die für das Web gemacht werden und nur im Web zu sehen sind. Mit eher weniger Geld müssen wir vielfältige Angebote bereitstellen. Eine heikle Balance zwischen höherer Effizienz und Wahrung der Qualität.

Was ist für Sie als SRG-Generaldirektor die grösste Herausforderung?
Die wichtigste ist der digitale Umbruch: der Wille, online ebenso gut zu sein wie auf den klassischen Kanälen. Die Kanäle sind eine Sache der Kontinuität, das Internet eine Sache der Agilität. Beides zu verknüpfen – das ist die schöne Herausforderung.

Was war für Sie als Zeitungsmacher die grösste Herausforderung?
Das liegt eine Ewigkeit zurück! Auf meinem Lebensweg war Umbau angesagt – einst beim «Tages-Anzeiger» und bei der «Zeit», jetzt bei der SRG. Ich gehe zielstrebig, aber behutsam vor. Über die Jahre bin ich achtsamer geworden. Die ganz grossen Würfe – im Nu wird managermässig das Haus umgebaut – sind menschen- und weltfremd. Mit einer Vielzahl kleiner Schritte nähert man sich dem Ziel.

Was waren und sind Ihre ethischen Leitplanken?
Zu Beginn des Gesprächs sprachen wir sie an: Mein Kompass sind die Werte der Aufklärung.

Sind Sie auch im Glauben verankert?
Ich habe hohen Respekt vor der Katholischen Kirche, der ältesten Grossorganisation der Welt. Zwei Jahrtausende Kontinuität, das beeindruckt. Deshalb bin ich auch etwas milde, wenn eine 2000 Jahre alte Institution mal 50 oder 100 Jahre im Verzug ist.

Das führt aber in der Schweiz dazu, dass die Kirchen immer leerer werden.
Der Katholizismus hat ein Problem: Die vielen Menschen, die in der Gesellschaft endlich gleichgestellt sind und heute nicht länger benachteiligt werden dürfen, bleiben in der Kirche benachteiligt – die Frauen, die Geschiedenen, die Homosexuellen. Die Katholische Kirche hält an der Diskriminierung dieser Gruppen fest. Das ist eine schwere Hypothek, die theologisch wenig glaubwürdig begründet ist – diesen Eindruck habe ich als Laie.

Viele haben wohl deswegen auch den Eindruck, die Kirche helfe nicht zu glauben.
Dennoch möchte ich sie nicht missen. Eine Schweiz ohne die Kirchen wäre viel ärmer. Ich meine nicht bloss die grossartige, gemeinnützige Arbeit. Ich meine auch eine Instanz, die immerzu an Werte erinnert, wiewohl selbst sie sich nicht immer daran hält; die einen andern Blick auf die Gesellschaft wirft; die sich dem Diktat des Wirtschaftlichen widersetzt; die in einer Gesellschaft des Ich-ich-ich und des nationalistischen Wir-wir-wir auf das verweist, was den Kern der christlichen Botschaft ausmacht, nämlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die Achtung des Anderen erfordert Selbstachtung. Diese Botschaft ist einzigartig, jenseits aller Stärken und Schwächen, aller Leistungen und Irrungen der Kirchen.

Letzte Frage: Wann ist für Sie ein Leben gelungen?
Ein Leben muss nicht gelingen. Ich halte es für anmassend, dass ein Leben gelingen müsse. Ich entstamme einer alten Familie. Da könnte ich mich sonnen in der Tradition der Ahnen. Aus dem Zufall meiner Geburt habe ich aber einen ganz anderen Schluss gezogen: Das Wissen um meine vielen Vorfahren begründet ein Bewusstsein um die vielen Nachfahren, die ich habe und haben werde. Ich sehe mich in einer langen Kette, in einer Kontinuität, die das Individuum nicht überhöht. Wenn mein Leben schön ist und bislang einigermassen gelingt, ist das ein Privileg. Aber im Leben muss nicht alles gelingen. Das ist doch entspannend!

Roger de Weck – Nach sieben Jahren als Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR wird Roger de Weck im Herbst wieder Publizist. Der 63-Jährige war Chefredaktor des «Tages-Anzeiger» (1992 bis 1997) und der «Zeit» (1997 bis 2001). De Weck ist Ehrendoktor der Universitäten Luzern und Freiburg.

Dieses Interview erschien am 27. Juli 2017 im «Doppelpunkt» .

Text: Doppelpunkt/Anton Ladner

Bild: SRG.D

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