Unsere Schweiz, unsere Story
Seit diesem Herbst ist Gilles Marchand, früherer RTS-Chef, neuer Generaldirektor der SRG SSR. Wie er die Schweiz in der globalen Medienwelt sieht, erzählt er in seinem Gastkommentar.
Das Wichtigste in Kürze.
- Die digitale Entwicklung löste grosse Umwälzungen in der Medienlandschaft aus.
- Die mediale Schweiz ist global kaum wahrnehmbar.
- Medienallianzen sind eine Chance für die Schweiz, international konkurrenzfähig zu bleiben.
Die digitale Revolution hat uns erfasst. Wie eine Flutwelle, die sich seit der Jahrtausendwende ohne Rücksicht auf Verluste ihren Weg bahnt. Sie überrollt alle Grenzen, Gewohnheiten und Überzeugungen. Als Erstes hat sie das Verhalten des Publikums erfasst, das heute ein ganz anderes Verhältnis zu den Medien hat. Weniger als eine Generation hat ausgereicht, um diese Beziehung von Grund auf zu ändern.
Zwei grosse Trends haben sich herauskristallisiert. Der Zugriff auf die Medien erfolgt nicht länger linear, sondern à la carte, laufend und grundsätzlich mobil. Beim Medienkonsum entwickeln sich so neue «Zeit-Räume». Speziell die auf dem (Arbeits-)Weg verbrachte Zeit wird nun als Medienzeit genutzt, wobei der digitale Medienkonsum dem klassischen nicht etwa das Wasser abgräbt, sondern ihn bereichert. Und da sich inzwischen auf fast alle Inhalte sehr leicht zugreifen lässt, nehmen diese neuen «Medienzeiten» immer weiter zu.
Mit den Gewohnheiten des Publikums haben sich auch seine Erwartungen verändert. Heutzutage sind sie unspezifisch, unbeständig und fragmentiert. Die Bindung an einen bestimmten Radio- oder Fernsehsender ist weggefallen, gesucht wird heute themenorientiert.
Die Beziehungen zu den Medien folgen nicht länger einer vertikalen Logik mit einem omnipotenten Anbieter, der über die Art der angebotenen Inhalte und über den Zeitpunkt und das Medium der Ausstrahlung entscheidet. Heute stellt sich die Konsumlogik deutlich horizontaler dar. Das Publikum trifft seine Wahl selbstständig, nascht einmal hier und einmal dort vom Angebot. Es fordert die Anbieter und ihre Journalistinnen und Journalisten heraus und hinterfragt ihre Beiträge. Tatsächlich hat sich die Medienlogik von einer machtgeprägten, einigermassen autoritären Haltung zu einer grösstenteils partizipativen Angebotshaltung gewandelt. Und damit hat sich alles verändert.
Kommt dazu, dass sich die Werbemittel neu online orientieren und die traditionellen Medienkanäle verlassen. Zum ersten Mal seit ihrem Entstehen begegnen sich TV und Zeitungen auf demselben Terrain – dem Internet.
Eine explosive Mischung
Spannungen zwischen der Presse und den audiovisuellen Medien, zwischen privaten und öffentlichen Anbietern sind die Folge. Erstere sind zu Unrecht der Meinung, dass die Macht Letzterer gebrochen werden müsse, wenn der Privatsektor überleben soll. Und da sie auch über einigen politischen Einfluss verfügen, kommt es zu einer explosiven Mischung, die sich in unablässigen Angriffen auf den Service public, seine Legitimität und seine Finanzierung Luft verschafft.
Tatsächlich stellt diese Entwicklung unser Land vor grundlegende Fragen, hat es doch bis jetzt die Kunst eines harmonischen Zusammenlebens in kultureller Vielfalt gepflegt. Diese Kunst lässt sich allerdings nur mithilfe von Bindegliedern pflegen – an erster Stelle mithilfe von starken öffentlichen und privaten Medien.
Welche Rolle spielen globale Player in diesem Gefüge? Machen wir uns nichts vor: Unser kleines Land ist in der grossen, gut vernetzten Welt kaum wahrnehmbar.
Die Schweiz und die Tech-Giganten
Die SRG SSR fällt im Medienbereich mit einem Jahresbudget von 1,6 Milliarden Franken respektive US-Dollar – im internationalen Vergleich – wenig ins Gewicht. Zum Vergleich: Die private RTL-Gruppe verfügt über USD 7,2 Mia., der amerikanische Streaming-Anbieter Netflix über USD 8,8 Mia. und die öffentlichen Medien in Deutschland – ARD und ZDF – über insgesamt USD 9,5 Mia. Der Abstand zu den amerikanischen Tech-Giganten verdeutlicht unsere relative Kleinheit noch stärker: Facebook verfügt über USD 27,6 Mia., Google (bzw. Alphabet) über USD 90 Mia., Amazon über USD 136 Mia. und Apple gar über USD 216 Mia.! Dies sind die wirklichen internationalen Marktgrössen, die auf unseren kleinen nationalen Markt drängen.
Was tun? Wir müssen unsere Inhalte verankern und in einen Kontext stellen. Eine offene, dynamische und innovative Schweiz. Das sind wir, das ist unser Mehrwert, das ist unsere Story, und diese Story erzählen wir – ohne Zittern oder Zaudern. So freuen wir uns zum Beispiel, dass die SRG seit Jahren aufgrund ihres Produktions-Know-hows im Auftrag des IOC Host-Broadcaster an den Olympischen Winterspielen ist.
Allianzen sind unsere zweite Chance. Die Schweiz ist zu klein, um sich zu bekriegen. Wir müssen uns gegenseitig stärken.
«Die Schweiz ist zu klein, um sich zu bekriegen. Wir müssen uns gegenseitig stärken.»
Nicht nur in der Medienwelt, sondern auch als öffentliche Akteure mit vergleichbaren und kompatiblen Zielen. Es geht darum, soziale Bindungen in unseren Regionen und Städten zu stärken, zu informieren und aufzuklären, zu diskutieren. Kurz: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln.
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