«Tagesschau»-Beitrag «100 Jahre nach Balfour-Deklaration» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 20. November 2017 beanstandeten Sie die „Tagesschau“ vom 2. November 2017 und dort den Beitrag „100 Jahre nach Balfour-Deklaration“.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„Das Thema behandelt die Umstände der (Wieder-)Geburt des Staates Israel. In der Darstellung der Tagesschau, finden zwei Sichtweisen Beachtung:

- die ‚englische‘ - man stellt Land zur Verfügung –

- die ‚arabische‘ - Land das den Palästinensern ‚gehörte‘ -

Abwesend, ist die Sichtweise der eigentlich Betroffenen, des hebräischen Volkes, den Juden. Deren Vertreter werden etwas ominös als ‚Zionisten‘ bezeichnet. Der Hintergrund für die angestrebte, nationale Wiedergeburt in der historischen Heimat, fehlt völlig.

Ich erwarte von einem sachgerechten Beitrag, dass die 3000 Jahre alte, historische Bindung der Juden mit diesem Land, nicht unterschlagen wird. Immerhin war diese ‚Herkunft‘ Basis aller Misshandlungen gegen Juden - auch in der Schweiz.

Allgemeine Bemerkungen:

Die Darstellung könnte durch mangelnde Tiefen-Kenntnisse erklärt werden. Die Wahl des interviewten Historikers Tom Segev und die eigentümliche Theorie, dass die Briten sich den jüdischen ‚Einfluss‘ sichern wollten, sind vielmehr Hinweise für die Verbreitung revisionistischer und linkslastiger Geschichtsschreibung. Als Grundlage für eine Tagesschau-Hauptausgabe irritierend, würde man meinen.

Ich danke der Ombudsstelle für eine Bewertung der Beschwerde.“

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die „Tagesschau“ äußerte sich Herr Franz Lustenberger wie folgt:

„Mit Mail vom 20. November hat Herr X eine Beanstandung gegen den Beitrag ‚100 Jahre Balfour-Deklaration‘ eingereicht. Er kritisiert im Wesentlichen, der Beitrag unterschlage die jüdische Sichtweise zu diesem Ereignis im Jahre 2017.

Die Tagesschau nimmt wie folgt Stellung:

Balfour-Deklaration

Seit 1517, also während 400 Jahren, war Palästina Teil des Osmanischen Reiches, das 1914 an der Seite der Achsenmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den 1. Weltkrieg eintrat. Auf der anderen Seite standen Grossbritannien, Frankreich und Russland, später noch die USA als die wichtigsten kriegsteilnehmenden Staaten.

Die Erklärung des britischen Aussenministers Arthur James Balfour am 2. November 1917 erfolgte in den Monaten des 1. Weltkrieges, als britische Truppen im Gebiet Palästina beträchtliche militärische Erfolge erzielten. In dieser Erklärung erklärt sich Grossbritannien einverstanden mit dem 1897 festgelegten Ziel des ersten Zionistenkongresses in Basel, eine ‚nationale Heimstätte‘ des jüdischen Volkes zu errichten. Dabei sollten die Rechte bestehender nicht-jüdischer Gemeinschaften gewahrt bleiben.

Die Wahrung der Rechte nicht-jüdischer Gemeinschaften steht in Zusammenhang mit der Bevölkerungszusammensetzung zu dieser Zeit; dazu zwei Quellen:

<In 1914 Palestine had a population of 657'000 Muslim Arabs, 81'000 Christian Arabs, and 59'000 Jews>[2] Die britische Regierung, welche nach dem 1. Weltkrieg das Gebiet als Mandat verwaltete, bestätigt diese Zahlenverhältnisse. Sie geht von gesamthaft 700'000 Personen aus, <Four fiths of the he whole population are Moslems... Some 77'000 of the population are Christians... The Jewish element of the population numbers 76'000. Almost all have entered Palestine during the last 40 years.>[3]

Zionismus

Herr X schreibt, die Vertreter des jüdischen Volkes seien im Beitrag ‚o minös als Zionisten‘ bezeichnet worden. Die Tagesschau kann diese Sicht auf das Wort Zionismus nicht teilen. Am ersten Zionistenkongress, der Ende August 1897 in Basel stattfand, wurde ein Programm verabschiedet. Gemäss Protokoll strebt <der Zionismus die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden an, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen> an.

Die Abgesandten in Basel gründeten die World Zionist Organisation WZO; diese Organisation führte bis zum 2. Weltkrieg regelmässige Kongresse durch. Auch der britische Aussenminister Balfour verwendete in seiner Erklärung den Begriff Zionist:

<I have much pleasure in conveying to you, on behalf of His Majesty's Government, the following declaration of sympathy with Jewish Zionist aspirations which has been submitted to, and approved by, the Cabinet.>

Die Tagesschau kann in den Begriffen Zionismus oder Zionist daher keine ominöse oder abwertende Wortwahl erkennen.

Stossrichtung des Beitrages

Der Beitrag verfolgt zwei Ziele: Einerseits sollte der Inhalt der Deklaration dargestellt werden, wie es dazu kam, und welche historischen Implikationen sie hatte. Andererseits wurde berichtet, wie Akteure die Unterzeichnung 100 Jahre danach am Jubiläumstag beurteilen. Dies geschieht in der Person von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, der eigens zu diesem Anlass nach London gereist ist und der britischen Premierministerin Theresa May explizit seinen Dank ausspricht. Als zweiter kommt der Historiker Tom Segev zu Wort, der den Bogen von der Balfour-Deklaration zur Gründung des Staates Israel und zur heutigen politischen Situation schlägt.

Ein Tagesschau-Beitrag kann nicht die ganze mehrere tausendjährige, sehr wechselvolle Geschichte dieses Landes darstellen – von den Kanaanitischen Stadtstaaten über die Herrschaft Ägyptens, die Wanderungsbewegungen semitischer Völker, die Errichtung des israelitischen Königreiches, die Perser- und Römerherrschaft, die Christianisierung durch Byzanz und die Integration ins Osmanische Reich. Allein diese Aufzählung zeigt, wie wechselhaft und umstritten das Gebiet am östlichen Ufer des Mittelmeeres im Lauf der Jahrhunderte immer war.

Sichtweise Israels

Herr X vermisst im Beitrag die Sichtweise des jüdischen Volkes. Die Tagesschau kann diese Ansicht nicht teilen.

Die aktuelle Position der israelischen Regierung kommt im Beitrag sehr wohl zum Ausdruck: Die Deklaration ist ein wichtiges Dokument im Hinblick auf die spätere Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 (Anmoderation). Diesen Zusammenhang bestätigt auch der Historiker Tom Segev.

Benjamin Netanjahu spricht von ‚einem wichtigen historischen Tag‘, den man in Würde feiern solle. Mehrmals wird die Dankbarkeit Israels gegenüber Grossbritannien erwähnt. Benjamin Netanjahu ist zudem der einzige aktive Politiker, der im Beitrag im Original-Ton zu Wort kommt. Auf der Sequenz mit Benjamin Netanjahu ist von einem ‚Meilenstein auf dem Weg zum jüdischen Staat‘ die Rede.

Der Beanstander schreibt vom hebräischen Volk, den Juden, als den ‚eigentlich Betroffenen‘. Von einer derart weitreichenden Erklärung als Unterstützung für eine zukünftige Staatenbildung war die ganze Bevölkerung in Palästina betroffen. Und sie ist noch heute betroffen, wie der ungelöste Nahost-Konflikt zeigt.

Motive für Balfour-Erklärung

Antony Lerman, der ehemalige Direktor des Instituts für Jewish Policy Research in London, hat in der Zeitschrift Tachles vom 1. September 2017 unter dem Titel ‚Ein fernes Heim für missliebige Fremde‘ einen längeren Artikel zu den politischen Hintergründen der Balfour-Erklärung publiziert.[4] Er erwähnt etwa die wachsende antijüdische Stimmung in Grossbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Folge des Zustroms armer Juden aus dem Zarenreich. Er verweist sogar auf ein Gesetz, den ‚Aliens Act‘ im Jahre 1905, der spezifisch gegen Juden gerichtet war; Premierminister war damals Arthur James Balfour. Neben diesen innenpolitischen Überlegungen in Grossbritannien spielten im dritten Kriegsjahr 1917 auch geopolitische Überlegungen eine grosse Rolle. Dabei ging es auch um den Versuch, die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt auf der Seite der Alliierten zu bewegen. Man glaubte in Grossbritannien an den Einfluss jüdischer Kreise auf die amerikanische Politik.

Im Artikel ‘The Balfour Declaration And its Consequences’ [5] hält Avi Shlaim, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford und einer der führenden Experten zum arabisch-israelischen Konflikt, fest: <It was also thought that a Declaration favorable to the ideals of Zionism was likely to enlist the support of the Jews of America and Russia for the war effort against Germany.>

Tom Segev, mehrfach ausgezeichneter Historiker und Journalist, kommt im Buch ‚Es war einmal Palästina‘ zum Schluss: <Durch die Parteinahme für die zionistische Bewegung glaubten die Briten, die Unterstützung eines starken und einflussreichen Verbündeten zu gewinnen. Dahinter steckte die Vorstellung, dass die Juden den Lauf der Geschichte lenkten – eine Vorstellung, in der sich auf einzigartige Weise klassische antisemitische Vorurteile mit romantischer Verehrung des Heiligen Landes und seines Volkes vermischten.>

Die Erläuterungen der Tagesschau zu den Motiven von Aussenminister Balfour sind durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt. Sie sind Teil einer kritischen Geschichtsforschung, die sich nicht auf die Oberfläche konzentriert, sondern in der Tiefe nach Motiven sucht. Sie kann daher kaum als ‚inkslastige Geschichtsschreibung‘ disqualifiziert werden.

Fazit

Die Tagesschau hat sachgerecht über die Balfour-Erklärung von 1917 berichtet. Sie hat dieses Ereignis in den geschichtlichen Zusammenhang (Meilenstein im Hinblick auf die Gründung des Staates Israel) gestellt. Sie hat die israelische Sicht sowohl im Text wie im O-Ton Benjamin Netanjahu ausführlich dargestellt. Die Tagesschau bittet Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.“

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Die „Tagesschau“ ist eine aktuelle Sendung, die einen Überblick über die Hauptereignisse des Tages aus schweizerischer Sicht gibt. Das heißt: Sie enthält die wichtigsten Ereignisse aus dem Inland und aus dem Ausland vor allem politischer, wirtschaftlicher, sportlicher und allenfalls kultureller und wissenschaftlicher Natur. Am 2. November 2017 stellte die „Tagesschau“ fünf Ereignisse in den Vordergrund: Erstens den Steuerreform-Plan der Republikaner in den USA, zweitens die Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen britische Parlamentarier, drittens den spanischen Haftbefehl gegen den katalanischen Regierungschef, viertens die Schliessung der Produktionsstätte in Thun des Solarzulieferers Meyer Burger und fünftens die Vorstöße von Schweizer Großbanken nach Asien. Danach folgten ein Nachrichtenblock Inland, ein weiterer Schweiz-Beitrag, der Beitrag über den 100. Jahrestag der Balfour-Deklaration, ein Nachrichtenblock Sport und ein Wissenschafts-Beitrag. Dies zeigt, dass ein Beitrag wie der zu einem historischen Jubiläum Beschränkungen unterliegt: Er muss kurz sein, er muss die Gründe für das damalige Ereignis darlegen und er muss einen Bezug zur Aktualität herstellen.

Wie hat die „Tagesschau“ das Problem gelöst? Sie zeigte das damalige Dokument, die Deklaration des britischen Außenministers Arthur James Balfour (1848-1930). Sie dokumentierte den Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bei der britischen Premierministerin Theresa May in London aus Anlass des Jubiläums und gab seinen Kommentar wieder. Und sie erteilte dem israelischen Historiker Tom Segev das Wort, der deutlich machte, dass es den Staat Israel ohne Balfour-Deklaration nicht gäbe, dass die Deklaration und ihr Vollzug aber auch den israelisch-palästinensischen Konflikt heraufbeschworen habe. Ich sehe nicht, wie Sie behaupten können, im Beitrag seien nur die britische und die palästinensische Sicht zur Darstellung gekommen, nicht aber die israelische. In Wirklichkeit kamen der aktuelle israelische Standpunkt zum Ausdruck und der historische britische. Was die Briten und die Palästinenser heute denken, blieb außen vor.

Die historische Analyse der Balfour-Deklaration war korrekt. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die Erklärung im Jahr 1917 abgegeben wurde, also zu einem Zeitpunkt, als noch der Erste Weltkrieg tobte, 20 Jahre nach der Gründung der Zionistischen Bewegung durch Theodor Herzl, die die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina anstrebte, und 16 Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, die die Verfolgung und Vernichtung der Juden betrieben. Die Briten hatten nichts anderes als ihre eigenen Interessen im Auge. Und diese bestanden darin, das deutsche Kaiserreich militärisch zu besiegen. Balfour wollte, dass die USA ihr Kriegsengagement auf der Seite der Alliierten ausweiten, und er hoffte, dass die amerikanischen Juden dank der Erklärung entsprechend Druck machen. Denn da das Osmanische Reich, zu dem Palästina gehörte, ein Verbündeter Deutschlands war, war klar, dass nach einer Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns auch das Osmanische Reich zu den Besiegten gehören würde und folglich sein Territorium neu geordnet würde. Zum Zeitpunkt der Balfour-Erklärung hatten ja die Briten Palästina bereits besetzt. Nachdem die USA im April 1917 Deutschland den Krieg erklärt hatten, erklärten sie im Dezember 1917, also nach der Balfour-Deklaration, auch Österreich-Ungarn den Krieg. Den ersten Zweck hatte also die Deklaration erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es befremdlich, dass Sie diese Zusammenhänge als „eigentümliche Theorie“ bezeichnen. Und es ist nicht nachzuvollziehen, wie Sie dazu kommen, das alles „revisionistischer und linkslastiger Geschichtsschreibung“ zuzuordnen.

Alle anderen Punkte hat Herr Lustenberger in der Stellungnahme der „Tagesschau“ ausführlich und einleuchtend begründet. Ich schließe mich seinen Ausführungen an. Und ich muss Ihrer Beanstandung eine Absage erteilen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] https://www.srf.ch/sendungen/tagesschau/usa-steuerreform-gb-sex-skandal-meyer-burger-schliesst

[2] The Population of Palestine: Population History and Statistics of the late Ottoman Period and the Mandate, Justin McCarthy, Columbia University Press, 1990

[3] An Interim Report on the Civil Administration of Palestine

[4] Siehe Beilage

[5] in Wm. Roger Louis, ed., Yet More Adventures with Britannia: Personalities, Politics and Culture in Britain, London, I. B. Tauris, 2005, pp. 251-270.

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