«Ich sei ein Idiot? Das lässt mich kalt»

Sascha Ruefers Stimme ist dieser Tage im ganzen Land zu hören. Der Fussballkommentator sprach im Tages-Anzeiger über die Anforderungen an einen modernen Livebericht, die Anpassung an die Volksmentalität – und erklärt, weshalb ihm jüngst ein übler Lapsus unterlief.

Philippe Zweifel (Tages-Anzeiger): «Die Schweiz gewinnt gegen Brasilien 1:1», lautete Ihr Kommentar zum Spiel. Entstehen solche Sprüche spontan?
Sascha Ruefer: Das kam spontan, vielleicht wäre mir auch bei einem Sieg ein treffender Spruch eingefallen. Aber originell zu sein, ist kein Muss.

Wie stehen Sie zu vor dem Spiel ausgedachten Sprüchen wie «Diese Niederlage ist bitter wie ein Glas Absinth»?
Ein Kommentator ist kein Komiker. Ich habe das bitter lernen müssen mit meinen vorbereiteten Sprüchen von wegen «Corega-Tabs-Fraktion» und «Spaghetti-Hochburg». Das waren Fehler. Wie es überhaupt ein Fehler ist, sich als Kommentator in den Vordergrund stellen zu wollen.

Wieso wurden Sie denn Livekommentator?
Ich war als Knabe fasziniert vom Kommentar des Radioreporters Chasper Stupan, dessen Reportagen ich unter der Bettdecke heimlich übers Transistorradio mitverfolgte. Ausserdem bin ich jemand, dem es egal ist, sich als Person zu exponieren. Nicht um dadurch aufzufallen, sondern um zu bleiben, wie ich bin. Auch im Journalismus braucht es Paul-Accola-Typen, solche mit Ecken und Kanten. Eine gewisse Portion angeborener Narzissmus ist natürlich auch im Spiel.

Bitte ordnen Sie diese Eigenschaften eines guten Livekommentars nach Wichtigkeit: Sprachkunst, Fachwissen, Begeisterungsfähigkeit.
Zuerst kommt die Fachkompetenz, dann gleichwertig Begeisterungsfähigkeit und Sprachkunst.

Wie kommt ein Kommentator zu Fachkompetenz – muss er selber mal auf dem Spielfeld gestanden haben?
Nein, die Herausforderung für den Kommentator ist eher vergleichbar mit jener des Trainers: eine Mischung aus Aneignung, Erfahrung und Learning by Doing.

Ist Fussball-Livekommentar eher Journalismus oder Entertainment?
Unterhaltsamer Journalismus.

Zum Teil unerträglich unterhaltend. Es wird viel mehr geredet und gewitzelt als vor 30 Jahren.
Wir SRF-Kommentatoren hatten kürzlich ein Briefing mit einem deutschen Medienprofessor. Dessen Analyse lautete anders: Früher sprachen deutsche Kommentatoren während 60 bis 70 Prozent des Spiels. Heute sind es unter 50 Prozent.

Haben Sie ein Vorbild?
Einen konkreten Kommentator gibt es nicht. Gewisse Eigenschaften von Kommentatoren gefallen mir, und ich vergleiche meinen Stil ab und zu mit ihnen. Der Wortwitz von Beni Thurnheer etwa oder der nüchterne Stil von Marcel Reif. Und an Wolff Fuss von Sky gefällt mir, dass er das Spiel sehr gut liest und mit illustren Beschreibungen glänzt.

Die Livesituation, das Absturzrisiko, verleiht der Aufgabe sicher einen zusätzlichen Kick. Wie bereiten Sie sich auf ein Spiel vor?
Früher studierten Kommentatoren vor allem Palmarès und Biografie von Spieler 1 bis 23 und riefen dieses Wissen während des Matchs ab. Heute sind Statistiken wichtiger. Nicht nur das Cornerverhältnis oder der Ballbesitz, sondern Zahlen über einzelne Spieler. Welche Positionen hatte er in den letzten Monaten und Jahren inne? Wie viel läuft er? Passquoten? Ein moderner Kommentator stellt aus solchen Daten Zusammenhänge her, die die Leistung und die Strategie eines Teams erklären. Wieso etwa wird Manuel Akanji von Anfang an unter Druck gesetzt? Und wenn man dank Statistiken weiss, dass Ronaldo immer wieder in leere Räume läuft und so Gegner bindet, ist dies eine wertvolle Information – natürlich auch für den Trainerstab.

Diese Datenflut ist immens, zumal auch während eines Spiels stets gezählt und gerechnet wird. Wie behalten Sie da live den Überblick?
Ich arbeite bei internationalen Partien seit wenigen Jahren mit einem Assistenten zusammen, der mich während des Spiels mit der Auswertung von Daten versorgt. Ausserdem liefert er eigene Beobachtungen zum Spiel, aber auch zu meinem Kommentar, zum Beispiel wenn ich Wortwiederholungen mache. Der Assistent sitzt zu Hause vor dem Fernseher, ausgestattet mit zwei PC, checkt Social Media, Statistiken, Kommentar und Liveticker. Wir kommunizieren per Messenger. Ich habe ausserdem einen Schiedsrichterassistenten, der mir bei strittigen Szenen auch per Messenger seine Meinung mitteilt.

Ist das Ihr eigenes Team, oder helfen die auch Ihren Kollegen?
Nein, das ist meine Aufstellung. Jeder macht das anders.

Welchen Einfluss haben Social Media auf den Kommentar?
Die sozialen Medien verändern unsere Arbeit, weil sich dort enormes Wissen bündelt, gerade in der Datenanalyse. Aber auch der Livekommentar wird dadurch beeinflusst. Viele Zuschauer haben einen Second Screen zu meinem Kommentar, etwa einen Liveticker. Mit solchen zusätzlichen Quellen müssen Sie mithalten können! Ein Beispiel: Cristiano Ronaldo kam einmal mit einem Kopfpflaster aus der Halbzeit zurück. Wir Kommentatoren rätselten – bis ein Physio auf Instagram schrieb, dass er sich in der Kabine den Kopf gestossen hatte.

Während des WM-Spiels Portugal gegen Spanien verwechselten Sie die Mannschaften. War das Multitasking daran schuld?
Das war natürlich ärgerlich. Die Teams wechselten vor dem Kick-off die Seiten. Ich war in den ersten Momenten des Spiels mit Umsortieren beschäftigt, da passierte mir die Verwechslung. Es war wie der erste Fehlpass bei der ersten Ballberührung. Ärgerlich, aber weil es sonst okay war, verkraftbar. Niemand ist vor Fehlern gefeit.

Sind Ihre Emotionen immer echt?
Ein Kommentator ist kein Schauspieler, ich bin es jedenfalls nicht. Ich kann nicht minutenlang «Gooool» schreien, wenn ich nicht wirklich euphorisiert bin.

Senderechte sind teuer. Wird vom Kommentator erwartet, dass er einen Grottenkick schönredet?
Muss man ausflippen, wenn Saudiarabien ein Tor schiesst? Nein. Wenn Mohammed al-Sahlawi ein Fallrückzieher-Tor aus 30 Metern schiesst? Ja! Ich kann nur für die SRF-Kommentatoren sprechen, und wir haben keine Jubelweisung. Ich bezweifle, dass eine solche Devise langfristig Erfolg hat. Der Zuschauer ist nicht dumm. Er hat das Bild des Grottenkicks vor sich und würde bei einem konträren Kommentar denken: Ist der Ruefer nicht ganz dicht?

Sollte sich ein Kommentator bei strittigen Situationen festlegen?
Das ist so eine Sache. Die Leute erwarten es, zu Recht. Aber wenn der Kommentator dann zweimal danebenliegt, gilt er als unfähig. Ich warte, wenn ich nicht sicher bin, jeweils auf die Zeitlupeneinstellungen. So machts dank des Videobeweises nun ja auch der Schiedsrichter.

Soll ein Kommentator die jeweilige Volksmentalität spiegeln – oder wäre bei SRF auch ein südländisch angehauchter «Goooooool»-Ruf denkbar?
Wenn es dem Naturell des Moderators entspricht – wieso nicht?

Ich denke, die Leute wollen einen der Ihrigen hinter dem Mikrofon hören.
Wahrscheinlich haben Sie recht.

Manche Schweizer WM-Bars zeigen die Spiele auf den deutschen Sendern. Wieso?
Weil sie in der TV-Oase Schweiz die Möglichkeit dazu haben. Und trotz anderer Angebote – die grosse Mehrheit der Schweizer guckt nach wie vor bei uns. Klar, die eigenen Kommentatoren geben immer Anlass zu Diskussionen. Die deutschen Kommentatoren werden in ihrem Land auch permanent kritisiert und können es nicht allen recht machen.

Eigentlich kommentieren Sie in einer Fremdsprache. Wäre Ihnen die Mundart lieber?
Nein. Das würde wegen der Dialektvielfalt nicht funktionieren, zumal in der Super League nicht.

In England setzt man auf Co-Kommentatoren. Was halten Sie davon?
Ich sehe die Vorteile des Co-Kommentatoren-Systems. Zwei Augenpaare sehen mehr als eines. Ausserdem findet die Analyse so bereits während des Spiels statt, nicht erst in der Pause. Doch die Pausenanalyse ist bei SRF erfolgreich, die Leute schalten während dieser nicht um.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu den Spielern der Nationalmannschaft?
Als TV-Kommentator muss ich glücklicherweise keine Insidergeschichten über das Privatleben der Spieler liefern.

Aber Sie müssen die Spieler benoten.
Ich versuche genügend Nähe zuzulassen, um Softfaktoren im Teamgefüge erkennen und einschätzen zu können. Wieso es etwa gewisse Spieler nicht miteinander können. Denn natürlich hat das private Verhältnis der Spieler auch Einfluss auf das Zusammenspiel auf dem Platz.

Auch Sie selbst werden benotet. Welche Kritik nehmen Sie ernst?
Wie ich bei den Zuschauern ankam, lässt sich leider schlecht messen, ausser es gäbe eine Flut von Protestbriefen an SRF. Aber die Kritik meiner Vorgesetzten ist mir wichtig. Sowie die Meinung von Experten, zum Beispiel Schiedsrichtern oder Trainern. Aber wenn Hans L. aus H. oder K. mir mitteilt, dass ich der grösste Idiot auf Gottes Erde bin, dann lässt mich das ziemlich kalt.

Wie viel Vorbereitung geht in die Aussprache der Spielernamen?
Mir ist die richtige Aussprache sehr wichtig, weil sie eine Geste des Respekts vor dem Gegner ist. Vor dem Spiel besuche ich den Kommentator solcher Teams und frage ihn nach der korrekten Aussprache. Diese notiere ich mir phonetisch.

Wieso hörte man dann immer wieder «Figo» statt «Fischu»?
Man muss manchmal zwischen korrekter Aussprache und der verbreiteten Aussprache abwägen. Xherdan Shaqiri wird eigentlich nicht «Schakiri» ausgesprochen.

Sondern?
«Schatschiri».

Dieser Artikel erschien am 19. Juni 2018 im Tages-Anzeiger

Text: Tages-Anzeiger/Philippe Zweifel

Bild: SRF/Oscar Alessio

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