«Erst eine Erzählung lässt den Menschen verstehen»

Mit Posaunen und Trompeten ist zum Jahresbeginn die «Republik» gestartet. Das werbefreie Online-Magazin verblüfft seither mit hervorragend erzählten Geschichten und experimentiert mit innovativen Erzählformen. Der grosse Test kommt im Januar. Journalistikprofessor Vinzenz Wyss sprach in der Halbzeit mit Mitbegründer Constantin Seibt über den (Wahn-)sinn hinter der Idee der Rothaus-Redaktion im Zürcher Kreis 4.

Vinzenz Wyss: Besonders auffallende Journalistinnen und Journalisten verlassen ihre Arbeitgeber und stocken das knapp 40-köpfige Team der «Republik» auf. Was motiviert sie?
Constantin Seibt: Wir sind der einzige Laden mit einer klaren Vision für die Zukunft – so unperfekt wir auch noch sind. Wir versuchen sehr energisch, ein neues Modell zu entwickeln, wir wollen aus dem Nichts eine Institution bauen. Das ist eine Aufgabe, die Menschen mit Wahnsinn und Temperament gefällt. Wer zur «Republik» wechselt, verlässt in der Regel einen guten Arbeitgeber und stürzt sich in ein riskantes Abenteuer. Es ist ein Abenteuer, das sich nicht immer angenehm anfühlt, weil die Strukturen noch nicht fertig gebaut sind. Weil wir aber einen genauen Finanzplan haben, ist das Risiko nicht superdramatisch. Zwei Jahre sollten wir mindestens durchhalten – was immer passiert. Ausser wenn bei der Erneuerung im Januar die Abonnenten in Scharen von Bord gehen. Dann würde ich das Land verlassen müssen.

Damit es nicht so weit kommt, müsste am 14. Januar ein Grossteil eurer bisherigen 22 000 «Verleger» das erste Jahresabo erneuern.
Dann ist der grosse Test, ja. Der Erfahrungswert liegt bei etwa fünfzig Prozent Erneuerer. Wir werden mit einer Herbstoffensive für 66 Prozent kämpfen. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Blutig wird es bei unter vierzig Prozent.

Was ist, wenn das Ganze scheitert?
Scheitern ist schlicht keine Option. Diese Chance hat man nur einmal im Leben. Man kommt bei einer Unternehmensgründung an die Grenzen seines Könnens, weit hinaus in das Reich seiner Unfähigkeit. Als Journalist hat man quasi als Anarchist gelebt: Man hat null Erfahrung in Management, Marketing oder Fundraising. Und im Zweifel erst einmal Sand in den Motor der Routine geworfen. Und dann stellst du fest, was für eine Kunst es ist, vernünftige Routinen aufzubauen. Im Nachhinein leiste ich einigen meiner Chefs Abbitte. Nun selbst der Verantwortliche für den Motor zu sein, ist eine verdiente Strafe. Hart, aber gut fürs Karma.

«Im Nachhinein leiste ich einigen meiner Chefs Abbitte. Nun selbst der Verantwortliche für den Motor zu sein, ist eine verdiente Strafe. Hart, aber gut fürs Karma.»

Vor was fliehen denn die Journalisten, die zur «Republik» wechseln?
Die grossen Schweizer Verlage verlassen die Publizistik – zumindest als Geschäftsmodell. Sie werden zu Internet-Handelshäusern – und haben keinen langfristigen Plan mehr für den Journalismus – ausser die Kosten schneller zu senken, als die Einnahmen fallen.

Von den neusten Zusammenlegungen der Redaktionen versprechen sich die Verleger aber auch einen Qualitätsschub im Überregionalen.
Es ist ökonomisch sicher das Richtige, alles zusammenzulegen. Man gewinnt so durchaus Schlagkraft. Das passiert aber, ohne dass wirklich eine klare publizistische Richtung zu sehen wäre, ohne dass eine Handschrift da ist. Dabei geht die Identität flöten und die Zukunftsentwicklung besteht aus irgendwelchen Gadgets wie Roboterjournalismus, Data-Mining und weiteren Fusions- und Abbau-Ideen. Man antwortet auf die Herausforderungen des 21. mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts: mit industriellem Journalismus. Und baut Abfüllstationen. Ich sehe das Problem im Gesamtsystem. Wir hätten die Mühe nicht auf uns genommen, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass das Mediensystem ein neues Modell braucht.

Woran krankt das System denn?
Die Verleger hatten lange eine Gelddruckmaschine, die Journalisten eine garantierte Kanzel. Journalismus war ein Jahrhundert lang eine geschützte, nationale Branche – inklusive Gewinnen, Macht, Prestige. Kein Wunder, arbeiteten dort nicht die erfinderischsten Köpfe. Und kein Wunder, haben die Journalisten grösste Schwierigkeiten mit Veränderungen. Als Journalist war ich gewöhnt, ein Problem zu dramatisieren. Dass ich Teil des Problems sein könnte, war verblüffend neu für mich. Und noch neuer, dass ich ein Teil der Lösung sein könnte.

«Dass ich Teil des Problems sein könnte, war verblüffend neu für mich. Und noch neuer, dass ich ein Teil der Lösung sein könnte.»

Was ist nun die Antwort der «Republik» auf die neuen Bedingungen?
Unser Job ist ja nicht, die Probleme des gesamten Systems zu lösen. Selbst im allerbesten Fall wird die «Republik» nie eine Grundversorgung bieten können: Die ist zu komplex und zu teuer. Da bleibt das SRF-Modell unverzichtbar. Unser Ziel ist bescheidener: ein Medium, das für die Öffentlichkeit sinnvoll ist und seiner Leserschaft Spass macht. Und das ist schwer genug: Auf dem winzigen Schweizer Markt ein Medium zu verankern, das überlebt. Und gross genug ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Dabei ist unsere These, dass im heutigen Journalismus die Ware nicht Nachrichten sind, sondern Vertrauen. Dazu braucht es: Aufrichtigkeit, Mut und Handwerk. Du musst den Leuten zuhören, eine klare Stimme haben, Fehler zugeben, verlässliche Qualität bieten und von Zeit zu Zeit etwas wirklich Erstaunliches tun. Und dann sind wir auch ein wenig im Ablasshandel tätig. Das heisst, wer bei uns abonniert, kauft sich auch das Gefühl, etwas für die Welt getan zu haben.

«Unsere These ist, dass im heutigen Journalismus die Ware nicht Nachrichten sind, sondern Vertrauen. Dazu braucht es: Aufrichtigkeit, Mut und Handwerk.»

Worin besteht das Versprechen?
Wir haben ehrgeizige Ziele. Wir arbeiten zum Beispiel hart daran, weniger zu bieten als die grossen Medien: möglichst weniger als drei Artikel pro Tag. Unser ehrgeizigstes Ziel als Nischenmedium ist sicher, den Mainstream wieder herzustellen – durch offene Debatten mit Präzision und Höflichkeit. Denn der Mainstream ist entscheidend: als Bühne für die politische Öffentlichkeit. Je besser der Mainstream, desto besser das Land.

Aber manche Medienkritiker wettern ja gerade gegen diesen so genannten Medien-Mainstream.
Dabei ist der Mainstream das Gemeinsame der Menschen, da, wo man sich versteht, wo man einen «Common Ground» hat. Das Verbindende ist heute das Interessantere als das Trennende. Das Aufbauende ist publizistisch die schwierigere Aufgabe als das Empören oder Niederreissen. Wir sagen ja nicht, dass wir die Wahrheit gepachtet haben. Aber wir versuchen, mit unserem Handwerk der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen. Dies gelingt uns nicht immer – und auch dann nur höchstens zu 80 Prozent. Und gerade weil das eigene Scheitern und die eigene Blindheit zu diesem Beruf gehören, ist es wichtig, dass wir Journalisten immer auch unser Handwerk erklären.

«Das Aufbauende ist publizistisch die schwierigere Aufgabe als das Empören oder Niederreissen.»

Die «Republik» ist für Medienunternehmen atypisch als Genossenschaft plus AG organisiert. Ist das auch eine Antwort auf die neuen Herausforderungen?
Ja, die zentrale Antwort. Wir haben lange darüber nachgedacht, was das richtige Verhältnis zur Leserschaft ist. Und kamen darauf: Sie ist unverzichtbar. Deshalb machen wir auch keine Werbung, denn so haben wir nur einen Kunden, ein Ziel – und damit auch nur einen Chef. Wir haben sie deshalb auch nicht als Leser, sondern als Verleger angesprochen. Das hat ausserdem den Vorteil, dass man mit ihnen viel direkter sprechen kann.

Die «Republik» setzt stark auf Erzähl­journalismus. Ist «Storytelling» das Allheil­mittel gegen den Systemfehler?
Wenn man es «Storytelling» nennt, hat man es nicht begriffen. Es klappt nie, wenn man sagt, jetzt bringen wir mal die Fakten als Erzählung. Vielmehr geht es darum, die Erzählung in der Wirklichkeit zu suchen. Und zu finden. Dabei sind die Fakten nur die Zutaten. Diese müssen zwar rein sein, man darf sie weder verbiegen noch übergehen – aber der Kuchen sind sie nicht. Denn erst eine Erzählung lässt den Menschen verstehen. Die Erzählungen bleiben, die Fakten verschwinden.

Was macht denn eine gelungene journalistische Erzählung aus?
Indem ich beispielsweise in dem Ton über komplexe Themen wie Bankenkrise oder Derivate schreibe, als wäre mein erster Satz: «Es war eine dunkle, stürmische Nacht, als ...» Und man muss einen klaren Weg durch den Faktenwust finden. Denn für eine wirklich gute Geschichte braucht es auch unglaublich viele, präzis gecheckte Details. Zum Beispiel bei unserer viel beachteten Story zum Bündner Baukartell haben unsere Leute über zwei Monate lang recherchiert wie die Irren. Alle diejenigen, die dann sagten, dass da nichts Neues drin war, täuschen sich. Die Eckdaten des Skandals waren zwar seit Jahren bekannt. Aber erst die präzise Erzählung, wie genau die Deals liefen, liess die Leute plötzlich verstehen. Plus der Zusammenhang. Die Leser bekamen die Geschichte vorher nur in Bruchstücken.

Ist guter Erzähljournalismus auch eine Frage der journalistischen Haltung?
Ein guter Erzähljournalist recherchiert zum einen gegen aussen, in der Wirklichkeit, was die Fakten sind. Aber recherchiert auch gegen innen, ins eigene Herz, was ihm die Fakten bedeuten. Was hat ihn wirklich verblüfft, interessiert, berührt? Und was nicht? Ein Text ist dann stark, wenn man nur das schreibt, was einen wirklich interessiert. Und alles andere weglässt. Schreiben ist in einem Wort: Aufrichtigkeit.

«Ein guter Erzähljournalist recherchiert zum einen gegen aussen, in der Wirklichkeit, was die Fakten sind. Aber recherchiert auch gegen innen, ins eigene Herz, was ihm die Fakten bedeuten.»

Die «Republik» fällt durch ihre hervorragend geschriebenen Erzählungen auf, zugleich wird Kritik wegen der monströsen Länge laut. In eurem Jargon: zu viele Wale, zu wenig twitterfähige Ameisen 2.0. Stehen Kürze und Erzählung in einem Widerspruch?
Nein, tun sie nicht. Grundsätzlich gilt, dass eine Geschichte jede Länge haben kann, so lange sie interessant ist. Wir haben ja selbst vor dem Start nicht nur das Panorama und das Steak versprochen, sondern auch das Konzentrat und das Dessert. Der Grund, warum die «Republik» mit Artikeln epischer Länge begann, war in einem Wort: Angst, nackte, magendrehende Angst. Wir haben dann hart um Kürze ringen müssen. Zuerst mit Konzentratsformaten wie «Briefing aus Bern». Dann mit der Einführung von «Ameisen», einer Produktelinie, die kurz, subjektiv, dessertfähig ist.

«Grundsätzlich gilt, dass eine Geschichte jede Länge haben kann, so lange sie interessant ist.»

Wie versucht die «Republik», dem veränderten Nutzungsverhalten des Publikums im Netz zu begegnen?
Unser Marktplatz ist – leider, aber dennoch – Facebook und Co. Social Media sind die Vertriebskanäle. Die «Republik»-Seite hat zwar eine harte Paywall, die einzelnen Artikel sind jedoch unendlich teilbar. Das heisst, unser Kernprodukt ist zugleich auch das wichtigste Werbemittel. Unsere besten Artikel, die, die viel gehen, sind auch das Marketing. Damit haben wir den Anreiz, dass überzeugende journalistische Arbeit auch der Motor für den Verkauf ist.

Unendlich teilbar heisst aber letztlich auch gratis.
Natürlich. Nur: Wir haben ja auch unseren Verlegern versprochen, dass wir in der öffentlichen Debatte einen Unterschied machen. Und nicht, dass wir ihnen pro Jahr exklusiv eine bestimmte Anzahl von Artikeln liefern. Unsere Geldgeber interessieren sich dafür, dass der Job des Journalismus gemacht wird – weil das ein Job ist, den jede Gesellschaft braucht. Sie wollen darüber hinaus gelegentlich stolz sein, Verleger der «Republik» zu sein. Wenn wir es schaffen, jemanden im Jahr zehn Mal stolz zu machen, wird er oder sie uns erneuern.

Die «Republik»
Bereits vor mehr als sieben Jahren begannen Constantin Seibt (früher Studentenzeitung ZS, die Wochenzeitung WOZ und «Tages-Anzeiger») und Christof Moser (früher «Facts», «Weltwoche», «SonntagsBlick» und «Schweiz am Sonntag») aufgrund ihrer Analyse eines «kaputten Mediensystems» damit, über das Projekt « Republik » nachzudenken. Am 14. Januar 2018 ging dann das mit viel Pathos angekündigte Onlinemagazin an den Start. In ihrem Manifest betonen die Herausgeber die Bedeutung des Journalismus für die Demokratie und dessen Aufgabe, «den Bürgerinnen und Bürgern die Fakten und Zusammenhänge zu liefern, pur, unabhängig, nach bestem Gewissen, ohne Furcht vor niemandem als der Langweile». Das Magazin beschäftigt mittlerweile knapp 40 Personen, darunter überdurchschnittlich viele Datenjournalistinnen und -journalisten. Die Redaktion experimentiert mit neuen Erzählformen von der «Ameise» über den Videotalk bis hin zum Podcast und pflegt intensiv den Dialog mit der Leserschaft. Finanziert wird das Magazin über das Abonnementmodell (CHF 240/Jahr).

Text: Vinzenz Wyss

Bild: Mirco Rederlechner

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