«La pancia ist bei unserer Arbeit wichtig»
Der Publikumsrat der italienischsprechenden Schweiz der SRG-Trägerschaft CORSI begleitet das Programm der RSI. Er stellt sich ganz in den Dienst der Öffentlichkeit.
Und dann ist die Sitzung plötzlich fertig. Manche stehen auf, strecken sich, können einfach nicht mehr, oder müssten schon längst beim Nachtessen mit ihren Familien sein, eine Verpflichtung, die im Südkanton an Wichtigkeit nicht zu unterschätzen ist.
«Heterogenität als zentrales Anliegen»
Andere bleiben noch am schweren Holztisch sitzen, beharren hitzig auf einem letzten Argument, versuchen ein letztes Mal an diesem Abend, das Verhältnis zwischen RSI und dem Publikumsrat der Italienisch sprechenden Schweiz in Worte zu giessen. Auch ohne Schlusspfiff scheint aber irgendwie allen klar zu sein, dass jetzt fertig ist. Auch der besonnenen Präsidentin Raffaella Adobati Bondolfi. Sie hatte die Sitzung dreieinhalb Stunden vorher eröffnet – und die lebhafte, auffallend engagierte Diskussion souverän vom Nachmittag in den Abend geleitet. Ihre Kolleginnen und Kollegen hatte sie dabei die ganze Zeit bei der Stange gehalten. Keine einfache Aufgabe: Das Gremium ist gewollt polyfon. «Unser zentrales Anliegen im Publikumsrat ist Heterogenität», sagt sie. Das mag nach einer Floskel tönen – ist es aber nicht. Denn das Tessin ist wohl der vielfältigste Kanton der Schweiz – gerade was die Bedürfnisse an das Service-public-Unternehmen RSI angeht. In den Tälern, den Valli, also zum Beispiel zuhinterst im Onsernone-Tal, haben Zuhörer und Zuschauerinnen ganz andere Bedürfnisse als etwa im städtischen Bellinzona. Im Sottoceneri spricht im Alltag kaum noch jemand Tessiner Dialekt. Nördlich von Biasca ist es hingegen noch ganz normal, sich am Grotto-Tisch in der Sprache der Mütter zu unterhalten.
«Unser zentrales Anliegen im Publikumsrat ist Heterogenität», Publikumsratspräsidentin Raffaella Adobati Bondolfi
Von Onsernone-Tal bis Misox
Hinzu kommt, dass sich der CORSI-Publikumsrat auch mit dem spezifischen Programm von RSI für den italienischsprachigen Teil von Graubünden – dem Grigioni italiano – befasst. Fürs Publikum etwa in Misox, Calancatal, Bergell und Puschlav. Und für jene Grigioni italiano , die sich im deutschsprachigen Raum der Schweiz niedergelassen haben. Und dann ist da noch die Tessiner Diaspora in der Deutschschweiz. Studenten, Ärztinnen und Beamte, die über den Gotthard ausgewandert sind, um zu arbeiten. Auch sie konsumieren Angebote von RSI – gerade sie wollen besonders gut darüber informiert sein, was in ihrem Heimatkanton läuft.
«All diese Bedürfnisse sind im Publikumsrat vertreten», sagt Präsidentin Raffaella Adobati Bondolfi, die selber mit ihrer Familie in Chur wohnt. «Wir haben Junge, Alte, Frauen, Männer, Katholiken, Menschen, die im Ausland aufgewachsen sind. Vielfalt ist Programm.» Jedes Mitglied habe sein eigenes Netzwerk, dessen Anregungen es ins Gremium reintrage.
Wichtiges Gremium
Für die italienischsprachige Schweiz nicht selbstverständlich: die starke Frauenpräsenz im Publikumsrat. Von den 17 Mitgliedern sind stets rund die Hälfte Frauen. Zum Beispiel Natalia Ferrara: Tessiner Anwältin, Grossrätin und Regionalleiterin des Schweizer Bankenpersonalverbands. Eine Frau, die immer und überall präsent ist im Kanton. Wenn es darauf ankommt, ist sie auch nach drei Stunden noch voll da und fasst die Debatte kurz in drei Merksätzen zusammen. Dass jemand wie sie Mitglied im Publikumsrat ist, zeigt, welchen Stellenwert das Gremium im Tessin hat.
Vom Volk fürs Volk
«Mich interessiert diese Arbeit, weil das, was wir im Fernsehen sehen und am Radio hören, bestimmt, wie wir die Welt sehen», sagt Ferrara. Die SRG und damit RSI gehören dem Volk. Es sei deshalb eine Verpflichtung, das Programm immer wieder gründlich unter die Lupe zu nehmen.
«Wir suchen immer nach neuen, unerwarteten Perspektiven, die man einnehmen kann», erklärt sie. «Unsere Debatten sind oft wild – aber am Schluss einigen wir uns immer auf eine gemeinsame Haltung.» Und jeder Bericht werde auf der eigenen Website publiziert. Zurückgespült in die Öffentlichkeit; so wolle man zur öffentlichen Debatte über die Qualität des medialen Service public beitragen. Vom Volk fürs Volk. «For us, by us» – wie ein amerikanischer Slogan sagt. Das sei eine Spezialität des Gremiums im Italienisch sprechenden Teil der Schweiz.
«Unsere Debatten sind oft wild – aber am Schluss einigen wir uns immer auf eine gemeinsame Haltung.» Natalia Ferrara, Publikumsrätin, Tessiner Anwältin, Grossrätin und Regionalleiterin des Schweizer Bankenpersonalverbands
Wissenschaft und Bauchgefühl
Die RSI hat zwei Fernseh- und drei Radiostationen. Zudem ein reichhaltiges Angebot im Internet. Umfang und Vielfalt des Sendeangebotes sind verwirrend. Wie kommen die Publikumsrats-Mitglieder in dieser Vielfalt überhaupt zu einer Fragestellung – und dann zu einer Analyse? «Wir unterscheiden zwischen zwei Arbeitsweisen», sagt Präsidentin Raffaella Adobati Bondolfi. «Eine, die aus dem Bauch heraus funktioniert – und eine strukturierte, eher wissenschaftliche.» La pancia, der Bauch, sei wichtig beim Medienkonsum, sagt Adobati Bondolfi. Manchmal gäbe es Hinweise aus der Bevölkerung, denen der Rat nachgehe. Und sie, wenn es nötig sei, RSI weiterleite. Manchmal würden die Mitglieder auch selber aktiv.
Im Laufe der dreistündigen Sitzung zeigt sich ein Beispiel. Im Entwurf für einen Promo-Clip entdecken die Ratsmitglieder eine derbe sexuelle Anspielung. Ein schlechtes Bauchgefühl macht sich breit. La pancia.
Kurze Zeit später kommt der Verantwortliche zu Besuch. Ob das gewollt sei, fragen sie ihn. Der RSI-Mann will den Clip nochmals überdenken, bevor er an die Öffentlichkeit gelangt. Problem gelöst, bevor es entstanden ist. Oft sind Analysen aber grossflächiger, detaillierter und – ja – analytischer. Hier kommt also weniger la pancia zum Einsatz, sondern vielmehr der Kopf.
Externe Experten
Subgruppen bilden sich und analysieren Sendegefässe. Sie ziehen Experten von aussen zu Rate. Wie kürzlich geschehen im Falle der Konsumentensendung «Patti chiari». Bei der Analyse der Sendung wirkten eine Konsumentenorganisation und der Kantonsarzt mit. «Es ist uns wichtig, die zentralen Player in unserer Gesellschaft mit ins Boot zu holen», sagt die Präsidentin. Mit den Experten macht sich der Publikumsrat daran, ein kritisches Profil der Sendung zu erstellen. An den monatlichen Sitzungen des Rats wird die Analyse abgeschlossen. Wenn der Bericht fertig ist, stehen alle Mitglieder dahinter. «Wir sprechen mit einer Stimme», sagt FDP-Grossrätin Natalia Ferrara.
Alles immer schneller
Das alles funktioniert tadellos. Doch es reicht nicht mehr. Denn die Medienwelt dreht sich immer schneller. Da sind Instagram, Snapchat und vor allem YouTube. Auch RSI wird herausgefordert. Und somit der Publikumsrat. «Wir müssen Wege finden, der Zukunft schneller zu begegnen», sagt Präsidentin Raffaella Adobati Bondolfi. Denn plötzlich ticken die Uhren auch im Tessin und Grigioni italiano schneller. Kürzer werden die Sitzungen des Publikumsrats deshalb auch künftig kaum werden.
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