Der Film im Ohr

Auch Blinde und Sehbehinderte können Filme schauen, im Freundeskreis über Fernsehserien mitreden, auf Entdeckung in Dok-Sendungen gehen – dank Audiodeskription.

Eine kleine Parterrewohnung unweit des Bahnhofs Uster im Zürcher Oberland; zwei Frauen sitzen an einem Tisch und schauen konzentriert auf einen Bildschirm in der Mitte des Tisches. Eine dritte Frau sitzt ruhig hinter dem Bildschirm und hört ebenso konzentriert zu, was ihr eine der Frauen vor dem Bildschirm erzählt: «Näbet de Strebel sitzt d Annina. Ire laufed d Träne abe.» Nicht sicher, ob sie richtig verstanden hat, fragt die Frau hinter dem Bildschirm nach: «De Annina laufed d Träne abe?» Ihr Gegenüber bestätigt mit ja und führt kurz danach fort: «D Annina nimmt iren Rucksack und stapft use.» Aus dem Lautsprecher ertönt der Knall einer Türe. «D Strebel zuckt zäme.» Auf dem Bildschirm läuft – zum wiederholten Mal – eine Szene der Schweizer Filmkomödie «Flitzer», mit Beat Schlatter als Deutschlehrer Balz Näf, Doro Müggler als Polizistin Sandra Strebel – und Una Rusca als erwähnte Annina Strebel, die soeben wegen ihres Verhaltens in der Schule gerügt wurde.

Das Audiodeskriptionsteam (v. l.): Anne Bauer (Einleserin), Brigitte Klötzli (Blinde), Susanne Fehr (Beschreiberin)

Die Frau hinter dem Bildschirm, Brigitte Klötzli, ist blind; für sie umschreiben zwei Sehende, Anke Bauer und Susanne Fehr, Details aus dem Film, die ohne Sicht nicht wahrnehmbar sind. Alle sind sie Audiodeskription-Profis und freie Mitarbeiterinnen von Hörfilm Schweiz.

Die Ustemer Wohnung ist das Domizil des Vereins Hörfilm Schweiz. Hier werden seit 2013 unter der Führung von Urs Lüscher jährlich acht bis zehn Spielfilme und eine Fernsehserie für SRF in Mundart oder Hochdeutsch audiodeskribiert. Sie werden also mit Bild- und Handlungsbeschreibungen für Blinde und sehbehinderte Menschen versehen. Lüscher, der selbst einer der 325 000 sehbehinderten Menschen in der Schweiz ist, erklärt den Grundsatz des Audiodeskribierens: «Ich muss als Sehbehinderter wissen, wer was wo macht, damit es klar ist, wer in der Handlung involviert ist. Ich muss wissen, wer redet, damit ich die Stimmen zuordnen kann.» Dabei wird dem Dialekt grosse Bedeutung beigemessen, denn wichtigste Regel ist: Die Stimme muss sich im Film integrieren und nicht wie ein Fremdkörper wirken. Auch die nonverbale Kommunikation ist zwingend bei der Audiodeskription. Lüscher: «Wenn ein Verdächtiger in ‹Tatort› gefragt wird, ob er das Mordopfer getötet hat, und er nickt oder schüttelt den Kopf, ist es entscheidend, dass ich dies mitbekomme.»

«Mitbekommen» beschreibt das barrie­refreie Angebot gut. Denn ohne optimierten Zugang zu Filmen, Serien und Dokumentarprogrammen sind Sinnesbehinderte teilweise vom kulturellen Geschehen ausgeschlossen. «Film ist ein kulturelles Ereignis, und wir sollen daran partizipieren können. Beispielsweise wenn meine Kollegen beim Montagmorgen-Znüni über die letzte Episode von ‹Tatort› reden. Der Zugang zu Kultur ist wichtig, weil sie ein Teil des Lebens ist», so Lüscher.

Dass SRF und die weiteren SRG-Unternehmenseinheiten ihre Programme für Sinnesbehinderte aufbereiten müssen, ist seit 2007 im Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) festgehalten. Dazu zählen Untertitelung und Gebärden für Hörbehinderte und Audiodeskription für Sehbehinderte. Wie diese Verpflichtung konkret umgesetzt werden soll, ist in einem Abkommen zwischen der SRG SSR und sieben Verbänden für sinnesbehinderte Menschen definiert. Zuletzt wurde das Abkommen im September 2017 ratifiziert mit dem Ziel, die heute 420 Stunden bis 2022 auf 900 Stunden pro Jahr zu erhöhen. Ein grosser Teil der audiodeskribierten Sendungen stammt aus dem Austausch zwischen den öffentlichen Sendern im deutschsprachigen Raum. Filme in Mundart werden aber in der Schweiz audiodeskribiert, unter anderem von Urs Lüscher und seinen freien Mitarbeitenden bei Hörfilm Schweiz.

Für die Koordination zwischen Verbänden, SRG und SRF ist Natacha Rickenbacher zuständig. Die junge Medienwissenschaftlerin stellt erfreut fest, dass eine grosse Sensibilisierung bei den Programmschaffenden stattgefunden hat: «Bevor wir ein Produkt audiodeskribieren, tausche ich mich mit der Redaktion aus. Am Anfang war viel Aufklärungsarbeit nötig. Immer häufiger werde ich jetzt aber direkt von den Programmschaffenden angesprochen, die Ideen haben, welche Sendungen sich besonders für Audiodeskription eignen.»

Im Büro von Hörfilm Schweiz ist dies auch immer wieder ein Thema. Umsetzbar wäre im Prinzip jedes Format, meint Lüscher. Bei den einen erübrigt sich aber eine Deskription meistens – etwa bei News­sendungen, die gut über die Sendungs­moderation funktionieren. Bei den anderen stellt sich die Problematik der Geschwindigkeit, so zum Beispiel bei schnellen Actionfilmen mit Verfolgungsjagden – «fast unmöglich!» – und auch Karateszenen sind schwierig, denn «wir Blinde kennen den Sport nicht», erklärt Brigitte Klötzli. Fast die grösste Herausforderung aber seien Slapstickfilme, also Komödien, die stark über Bildwitz funk­tionieren – wie etwa der Bananenschalensturz oder der Tortenwurf. Bei diesen gelinge die Audiodeskription nur bedingt: «Das Überraschungsmoment wirkt nicht gleich. Ich muss ab und zu auch schmunzeln – aber spontan laut lachen wie die anderen, das ist mir noch nicht gelungen.»

Der Publikumsrat sucht Blinde und ­Sehbehinderte
Der Publikumsrat engagiert sich auch aus­serhalb seines Kerngeschäfts für die gesetzlich geforderten Leistungen des Service public. Zusammen mit den Verantwortlichen von SRF sucht er sehbehinderte und blinde Personen für eine Beobachtung der Audiodeskriptionsleistungen bei SRF. Sind Sie sehbehindert oder blind und nutzen die Audiodeskriptionsangebote von SRF oder haben Sie Freunde oder Verwandte, die es sind? Hätten Sie Zeit und Lust, diese Leistungen einmal genau zu beobachten und anschliessend mit den dafür verantwortlichen Personen darüber zu diskutieren? Dann melden Sie sich hier

Mit diesem barrierefreiem Dokument können Sie sehbehinderte oder blinde Freunde oder Verwandte auf die Beobachtung aufmerksam machen:

Text: Pernille Budtz

Bild: Illustration: Medianovis, Foto: SRG.D

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