«Platzspitzbaby» - der Film
Die Geschichte von Michelle Halbheer, die bei ihrer heroinabhängigen Mutter aufwuchs, inspirierte Regisseur Pierre Monnard («Wilder») zum gleichnamigen Spielfilm. SRF hat den Film, der voraussichtlich am 16. Januar 2020 in die Kinos kommt, koproduziert.
Die Wohnung, in der Mia mit ihrer Mutter lebt, als «unordentlich und schmutzig» zu bezeichnen, wäre eine nette Untertreibung. Überall liegen Essensreste, Flaschen, Zigarettenstummel. Neben den Betten von Mutter und Tochter sind in den dunklen Räumen nur wenige Möbel auszumachen. Tücher dafür umso mehr. Ein Schwenk zum Bett von Mia. Sie liegt schlafend da, als plötzlich Rauch aufsteigt. Das etwa elfjährige Mädchen schreckt endlich hoch und versucht verzweifelt, mit einem Kissen die Flammen zu ersticken. Eine Szene im Film «Platzspitzbaby» – und auch ein ganz normaler Tag im Leben eines Kindes, dessen Mutter oder Vater drogensüchtig ist?
Das Mädchen, das im Film Mia heisst, könnte Michelle Halbheer sein. Die heute 34-Jährige ist in der Region Zürich bei ihrer drogenabhängigen Mutter aufgewachsen. Ihre ersten Lebensjahre waren die Eltern noch zusammen, ihre frühe Kindheit schien nicht besonders anders, doch dann verfiel die Mutter mehr und mehr den harten Drogen, die Beziehung der Eltern ging kaputt. Und mehr und mehr auch «s’Mami». Michelle hätte beim Vater leben können, der arbeitete und keine Drogen konsumierte. Aber das Kind sorgte sich um seine Mutter – und mehr: Es fühlte sich für ihr Wohlergehen mitverantwortlich, ernsthaft. Michelle Halbheer sagte als Kind aus, sie wolle beim Mami bleiben. Für die Behörden war die Sache damit offenbar geregelt, das Kind wurde seinem Schicksal überlassen. Was folgte, waren Jahre in steter Unsicherheit, Verwahrlosung und Gewalt. Das Mädchen musste bei der Drogenbeschaffung mithelfen und überhaupt für die Mutter sorgen, die sie auch schlug.
Michelle Halbheer hielt ihre Erinnerungen zusammen mit der Journalistin und Autorin Franziska K. Müller 2013 im Buch «Platzspitzbaby» fest. Halbheer klagte an: Ihr Behörden sorgt euch nur um die Abhängigen und nicht um die Kinder, die die eigentlichen Schutzbedürftigen sind! Ihr überlässt die Mädchen und Buben von Drogensüchtigen einfach ihrem Schicksal! Sie nannte die Betroffenen «vergessene Kinder», ging auf Lesetour, ins Radio und Fernsehen. SRF DOK-Sendung aus 2015:
Das Buch wurde ein Bestseller und Halbheer, mittlerweile 34 Jahre alt, ist bis heute eine Botschafterin für all jene Kinder, die ihr Schicksal teilen. Sie rechnet vor, dass es alleine in der Schweiz um die 4000 Kinder sein müssen, die bei drogenabhängigen Eltern(teilen) leben. Halbheer schaffte es nicht nur, dass die Gesellschaft mittlerweile um diese zuvor unbeachteten Kinder weiss – sie löste auch eine Debatte darüber aus, wie die Behörden mit Drogenabhängigen, die unmündige Kinder haben, umgehen sollen. Und sie inspirierte den Filmemacher Pierre Monnard, der zum Zeitpunkt ihrer Buchveröffentlichung gerade den Spielfilm «Recycling Lily» im Kino laufen hatte.
Es ist einer der letzten Drehtage, der Sommer ist schon da, die Hitze noch nicht, aber alle sind müde. Das Feuer, das Mia aus dem Schlaf schrecken lässt, will nicht recht gelingen. Noch ein Versuch, noch ein Take. Und dann brennt es tatsächlich, endlich. Schnell macht sich Rauch breit, Mia hustet, schlägt mit dem Kissen auf die Flammen. «Aus!», ruft jemand nach wenigen Sekunden und sofort gibt es Bewegung im Nebenraum, wo die Mutter der jungen Schauspielerin Luna Mwezi, die Mia spielt, den Dreh via Bildschirm mitverfolgt, zusammen mit dem Set-Aufnahmeleiter und Crewmitgliedern. Die Schauspielerin Sarah Spale, die die Mutter Sandrine spielt, betritt den Nebenraum. Nach Wochen in dieser Rolle und von der Maskenbildnerin die Sucht ins Gesicht gezeichnet bekommen, sieht sie erschöpft aus. Sie lässt sich leise und dünn auf einem Stuhl auf dem Balkon nieder, setzt sich Kopfhörer auf und nickt nun im Takt schneller, harter Musik. Auch Pierre Monnard betritt kurz darauf den Raum, erkundigt sich nach dem Wohlergehen von allen, tauscht hier ein paar Worte aus, gibt dort eine Anweisung, ist besonders um das Kind besorgt, das diese schwierige Rolle grandios spielt.
Der Regisseur Pierre Monnard wurde mit der SRF-Serie «Wilder» einem grossen Publikum bekannt (man darf sich auf die zweite Staffel – wiederum unter seiner Regie – freuen). Er selber war es, der die Idee hatte, das Schicksal von Kindern wie Michelle Halbheer zu verfilmen, inspiriert von ihrem Buch. «Ich suchte ein Schweizer Thema. Zum Platzspitz gab es noch keinen Film – dabei ist die ehemals offene Drogenszene in Zürich ein Stück Schweizer Geschichte. Eine, die ein Trauma hinterliess.» Wenn er mit Leuten über den Platzspitz oder den Letten spreche, spüre er viele Emotionen. «Das ist noch nicht verarbeitet», sagt der Filmemacher, der selber Kind war, als sich mitten in der Stadt ab 1986 eine offene Drogenszene etablierte, die mit ihrer Grösse und ihrem Elend in den folgenden Jahren Weltberühmtheit erlangte.
«Platzspitzbaby» als Film zeigt einen Teil von Michelle Halbheers Geschichte – Monnard und Drehbuchautor André Küttel liessen auch die Erlebnisse weiterer betroffener Kinder einfliessen. Der eindringliche Spielfilm soll zeigen, dass es die Kinder zwanzig Jahre, nachdem man die Süchtigen aus der Öffentlichkeit verbannt hat, noch immer gibt. Wie das Buch thematisiert auch der Film das Sorgerecht, oder streift es zumindest. Es sei aber keine Anklage gegen niemanden, sagt Produzent Peter Reichenbach von C-Films: «Aus heutiger Sicht versteht man viel besser, wie damals alle überfordert waren.»
SRF-Koproduktion
Mit ihrer Filmförderung unterstützt die SRG SSR die eigenständige Schweizer Filmproduktion. Beim Spielfilm «Platzspitzbaby» hat sie sich im Rahmen des Pacte de l’audiovisuel finanziell mit 9 Prozent (SRG 4 %, SRF 5 %) am Gesamtbudget als Koproduzentin beteiligt. Redaktionell stand SRF dem Produktionsteam von C-Films beratend zur Seite, etwa bei der Beurteilung des Drehbuchs, mit Besuchen bei den Dreharbeiten sowie mit Feedback zum Rohschnitt.
Tipp! «Zürich Junkietown - Die Drogenszene am Platzspitz und Letten» SRF Dok, 2015
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