Projekt Chance50:50: «Es geht vor allem um die journalistische Qualität»
Ende 2016 dachte sich BBC ein System aus, um die Zahl der weiblichen Mitwirkenden in seinen Programmen zu erhöhen. Mittlerweile nehmen am Projekt 50:50 mehr als 500 Teams teil. SRF hat sich inspirieren lassen und lancierte 2019 ein ähnliches Projekt – mit Erfolg.
Zwei Kommentare von SRF-TV-Chefredaktor, Tristan Brenn, und SRF-Wirtschaftsjournalistin und Projektleiterin Patrizia Laeri.
Mehr Frauen: Die BBC als Vorbild
Mit der Frage, wie Frauen in den Medien besser vertreten und repräsentiert werden können, beschäftigt sich SRF. Vorbild ist ein erfolgreiches Projekt des öffentlichen britischen Senders BBC. Ziel ist eine 50-prozentige Vertretung von Frauen in seinen Programmen. Ein Kommentar von SRF-TV-Chefredaktor, Tristan Brenn.
Just am 14. Juni, dem historischen Frauenstreiktag in der Schweiz, sprach am «GEN»-Summit im fernen Athen Katharina Viner, seit mehreren Jahren Chefredaktorin des «Guardian», über glaubwürdigen Journalismus und wie dieser auch kommerziell erfolgreich sein könne. Den Turnaround hat das Medienunternehmen erst im vergangenen Jahr geschafft, nach Jahren massiver Verluste, weshalb es naheliegt, dass auch die Chefin ihren Anteil zu der Erfolgsgeschichte beigetragen hat. Trotzdem sei sie immer wieder mit Ressentiments konfrontiert und müsse sich anhören, was sie als Frau an der Spitze des weltweit einflussreichen Print- und Onlinemediums zu suchen habe. Grotesk sei das, weil die adäquate Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere aber die Geschlechterdiversität beim «Guardian», der viele Journalistinnen beschäftigt und Frauen zu Wort kommen lässt, die Qualität des Blattes spürbar gesteigert habe.
Mit der Frage, wie Frauen in den Medien besser vertreten und repräsentiert werden können, befasst sich seit einiger Zeit auch die BBC. Ros Atkins, Moderator von BBC Worldwide, stellte in Athen seine «50:50»-Intiative vor, deren Ziel eine 50-prozentige Vertretung von Frauen in den Programmen des Senders ist. Was Atkins zu erzählen hatte, war verblüffend. Als er vor eineinhalb Jahren seine Idee lancierte, kamen in nur gerade 27 Prozent aller Sendungen der BBC mindestens die Hälfte aller Wortmeldungen von Frauen. Im April dieses Jahres war dies bereits bei 74 Prozent der Sendungen der Fall. Doch wie gelang es der BBC plötzlich, das Problem der Unterrepräsentation von Frauen zu lösen, nachdem jahrelang zwar alle von dem Problem redeten, es aber gewissermassen als naturgegeben ansahen und deshalb nichts unternahmen?
Es brauchte erstens gesicherte Daten. Die BBC begann, Männer- und Frauenauftritte in jeder einzelnen Sendung systematisch zu erfassen und auszuwerten. Ein Missstand setze erst dann Änderungen in Gang, wenn er Schwarz auf Weiss vorliege, wenn er messbar sei, so Atkins.
Zweitens zählte das Projekt auf Freiwilligkeit. Redaktionen, die nicht überzeugt waren vom Projekt, wurden nicht dazu gezwungen, mitzumachen. Dass heute dennoch fast 500 Teams innerhalb der BBC Teil der «50:50»-Initiative sind, hat mit den frühen guten Resultaten zu tun. Der Erfolg der Pionierinnen und Pioniere war ansteckend.
Der dritte und letztlich entscheidende Punkt war, den Leuten klarzumachen, dass es bei der Initiative nicht nur um Gleichberechtigung geht und noch weniger darum, den Frauen einen Gefallen zu tun. Laut Atkins geht es vor allem um die journalistische Qualität der Sendungen. Wer immer nur Männer befragt, weil diese in der Mehrheit an der Spitze von Unternehmen oder Regierungen stehen, verengt den öffentlichen Diskurs und lässt Perspektiven, Meinungen und Expertisen verarmen. Die wirkliche Expertin einer Studie ist die, die sie verfasst hat. Nicht der CEO oder Amtsvorsteher, für den sie arbeitet. Genau auf sie hat es die BBC abgesehen.
Kann die BBC ein Vorbild für unsere Sendungen sein, ja für ganz SRF? Auf jeden Fall! Mitte 2019 diskutierte die SRF-Geschäftsleitungssitzung das BBC-Modell und beschloss, in dieselbe Richtung zu gehen. Die BBC hat SRF vorgewarnt: Anfangs würden wohl nur eine Handvoll Teams mitmachen. Da hat sie sich getäuscht. Rund dreissig SRF-Teams wagen das Experiment, darunter die «Tagesschau», «Echo der Zeit», «Espresso», «Kulturplatz», «Nouvo», «sportpanorama» und viele mehr.
Alles nur Kosmetik?
Seit Mitte 2019 läuft das Projekt «Chance50:50» bei SRF. Ein Kommentar von SRF-Wirtschaftsjournalistin und Projektleiterin Patrizia Laeri zu den Herausforderungen und Erfolgen des ambitionierten Vorhabens.
«BBC50:50, Equal Voice und trallala, das ist doch alles nur Kosmetik. Das bringt nichts.» Das schleudert mir Watson-Chefredaktor Maurice Thiriet auf einem Podium provokativ entgegen. Ich habe kurz vorher mit Feuer und Flamme über das britische Datenerhebungsprojekt referiert. Dabei auch anhand von viel Zahlenmaterial der BBC den Beweis – auf Neudeutsch den Proof of Concept – erbracht, dass es eben sehr wohl rasch viel gebracht hat. Umso heftiger war die anschliessende Diskussion.
Aber machen wir uns nichts vor. Auch bei uns intern haben wir viel diskutiert. Ist es zeitlich überhaupt machbar, ist es nicht zu aufwändig, braucht es nicht noch mehr als reine Datenerhebung und schaden wir Redaktionen, die schlecht abschneiden?
Ja, wir sind Kompromisse eingegangen und messen die Daten pragmatisch. Der Aufwand soll sich für jedes Team in Grenzen halten. Wir schreiben hier keine wissenschaftliche Doktorarbeit. Wir wollen keine Blindflüge, sondern höchstmögliche Transparenz und sensibilisieren.
Ja, es kostet auch Nerven. Das Gesellschaftsmagazin «Glanz & Gloria» konnte sich innerhalb eines Monats beachtlich verbessern und gehört bereits zu den wenigen ausgewogenen Sendungen. Redaktionsleiterin Paola Biason stellt klar: «Wir führten viele Diskussionen, leisteten einen Zusatz-Effort, um nicht aus Zeitgründen den erstbesten männlichen Experten zu interviewen.» Auch beim Brainstorming für Serien wurde besonders darauf geachtet, dass Frauen im Vordergrund stehen. Daraus entstand die Idee mit Schweizer Botschafterinnen. «Ganz klar hat man diesen Erfolg aber auch der Redaktorin Léa Spirig zu verdanken, die sich extrem stark macht für weibliche Protagonistinnen und fast schon zur Nervensäge geworden ist,» fügt Biason augenzwinkernd an. «Aber die Resultate sprechen für sich. Bei der Advents-Serie hatten wir dann gar mehr Spitzenköchinnen als Spitzenköche im Programm.»
Ja, es braucht viel mehr als reine Datenerhebung. Die Daten müssen auch kommuniziert werden. Heidi Ungerer, Leiterin Radio SRF 1, ist das Projekt beispielsweise sehr umfassend angegangen, hat es in Produktionsprozesse, Sitzungsabläufe integriert und einen ausgeklügelten «Ladies First»-Ansatz erarbeitet, der auch Expertinnen-Datenbanken einbezieht. Es ist dem Team dadurch beeindruckend schnell gelungen, über das gesamte Programm ausgewogene Verhältnisse zu erreichen. «Es beginnt bei der Planung. Wir schauen gezielt darauf, dass wir beispielsweise bei den Gästen in der morgendlichen Primetime spezifisch Frauen suchen. Der Auftrag an die Produzent*innen lautet: Ladies first suchen,» so Ungerer. Allein die Tatsache, dass sie den Anspruch hatten, zuerst eine Frau als Gesprächspartnerin zu suchen, habe den Frauenanteil in diversen Sendungen deutlich erhöht, ohne dass deswegen die Männer zu kurz gekommen wären.
Und ja, es gab auch viele Ängste. Gerade bei Wirtschaft und Sport, die über ein männerdominiertes Feld berichten, waren die Bedenken gross. Werden wir an den Pranger gestellt? Die Ausgangslage ist doch für uns unfairerweise schwieriger? Folgt danach ein öffentliches Bashing? Auch da galt es, aufzuklären, dass Chance50:50 keine Quotenvorgabe ist, sondern ein Wettbewerb, der sensibilisieren soll und bei dem jede Redaktion ihre Zielwerte selber sinnvoll definieren darf. Und siehe da, dem Wirtschaftsmagazin «ECO» gelingt schon im ersten Messmonat eine Sensation: Der Frauenanteil ist innerhalb eines Monats mehr als verdoppelt, von 20 auf 44 Prozent. Das ist bemerkenswert und auch verglichen mit den Erfahrungen der BBC einmalig. Teamleiterin Alexandra Stühff: «Dahinter steckt viel Arbeit. Und zwar Überzeugungsarbeit. Mitunter sind wir auch gescheitert. Es ist frustrierend, dass kompetente Frauen absagen, weil sie sich nicht exponieren wollen.» Allerdings sei es umso schöner zu sehen, dass neue Expertinnen nach der Sendung selber feststellen, dass es gar nicht so schlimm gewesen sei. Den positiven Effekt, den diese Frauen wiederum auf Zuschauerinnen haben, dürfe man nicht unterschätzen.
Die ersten Auswertungen haben aber auch klar gezeigt, dass es noch viel Luft nach oben gibt und SRF Programme ausstrahlt, in denen zu 90 Prozent Männer die Welt erklären. Vielleicht waren die ersten Erfolge auch nur Zufallsanstiege. Ob die Teams die Anteile halten können, werden wir erst in ein paar Monaten sehen. Eines weiss ich aber schon jetzt: Alle 40 Teams haben bereits bewiesen, dass sie weit mehr leisten als Kosmetik.
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