Das Thema im Zentrum

Seit Kurzem entstehen die Aktualitätssendungen von SRF redaktionell im Newsroom – und ebenso die Online-Nachrichten für SRF News. Im Zentrum stehen hier nicht länger die Sendungen, sondern die Themen. Wer entscheidet jetzt über die Inhalte? Ein Besuch im Herzen des Newsrooms: beim Decision Desk.

Es ist ein Tag, an dem, wer morgens aufwacht und die Nachrichten hört, den Atem anhält. Es ist der 8. Januar und die Situation zwischen den USA und dem Iran ist angespannt. Da greift der Iran in der Nacht US-Stützpunkte im Irak an. Und kurz darauf, in den frühen Morgenstunden, stürzt unmittelbar nach seinem Start ein ukrainisches Passagierflugzeug mit 176 Menschen ab, im Iran. Im neuen Newsroom von SRF am Leutschenbach finden sich wie immer um 8.30 Uhr ein gutes Dutzend Journalistinnen und Journalisten aus den Fachredaktionen Inland, Ausland, Wirtschaft sowie von SRF News (die Online-Info-Redaktion) zur ersten grösseren Sitzung des Tages zusammen. Sie stehen um eine weisse, magnetische Stellwand, vielleicht etwas ernster als an anderen Tagen. Alexandros Koulouris – er ist an diesem Morgen für die Koordination der tagesaktuellen Themen auf dem Online-Vektor zuständig – fasst zusammen, was bisher bekannt ist.

Koulouris ist bereits seit 5 Uhr im Newsroom, Mark Livingston auch schon seit fast zwei Stunden. Nicht jeden Tag erscheine er so früh, sagt der Bereichsleiter Aktualität SRF News, «heute ist speziell». Und er ist diese Woche in seiner anderen Funktion im Newsroom: als Verantwortlicher am Decision Desk. Das beinhaltet, was der englische Name andeutet: Entscheidungskompetenz. Man nennt diese Funktion auch «Chef vom Dienst» – Livingston teilt sie im Wochenturnus mit zwei leitenden Kollegen aus anderen Bereichen. An der Stehsitzung, an der alle kurz erzählen, woran sie tagesaktuell sind, was sie planen, was noch offen ist, hört Livingston aufmerksam zu, mischt sich nicht ein, fragt höchstens klärend nach. «Ich bin in dieser Funktion des CvD vor allem Moderator.» Auch andere arbeiten im Newsroom in verschiedenen Rollen, «Tagesschau»-Produzenten können beispielsweise zu Fachredaktionsvertretern werden oder «10vor10»-Moderatorinnen zu Reporterinnen für die Sendung «Schweiz aktuell».

Die Journalist*innen treffen sich zur ersten Sitzung.
Die Journalist*innen treffen sich zur ersten Sitzung.

Die neue Struktur der Newsgefässe von SRF ist durchlässig – und komplex: «Tagesschau», «10vor10» und «Schweiz aktuell» haben keine eigenen Reporter mehr und die Sendungsredaktionen bestehen nur noch aus Produzenten und Moderatoren. Alle anderen sind jetzt einer Fach- oder der Videoredaktion angeschlossen. Und die produzieren auch für Online-Inhalte und dort für eigene wie für fremde Kanäle, Instagram etwa. Die Fachredaktionen Inland, Ausland, Wirtschaft und Bundeshaus liefern die Inhalte für alle Kanäle, die politisch Relevantes berichten – so liesse sich das Prinzip knapp zusammenfassen. Autonomer arbeiten noch immer die Magazinsendungen wie «Rundschau» und «Kassensturz» etwa – sie sind an den Sitzungen, in denen die tagesaktuellen Themen geplant und verhandelt werden, nicht zugegen. «Wir sind aber via Planungsdesk in stetigem engem Kontakt auch mit diesen Magazinsendungen», sagt Livingston, «die Planung ist rollend.»

Der langjährige SRF-Journalist genehmigt sich an der Hightech-Kaffeemaschine im oberen Stock eine Stärkung. Hier überblickt er wie auf einer Empore das Geschehen im Zentrum des Newsrooms, wo die Tische wie vier C rücklings aneinandergestellt stehen. Der riesige, auf alle Seiten offene Raum hat etwas von einem Auditorium – und von einer Raumschiff-Kommandobrücke. Die Farben Hellgrau, Dunkelgrau und Schwarz dominieren, Bilder hängen keine.

Im 4C-Herzen des Newsrooms bespricht sich Inland-Fachredaktor und -Koordinator Simon Erny gerade mit zwei weiteren Journalisten. Erny ist heute für die tagesaktuellen Inlandthemen zuständig. Worum es geht, wird er gleich an der Inland-Sitzung erzählen, die in einem separaten Sitzungszimmer stattfindet – auch solche gibt es im neuen Newsroom – und gleich anschliessend um 9.35 Uhr an der gemeinsamen grossen Sitzung. Hier sind nun auch die Produzenten der Sendungen zum Aufdatieren, Austauschen, Entscheiden dabei. «Bis dahin ging es nur darum, die weiteren Online-Bedürfnisse des Tages zu erkennen und vonseiten der Fachredaktionen mögliche Themenangebote an die Sendungen zu skizzieren», so der CvD.

Eine Journalistin produziert für Online-Inhalte.
Arbeiten am Decision Desk im neuen Newsroom.

Nach den beiden Sitzungen ist die Frage, wie Themen in die Sendungen und auf die Online-Kanäle kommen, teilweise geklärt: Erstmal wie immer schon – durch journalistische Kompetenz, sprich das Einschätzen von einerseits Relevanz und anderseits Machbarkeit. Vieles bleibt aber noch offen nach diesen Sitzungen – es braucht erste respektive weitere Recherchen und Abklärungen, um zu wissen, was umsetzbar ist, heute oder für später. Am Nachmittag wird es eine weitere kurze Sitzung geben, die sich mit Themen jenseits der Tagesaktualität befasst. «Gleich danach tausche ich mich dann jeweils kurz mit dem Radio aus, aber heute nur per Chat, da haben wir eine WEF-Koordinationssitzung.» Radio und Fernsehen entscheiden über ihre Inhalte noch immer weitgehend getrennt, daran ändere derzeit auch der Newsroom nichts, sagt Livingston: «Online kommen allerdings die Inhalte beider zusammen.»

Oberflächlich betrachtet merkt man «Schweiz aktuell», der «Tagesschau» und auch «10vor10» die organisatorischen Veränderungen im Hintergrund nicht an – aber was sagt das Stammpublikum? «Bisher gab es keine Reaktionen», versichert Livingston. Überhaupt ist er zuversichtlich, dass die Sendungen nicht an Profil verlieren werden: «Jede Sendung hat ihren eigenen Sendungsleiter; alles, was nicht tagesaktuell ist, also rund zwei Drittel, geht durch seine Hände. Wichtig ist auch, dass wir das Profil jeder Sendung geschärft haben. «10vor10» beispielsweise hat jetzt keinen Newsüberblick mehr, aber dafür noch mehr Hintergrund, Expertinnen und Experten aus der Politik, der Wirtschaft oder anderswo kommen als Gast im Studio zu Wort, während man in der «Tagesschau» auf die Expertise der eigenen Leute setzt: Korrespondentinnen und Fachredaktoren. «Schweiz aktuell» wiederum habe ohnehin ein eigenes Profil mit seinen regionalen Themen, die in der ganzen Schweiz interessieren könnten. Reicht das alles, um das Profil zu halten, obwohl die langjährigen Redaktionskulturen weg-reorganisiert wurden? Er sei zuversichtlich, sagt Livingston: «So hat ja jede Sendung weiterhin eigene Produzenten, welche die Inhalte in die sendungstypische Form bringen, und eigene Moderatorinnen und Moderatoren, die den Charakter einer Sendung prägen. Auch gibt es – anders als in anderen Newsrooms – keinen ‹Chefproduzenten›, der für sämtliche Sendungen die Zuteilung der Themen vornimmt.» Der CvD im SRF-Newsroom versuche, die Bedürfnisse von Online und der Sendungen unter einen Hut zu bringen, er diktiere nicht die Inhalte, sondern greife nur ein, wenn die Situation eine Entscheidung verlange.

Das neue Zauberwort, damit trotz fehlender eigener Redaktion jede Sendung jeden Tag relevante und zu ihr passende Beiträge erhält, heisst Koordination. Koordinatoren gibt es jetzt viele. Zu viele, meinen einige. «Nein», sagt Mark Livingston, «nur zwei zusätzliche sind es und die braucht es nur schon, weil wir ganz neu eine Video-Redaktion haben mit über zwanzig Mitarbeitenden.» Man habe ja ausserdem nicht ganz freiwillig alles umgebaut, sagt Livingston: Die Mediennutzung habe sich radikal verändert, immer mehr lesen und schauen Nachrichten am Computer und auf dem Handy. Die bisherige Kultur, in der jede Sendung für sich alleine dachte, ist mit den neuen Bedürfnissen nicht mehr kompatibel. Oder wie Mark Livingston sagt: «Heute steht bei der Planung der Inhalte zuerst das Thema im Zentrum, nicht der fertige Beitrag.» Das, meint Livingston, sei die eigentliche Revolution.

Mark Livingston

«Das Thema im Zentrum» bedeutet konkret etwa, dass die Iran-Berichterstattung für die verschiedenen Kanäle zentral besprochen und koordiniert wird – dafür gibt es die gemeinsamen Sitzungen und den bilateralen Austausch; inhaltlich und formal wird dann jeder Beitrag auf die Bedürfnisse der jeweiligen Sendung respektive von SRF News online hin geplant und umgesetzt. Und auch für ein SRF-Reporter-Team, das wie am 8. Januar unterwegs ist, um einen neu gewählten Parteichef zu porträtieren, gilt: Noch bevor es zum Dreh rausgeht, muss es die Bedürfnisse von Online kennen.

Organisatorisch läuft es neu so ab, dass die Fachredaktionen Themen anbieten und die Produzentinnen und Produzenten der verschiedenen Sendungen und Gefässe Interesse bekunden – oder nicht. Der Chef vom Dienst moderiert das Ganze und behält die Balance zwischen Themen-Relevanz und -Nachfrage im Auge, oder wie Mark Livingston sagt: «Ich bin derjenige, der im Zweifelsfall abwägt, welche Dosis ein bestimmtes Thema verträgt.»

An diesem Abend werden der Iran und Trump sowohl bei «10vor10» als auch in der «Tagesschau» das Hauptthema sein. Der Raketenangriff des Iran sorgt überraschend für eine Deeskalation, weil dabei tatsächlich keine US-Amerikaner ums Leben gekommen sind. Dafür, dass das ukrainische Passagierflugzeug abgeschossen wurde, gibt es noch keine Beweise. Mark Livingston wird auch am folgenden Tag früh aufstehen.

Text: SRF

Bild: Gian Vaitl

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