SRF Data: Mehr als nackte Zahlen

Datenjournalismus hat seit dem Ausbruch des Coronavirus an Bedeutung gewonnen. Auch das kleine Team von SRF Data hat dies zu spüren bekommen. Julian Schmidli, Felix Michel, Pascal Albisser und Lukas Frischknecht erklären im Kraftwerk Zürich, was sie bis jetzt aus der Pandemie gelernt haben und warum sie unter normalen Umständen mit Daten wie den Covid-19-Fallzahlen gar nicht arbeiten würden.

Um es angelehnt an die Worte von Charles Dickens zu sagen: Es ist momentan die beste Zeit und die schlimmste Zeit, um Journalist oder Journalistin zu sein. Wir befinden uns in einem postfaktischen Zeitalter, in dem Daten in Echtzeit auftauchen und von den Leserinnen und Lesern sofort konsumiert werden wollen. Gerade Datenjournalistinnen und -journalisten nagen an dieser neuen Herausforderung ganz besonders. Im Hause SRF besteht das Data-Team aus Julian Schmidli, Lukas Frischknecht, Pascal Albisser und Felix Michel, dessen Anstellung bis Ende Jahr befristet ist. Seit sechs Jahren hat SRF ein eigenes Team für Datenjournalismus, Schmidli ist seit Beginn dabei, neu dazu stiessen diesen Oktober Lukas Frischknecht und Pascal Albisser. Felix Michel arbeitet seit zwei Jahren im Team, zuvor war er bei der «Basler Tageswoche». Letztes Jahr hat er am grossen SRF-Wahlprojekt mitgewirkt – und hätte dieses Jahr eigentlich zu eigenen Themen recherchieren wollen, erzählt er, natürlich Homeoffice-konform in einem Gespräch mit dem ganzen Team via Zoom.

Und dann sagt er einen Satz, den wir dieses Jahr wohl alle in unser Standardrepertoire aufgenommen haben: «Aber dann kam Corona.» Den ganzen Sommer über arbeitete Michel zusammen mit Schmidli zu zweit an den Geschichten über die Pandemie. Ein zermürbender Prozess. Umso grösser war die Erleichterung über die beiden Neuzugänge: «Wir merken deutlich, dass wir seither viel mehr zustande bringen», sagt Michel. Das Team ist zwar überschaubar, aber divers aufgestellt. Den journalistischen Lead übernimmt Schmidli, mehrfach ausgezeichnet für seine datenjournalistischen Arbeiten. «Es war aber von Anfang an die Idee, dass jeder von uns seine Interessen entsprechend einbringen kann», erklärt er. Für die Visualisierung, das optische Storytelling, ist Albisser zuständig. Er studierte Multimedia Production. Die eigentliche Recherche, das Aufspüren, Organisieren und Downloaden von geeigneten Daten für eine Story – das sogenannte Scraping des Webs – wird im ganzen Team aufgeteilt: «Die Rollen sind nicht starr aufgetrennt, sondern fliessen ineinander», sagt Schmidli.

«NORMALERWEISE WÜRDEN WIR SOLCHE DATEN WIE DIE CORONAFALLZAHLEN GAR NICHT ANFASSEN, WEIL WIR SIE NICHT AUSREICHEND ÜBERPRÜFEN KÖNNEN.»

«Normalerweise», erzählt Michel, «würden wir solche Daten wie die Corona-Fallzahlen gar nicht anfassen, weil wir sie nicht wirklich ausreichend überprüfen können.» Denn gerade die Fallzahlen, erklärt er, bilden die Realität nicht wirklich gut ab. Das Team hat einen starken wissenschaftlich-korrekten Anspruch an seine Arbeit: «Wenn es darum geht, Daten zu visualisieren, ist es essenziell, dass man sicher sein kann, gute Daten zu haben – bevor man anfängt, damit schöne Visualisierungen zu machen», sagt Michel. Bei praktisch allen Covid-Daten sei das jedoch überhaupt nicht gegeben. Hier legt das Team den Fokus aber anders, führt Michel aus: «Es geht um unseren Auftrag gegenüber der Öffentlichkeit. Deshalb versuchen wir, mit diesen Daten so gut wie möglich zu arbeiten.» In der Statistik zu den täglichen Fallzahlen etwa, die seit Ausbruch der Pandemie auf srf.ch zu finden ist, werden die täglichen Fälle nicht ohne Kontext publiziert: Diejenigen Fälle, die rückwirkend gemeldet wurden, werden beim Balken des entsprechenden Tages zusätzlich aufgeführt und hellrot eingefärbt – diese Arbeit schafft Kontext: «Gerade in den letzten Wochen wurden immer mehr Fälle nachträglich gemeldet. Es kann also einerseits heissen, dass wir den Peak der Fälle erreicht haben, wenn man nur die nackten Zahlen anschaut. Aber das wissen wir nicht. Denn es kann andererseits auch heissen, dass die Behörden das Maximum an Kapazität für die Bearbeitung dieser Zahlen erreicht haben», sagt Michel.

Nicht nur während der Pandemie arbeitet das Team mit Open Data, also Daten, die von allen benutzt werden können – egal, ob Journalistin oder nicht. Albisser erklärt: «Ganz grob gesagt geht es um Transparenz. Es kommt stark darauf an, aus welchen Bereichen die Daten stammen. Ein wichtiger Aspekt von Open Data ist, dass staatliche Stellen ihre Daten offenlegen, etwa Verkehrsdaten. Mit diesen Daten können dann beispielsweise Apps entwickelt werden. Im besten Fall macht Open Data die Behörden glaubhafter, weil sie transparent sind.» Durch die Coronakrise entstand eine Diskussion, was solche Daten überhaupt bedeuten, wie sie zu interpretieren sind. Die Medien, erklärt Albisser, nehmen etwa die Daten des BAG auf und arbeiten teilweise sehr unterschiedlich damit. Wären diese Daten nicht öffentlich zugänglich, sähe das anders aus: «Würde nur eine Person oder eine Stelle mit diesen Daten arbeiten dürfen, dann wäre die Öffentlichkeit automatisch abhängig von deren Einschätzung: Die Fallzahlen sind hoch, es ist alles ganz schlimm. Oder eben nicht. Aber dadurch, dass die Zahlen offen zugänglich sind, gibt es für uns die Möglichkeit, viel Kontext zu schaffen, zu interpretieren.» Open Data ist also ein wichtiger Baustein für den Journalismus als Teil des demokratischen Prozesses.

SRF Data

Weitere Informationen über die Arbeit von SRF Data finden Sie hier.

Ein grosser Teil der Arbeit des Data-Teams besteht darin, Daten zu überprüfen: Woher kommen die Angaben, ist das eine vertrauenswürdige Quelle? Was genau sagen die Daten aus, wie können sie in einen journalistischen Kontext gesetzt werden? Gibt es allenfalls noch andere Quellen, die diese Daten stützen könnten? Konkret erklärt Michel das anhand des Beispiels eines Artikels über Intensivstationen, der Mitte Oktober auf SRF Online erschien. Die Idee dazu kam von Schmidli, dann erarbeitete das Team gemeinsam die Fragestellung: Die Intensivstationen dürften bald voll sein, aber was bedeutet das genau? Dann fängt die Suche nach guten Datenquellen an, in diesem Fall kamen diese vom ICU-Monitoring der ETH. Dort werden alle aktuell verfügbaren Betten auf Schweizer Intensivstationen registriert und die verfügbare Auslastung in Prozent wird aufgeführt. Dann folgte der Rechercheprozess, Hintergrundgespräche mit ETH-Forscherinnen und -Forschern und schliesslich erhielt das Team einen Link zu den entsprechenden Daten. «Dann analysieren und überprüfen wir die Daten selbst, das ist der eigentliche Hauptunterschied zu anderen journalistischen Arbeiten», erklärt Michel. «Bei den ICU-Daten gab es viele Verständnisfragen unsererseits, wir haben viele Rücksprachen mit den Forschern gehalten.»

Das Spezielle an den Corona-Artikeln, die das Team produziert, ist, dass sie teilweise täglich aktualisiert werden. «Normalerweise arbeiten wir an einer Geschichte, die wird dann veröffentlicht und das war‘s. Aber gerade der Artikel mit den Fallzahlen, der immer auf der Startseite steht, wird täglich aktualisiert», sagt Michel. Publiziert wurde er am 13. März und ist seither der am meisten abgerufene Artikel auf SRF Online – die Zugriffszahlen bewegen sich weit im zweistelligen Millionenbereich. Auffällig ist das «Logbuch» am Ende des Artikels: Hier werden Änderungen am Inhalt transparent publiziert. Schmidli erklärt: «Zu Beginn bestand der Artikel eigentlich bloss aus ein paar Grafiken, viel mehr konnten wir zu Corona am Anfang ja noch nicht erarbeiten, weil man noch praktisch nichts wusste und es folglich auch keine Daten gab. Ziemlich schnell aber kamen immer mehr Fragen seitens der Community und für uns war klar, dass wir mehr Kontext schaffen mussten.» Am Anfang glich die Corona-Berichterstattung in den Schweizer Medien eher einem «Counter der Angst», wie Schmidli es ausdrückt: «Wir wollten den Leserinnen und Lesern das nötige Wissen an die Hand geben, damit sie ihre Situation besser einschätzen können und weniger Angst aufgrund einzelner Ausreisser haben – weil es eben nicht auf die täglichen Fallzahlen darauf ankommt, sondern viel eher auf einen Siebentagesschnitt oder auf die Positivitätsrate». Entsprechend wird der Artikel laufend angepasst. Fliegt etwa eine Grafik raus, weil die Daten überholt sind, wird das unten im Text notiert. «Wir haben festgestellt, dass diese Transparenz einem grossen Bedürfnis der Leserinnen und Lesern entspricht», sagt Schmidli, «und diese Art, zu arbeiten, stärkt wiederum das Vertrauen der Community in unsere Arbeit.»

«MANCHMAL SIND DIE INTERESSANTEN SACHEN NICHT ZÄHLBAR.»

Lange nicht jedes Covid-Thema aber lässt sich datenjournalistisch aufarbeiten. Teilweise werden entsprechende Ideen schon sehr früh im Prozess verworfen, sagt Michel. Aktuell war das etwa der Fall bei einer Idee für eine Geschichte über das Pflegepersonal in Spitälern. «Wir wollten die Auslastung des Personals abbilden», erklärt Schmidli, «aber dazu gibt es schlichtweg keine brauchbaren Daten. Das Ding ist ja: Man kann nicht von der Zahl der Betten auf den Intensivstationen ausgehen, ein Bett wird vielleicht von fünf Menschen und in mehreren Schichten betreut – und wahrscheinlich wird der befürchtete Engpass eher auf der Personalebene passieren.» Datenjournalismus bedeutet, mit Dingen arbeiten, die man zählen kann. Wie lange eine Ärztin effektiv neben einem Bett auf einer Covid-Station steht, lässt sich nicht messen – also auch nicht in eine Tabelle einspeisen. «Manchmal sind die interessanten Sachen nicht zählbar», sagt Schmidli. Etwas Gutes aber hat die Pandemie bis jetzt ausgelöst, erklärt er. Und zwar sowohl SRF-intern als auch in der Bevölkerung: «Als Datenjournalist galtest du vorher als Nerd. Heute ist es fast alltäglich, dass man über logarithmische Skalen spricht oder über die Positivitätsrate. Es ist natürlich cool, dass man plötzlich in der breiten Masse Diskussionen führt, die vorher einem Fachpublikum vorbehalten waren.»

Text: Miriam Suter

Bild: Mirco Rederlechner, Location: Kraftwerk Zürich

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