«Hier können sich wirklich alle beteiligen»

Im Rahmen der Strategie 2024 beschreitet SRF neue Wege, auch bei den Entwicklungskonzepten. So entstehen neue Synergien im Unternehmen. Wie die neuen Prozesse der Formatentwicklung bereits heute funktionieren – und wo es noch die eine oder andere Schwachstelle gibt – erklärt Manuel Thalmann, Leiter Jugend & Musik.

Es wird vieles neu bei SRF: Seit April dient das Betriebsmodell «SRF 2024» mit vier neuen Bereichen als Grundlage. Einer davon ist Audience, unter der Leitung von Laura Köppen. Die Hauptaufgaben: ein starker Fokus auf die Zielgruppen der entsprechenden Formate, eine marktbasierte Auswertung bisheriger Angebote und eine entsprechend zugeschnittene Distribution. Teil von Audience ist das Commissioning Board, in dem Manuel Thalmann, Leiter Jugend & Musik, seit dem «Übungsstart» letzten Oktober bis Ende März 2021 Einsitz hatte. Hier scannen verschiedene Expertinnen und Experten neue mögliche Angebote von SRF ab – von Radio über TV bis hin zu Online und Social Media: «Das kann ein Instagram-Kanal sein, eine Weiterentwicklung eines aktuellen Angebots oder ein ganz neues digitales Format», erklärt Thalmann. Was bedeutet das ganz konkret?

«Mit dem neuen Modell will man von den bisher eher starken Hierarchien in den einzelnen Bereichen wegkommen.»

Manuel Thalmann
Leiter Jugend & Musik

Durch das Commissioning Board haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem ganzen Betrieb die Möglichkeit, Ideen für neue Projekte einzureichen und zu realisieren – allerdings wird im Kollektiv entschieden, ob ein Format neu produziert wird oder nicht. Man wolle damit von den bisher eher starken Hierarchien in den einzelnen Bereichen wegkommen, erklärt Thalmann: «Bisher haben vor allem die Bereichsleiterinnen und -leiter alleine entschieden. Das soll neu anders ablaufen. Das Ziel ist, dass wirklich alle, die möchten, mitarbeiten können. Es gab etwa einen Vorschlag von einem IT-Mitarbeiter aus Bern, der vorher noch nie eine Projektidee erarbeitet hat – aber er hatte das Bedürfnis, etwas Neues auszuprobieren. Das finde ich am Schönsten an diesem neuen Bereich: dass sich wirklich alle beteiligen können.» Im Commissioning Board sitzen neben Thalmann Expertinnen und Experten aus anderen Fachbereichen, etwa Distribution und Marketing. Jeder Vorschlag wird so aus verschiedenen Perspektiven geprüft: Besteht schon ein entsprechender Kanal bei SRF oder muss ein neuer angelegt werden? Kann man eine Idee noch etwas kostengünstiger produzieren? «Ich als Mitglied von Distribution beurteile etwa, ob etwas richtig konzipiert ist für Instagram oder ob wir überhaupt Fernseh-Slots zur Verfügung haben», erklärt Thalmann. Das Ziel: fokussierter, effizienter und zielgruppengerechter arbeiten und produzieren.

Welche Faktoren muss eine Idee denn erfüllen, damit sie beim Commissioning Board Chancen auf ein Ja hat? «Das Wichtigste ist, dass sie in die Strategie 2024 passt», sagt Thalmann. Es gab etwa auch schon Vorschläge für Fernsehsendungen, die vor allem 65-Jährige abgeholt hätten. Für solche Ideen sei es momentan sicher schwieriger, davon habe SRF bereits genügend im Angebot, so Thalmann. Auch die Ressourcenfrage beschäftigt die Expertinnen und Experten: Kann ein Projekt so kosteneffizient wie möglich produziert werden? Und hat man sich wirklich genau überlegt, ob man etwa einen ganz neuen Instagram-Kanal anlegen muss – ist das Projekt von Anfang bis zum Ende durchdacht? «Wenn du auf Instagram etwas Neues aufziehen möchtest, reicht es nicht, dir einfach die ersten zehn Folgen zu überlegen. Du brauchst einen Jahresplan und eine Vorstellung davon, wie oft in der Woche du welche Inhalte veröffentlichen möchtest», erklärt Thalmann.

Das Paradebeispiel «We, Myself & Why»

Ein Projekt, das fürs Commissioning Board zukunftsweisende Entwicklungsprozesse durchgemacht hat, heisst «We, Myself & Why». Der Instagram-Kanal richtet sich in erster Linie an junge Frauen; die Inhalte reichen von einer Reportage über den polizeilichen Umgang mit Sexualdelikten über persönliche Erzählungen von Erfahrungen mit Rassismus bis zur Erklärung der so genannten Orgasmuslücke. «We, Myself & Why» bietet damit einen diversen Querschnitt durch das Leben junger Frauen in der Schweiz – und wurde auf eine Art und Weise entwickelt, wie sie im Hause SRF bisher einzigartig ist: direkt zusammen mit einer neuen Zielgruppe.

Teil der Strategie 2024 ist, dass SRF mehr Menschen unter 45 Jahren erreichen muss. Thalmann präzisiert, wer damit hauptsächlich gemeint ist: «Bei uns fehlen im Bereich Jugend vor allem die jungen Frauen als Zielgruppe, die erreichen wir noch immer viel zu wenig.» Mit SRF Virus decke man vor allem den «Hip-Hop-Kuchen» ab, auch das Format «Zwei am Morge» hat eine eher männlich geprägte Zuschauerschaft. Ende 2019 entschied Thalmann deshalb zusammen mit dem Team: Es braucht zwingend ein Angebot, das sich ausschliesslich an junge Frauen richtet – und von ihnen produziert wird. Thalmann stellte mit Sarah Christen ein Projektteam zusammen; Christen übernam die publizistische Leitung. In einer Analyse zusammen mit Audience wurde klar: Instagram ist «the way to go», erklärt Thalmann, dort soll das Projekt am Ende ausgerollt werden. Und dort wurde zu Beginn der Entwicklung die Fokusgruppe zusammengestellt: 15 junge Frauen, mit denen zusammen das Projektteam das Konzept für den neuen Kanal von A bis Z entwickelte. Dafür nahm man zuerst die Accounts der Frauen selbst unter die Lupe: Wem folgen sie, welche Inhalte konsumieren sie und warum, was finden sie authentisch – und vor allem: Was kann SRF diesen jungen Frauen bieten? Nach dem ersten Brainstorming wurden die Ideen mit der neu zusammengestellten Fokusgruppe gespiegelt, auch das Layout, alle grafischen Elemente und der Name wurden den Frauen vorher gezeigt. «Ganz am Schluss haben wir den Instagram-Kanal nur für diese 15 Frauen eröffnet und sie eine Woche lang die ersten Folgen schauen lassen», erklärt Thalmann. Erst danach folgte der offizielle Launch für die restliche Community. Dieser neue Weg zeigt Wirkung: Das Jahresziel von 10 000 Followern ist bereits erreicht.

Auf neuen Wegen in die Zukunft

Ein kleiner Fehler hat sich trotzdem noch eingeschlichen: Eigentlich besteht das ganze Team rund um «We, Myself & Why» aus Frauen – bis auf Manuel Thalmann als Senior Producer: «Ich bin quasi der einzige Fehler im System.» Auch bezüglich Zusammenstellung der Crew geht SRF neue Wege: Ausser Sarah Christen und Karin Zweidler hat niemand im Team mit vier Vollzeitstellen vorher bei SRF gearbeitet – «das sind junge Talente, die wir quasi von der Schule weg, direkt aus unserer Community, gecastet haben», erklärt Thalmann. Zwar müsse man dadurch aufpassen, dass man nicht in Aktivismus abdrifte, sondern bei journalistischen Inhalten bleibt, die den publizistischen Richtlinien des Unternehmens folgen. Dafür besetzen Thalmann und Christen die publizistische Leitung.

Dieser Entwicklungsprozess ist für Thalmann der Weg in die Zukunft: Auch eine Fernsehsendung, etwa «SRF bi de Lüt», könnte so neu entwickelt werden. Im Gegensatz zu einem neuen digitalen Format wie «We, Myself & Why» startet «SRF bi de Lüt» bereits mit einem gefestigten Marktanteil von um die 40 Prozent jeden Freitagabend: «Und unter den Zuschauenden gibt es sicher coole, jüngere Familien, mit denen man zusammenarbeiten könnte», so Thalmann. Auch hier könnte die Community Inputs geben: Welche Orte in der Schweiz fände man spannend? Welche Themen sind noch nicht vertreten? Trotz allem Enthusiasmus mahnt Thalmann zur Geduld: «Das Projekt heisst 2024, und das hat einen Grund. Am liebsten hätten wir alles schon 2021 bereit, auch weil die Arbeit an neuen Projekten einfach wahnsinnig Spass macht.» Man müsse aber langfristig denken: «Lieber machen wir fünf, sechs wirklich gute neue Formate, die sich nachhaltig entwickeln und etablieren können. Wenn wir uns daranhalten, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir 2024 an dem Punkt sind, den wir heute erreichen wollen.»

Text: Miriam Suter

Bild: SRF/Lukas Mäder

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