«Literaturschaffende galten im Irak als Wahnsinnige»

Der Schriftsteller und Übersetzer Usama Al Shahmani gehört seit Kurzem zum «Literaturclub»-Kritikerteam. Die besprochenen Bücher will er nicht bewerten, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen. Diese Haltung hat mit seiner Herkunft zu tun. Aber nicht nur.

Sie erzählte ihm Geschichten. Und er, der kleine Usama Al Shahmani, hörte gespannt zu. Die Grossmutter war Analphabetin. Im Land herrschte Krieg. An fast jeder Hausfassade klebte das Gesicht des Diktators Saddam Hussein. Die Geschichten der Grossmutter kamen aus dem Bauch, im Arabischen sagt man «aus dem Herzen». Sie waren Balsam für Usama Al Shahmani. Auch heute, Jahrzehnte später, nehmen Geschichten viel Raum ein im Leben des mittlerweile 50-Jährigen. Sei es, wenn er für seine Kinder welche erfindet, Geschichten zu Papier bringt oder welche liest. «Die Literatur ist die einzige Möglichkeit, Gedanken zu verändern, die Welt zu verbessern und die Zukunft zu gestalten.» Al Shahmani weiss, wovon er spricht: Im Irak hat er arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert.

In seiner Schweizer Heimat Frauenfeld schaut ihn keiner schräg an, wenn er auf einer Parkbank sitzt und ein Buch liest. Das war anders im Irak. «Für die Regierung galten Lesende und Schreibende als gefährlich, verdächtig. Wer schrieb, musste um sein Leben fürchten.» Ein regimekritisches Theaterstück zwang Al Shahmani vor zwanzig Jahren zur Flucht. Wäre er geblieben, wäre er wohl gefoltert worden, womöglich sogar hingerichtet. «In einer Diktatur ist nichts gefährlicher als lesen und schreiben», sagt er. Schwer vorstellbar für uns, die in der freien Schweiz leben und schreiben dürfen, was wir wollen. Aber wollen wir auch lesen, was andere schreiben? «Solange ich in der Buchhandlung warten muss, mache ich mir keine Sorgen um das Leseverhalten der Schweizerinnen und Schweizer.»

Der Erfolg seiner zwei Romane stimmt ihn zuversichtlich: «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» von 2018 liegt in der siebten Auflage vor, «Im Fallen lernt die Feder fliegen» von 2020 ist in der dritten Auflage erhältlich. Al Shahmani hat die Bücher auf Deutsch geschrieben und auf Arabisch gedacht. «Meine Romane entstehen in meinem Kopf», sagt er. Sie handeln von Migration und Integration. Themen, die er zu gut kennt. «Schlechte Bedingungen schaffen gute Literatur. Das heisst aber nicht, dass die ganze Welt Kriege führen muss, damit Literatur gut wird.» Als Beispiel nennt er «Mein Name sei Gantenbein» von Max Frisch. «Darin geht es um Identität, man muss nicht in einem Kriegsgebiet leben, um darüber schreiben zu können. Das gilt für viele Stoffe.» Themen fänden sich überall. «Und sobald man Form und Sprache gefunden hat, hat man das Buch.»

Vor einigen Monaten gab SRF bekannt, dass Al Shahmani fester «Literaturclub»-Kritiker wird. «Ich möchte die Bücher nicht bewerten, sondern mich mit ihnen auseinandersetzen», sagte er damals. Bei seinem ersten Auftritt als Teammitglied sprach er über die Faszination, die die besprochenen Bücher in ihm ausgelöst haben. Einen Verriss werden wir kaum je hören von Al Shahmani, zu gross ist sein Respekt vor den Autorinnen und Autoren. Liegt das daran, dass viele Bücher in seiner ursprünglichen Heimat nur unter der Bettdecke gelesen werden konnten, wenn überhaupt? Oder daran, dass es selbst in der Hauptstadt Bagdad, wo gleich viele Menschen leben wie in der Schweiz, es kaum mehr Bibliotheken gibt und Bücher sehr teuer geworden sind? «Nein», sagt er, «es liegt daran, dass ich aus Erfahrung weiss, wie viel Arbeit hinter einem Buch steckt, ich weiss, wie wochenlang geschwitzt, geschliffen und geändert wurde, wie der Autor gelitten hat und gleichzeitig Freude hatte, den Text entstehen zu lassen.» Auch Bücher, die ihm nicht gefallen, liest er zu Ende.

«Für die Familie bist du eine Last, weil du gefährlich bist, unangenehme Fragen stellst.»

Usama Al Shahami
Autor, Übersetzer und «Literaturclub»-Kritiker

Aber ja, der Stellenwert von Büchern sei im Irak ein anderer als hier in der Schweiz. «Ein Buch kommt bei den allermeisten Menschen nicht an erster Stelle, es gibt tausend Dinge, für die sie zuerst Geld ausgeben müssen.» Bücher im Altpapier – undenkbar! Bücherregale auf öffentlichen Plätzen – niemals! Ein eigenes Klavier zu Hause – höchst selten! An jeder Ecke ein Lokal, in dem Kultur geboten wird? «Wir Schreibende haben uns untereinander ausgetauscht, als wären wir krank. Haben uns heimlich Manuskripte unter dem Tisch zum Lesen gegeben. Orte dafür gab es kaum welche, vielleicht drei Cafés in ganz Bagdad. Literaturschaffende waren von der Gesellschaft ausgeschlossen, galten als Wahnsinnige. Für die Familie bist du eine Last, weil du gefährlich bist, unangenehme Fragen stellst. ‹Was? Du liest, hast du nichts anderes zu tun? Bist du etwa Atheist oder Kommunist? Liest du wenigstens ein heiliges Buch oder nur Literatur?› Ich habe so manches Manuskript vernichtet aus Angst vor meinem eigenen Text.»

Das mediale Echo auf Al Shahmanis Romane war in der Schweiz vergleichsweise gross. Vor allem die Medien in der Ostschweiz berichteten fleissig. Im Irak konnte er glücklich sein, wenn eine Zeitung mal eines seiner Gedichte abdruckte. Als Schiit aus dem Süden, der nicht Parteimitglied war, stand er unter besonderer Beobachtung des Regimes. Die drei Bücher, die er publizierte, waren den staatlich kontrollierten Medien keine Zeile wert. Ein Interview im Fernsehen? Fehlanzeige. «Man kann die Medien im Irak nicht mit jenen in der Schweiz vergleichen», sagt er.

Doch auch hier sei nicht alles perfekt. Al Shahmani beobachtet die Entwicklung der hiesigen Kulturberichterstattung mit Sorge. «Es ärgert mich, dass die Zeitungen, die ich täglich lese, die Kulturberichterstattung auf Kosten der Literatur und des Theaters reduzieren. Vor ein paar Jahren noch wurden mehr Bücher besprochen als heute.» Unter dem Titel «Kultur» werde häufig über gesellschaftliche Themen berichtet. «Bei allem Respekt – auf einer Kulturseite verlange ich entsprechende Berichte, sonst ist es keine Kulturseite.» Nebst den Sparmassnahmen der Verlage macht er die digitalen Literaturplattformen für die Abnahme entsprechender Themen verantwortlich. «Ich erwarte trotzdem, dass eine grosse Zeitung ihren Leserinnen und Lesern Bücher schmackhaft macht.» Den «Literaturclub» hält er in der heutigen Zeit nicht für einen Luxus, sondern für eine Notwendigkeit. «Es ist ein freier Raum, in dem die Literatur im Zentrum steht. Das finde ich wunderschön. Denn für einen Autor ist der grösste Preis, gelesen zu werden. Und genau das ermöglicht der ‹Literaturclub›, dass Menschen Bücher lesen. Diese Realität schätze ich an der Schweiz.» Al Shahmanis dritter autofiktionaler Roman existiert erst in seinem Kopf. Das Thema verrät der Autor nur ansatzweise, indem er sagt: «Die Liebe steht im Zentrum.»

Zur Person

Usama Al Shahmani, 1971 in Bagdad geboren, wuchs in Qalat Sukar im Irak auf und studierte arabische Sprache und Literatur. Nach dem Studium arbeitete er als Wissenschaftler an der Universität Bagdad und publizierte mehrere Bücher über arabische Literatur, bevor er flüchten musste und 2002 in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher, Kulturvermittler und freier Autor. 2018 publizierte er «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch», seinen ersten Roman. Er wurde unter anderem mit dem Terra-Nova-Schillerpreis 2019 ausgezeichnet. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld.

Text: Martina Rutschmann

Bild: Ayşe Yavaş

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