«Eine Frage der Kultur» – Weg mit dem Zeug
In der Kolumne 2021 «Eine Frage der Kultur» geben Redaktorinnen und Redaktoren von SRF Kultur einen Einblick in ihre Welt aus der ganz persönlichen Warte: Welche Fragen bewegen sie? Welche Bedeutung hat für sie Kultur? Und: Was heisst überhaupt Kultur? Dieses Mal: Enno Reins, Film-Kritiker SRF Kultur.
Gab während der Seuche den Trend, Sachen zu entsorgen. Habe ich irgendwie verpasst. Vielleicht mache ich es jetzt.
Gehe zu den Regalen. «Todesarten», schön depressiver Titel. Bleibt. «Anishinaabe», verdammt, kann das Wort weder schreiben noch aussprechen noch weiss ich, was für ein Buch das ist. Muss ich irgendwann mal rausfinden. Bleibt auch. «Reader Superhelden. Theorie-Geschichte-Medien», trockene Kulturwissenschaft mit Fussnotenlawine. Geil. Bleibt.
Bisheriges Fazit: Das mit der Kulturentsorgung läuft nicht gut.
Zurück an den Schreibtisch. Schaue auf die Festplatte mit Filmen. Die ist auch voll und ich hoffe, das Löschen einer Datei geht einfacher. «A Shaun the Sheep Movie: Farmageddon». Ich mag Schafe. Bleibt. «Nomadland», guter Stoff, ich besitze alle Filme der Regisseurin. Wer wirft schon einen kompletten Satz weg. Na gut, bleibt.
Lege die Festplatte weg und denke nach. Über Grundsätzliches. Wie viel von diesen Buchstabenhaufen und Bilderspektakeln braucht man zu Hause? Bei Müesli ist das klar. Eine Packung, die reicht drei Tage. Dazu ein Liter Soja-Milch-Vanille. Passt.
«Das mit der Kulturentsorgung läuft nicht gut.»
Früher gab es ja diese sogenannten Bildungsbürger. Der Begriff für eine Gruppe Gestalten, die behauptete zu wissen, welche 100 oder 1000 Bücher oder Filme man gelesen beziehungsweise gesehen haben muss, wenn man ein Mensch von Welt sein wollte. Was für eine Epoche. Kultur war endlich. Man konnte sich nach der Geburt die Liste vornehmen und abarbeiten. So eine Gestalt bräuchte ich.
Nur, wo findet man sie? Müsste hoffen, dass Superwissenschaftler Sheldon Cooper nicht nur in der Serie «Big Bang Theory» existiert und die Zeitmaschine erfindet. Und dann schnell zurück, einen dieser kultivierten Urzeitmenschen schnappen, schliesslich back to the future und sie oder ihn der Liste gemäss ausmisten lassen.
Auf der anderen Seite: Warum eigentlich? Wenn man eine Anzahl Bücher, Filme und Lieder festlegt, die jemand angeblich kennen sollte, sichert das zwar Gesprächsstoff mit Fremden, ist aber vor allem Ausschluss und elitäres Denken. Und gibt es tatsächlich ein Kulturgut, das ich zwingend kennen muss? Natürlich nicht. Warum soll ich in Schiller schmökern, wenn ich mich nicht für Glocken interessiere? Warum soll ich «Wonder Woman» lesen, wenn ich mit goldenen Lassos nichts anfangen kann?
Also: entspannen, das mit der Zeitmaschine vergessen, nichts entsorgen, die Fülle der Kultur geniessen – wobei ich mich frage, ob ich nicht nur eine Ausrede gesucht habe, um alles stehen zu lassen.
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