«Eine Frage der Kultur»: Tanz in der Komfortzone

In der Kolumne 2021 «Eine Frage der Kultur» geben Redaktorinnen und Redaktoren von SRF Kultur einen Einblick in ihre Welt aus der ganz persönlichen Warte: Welche Fragen bewegen sie? Welche Bedeutung hat für sie Kultur? Und: Was heisst überhaupt Kultur? Dieses Mal: Ramona Drosner, Online-Redaktorin SRF Kultur.

Fremden Menschen ins Gesicht schauen: Krass. Endlich bin ich wieder auf einem Live-Konzert. Ganz ohne Maske am Einlass vorbei, dafür mit Zertifikat (QR-Codes sind heute wichtiger als IDs). Alle hinter der Tür sind geimpft, genesen oder getestet. Mir ist trotzdem flau im Magen: Ist das eine gute Idee? Wie war das nochmals mit den Aerosolen? Kommt genug Luft in den Keller? Während mein Kopf Ansteckungsrisiken durchgeht, haben meine Beine den Weg auf die Tanzfläche längst gefunden, das Herz klopft zum Beat. Einfach loslassen. Tut so gut.

Die Sehnsucht nach diesem Gefühl hat der 22-jährige Andrea offenbar kaum ausgehalten. Zumindest war sie so gross, dass er sich seinen QR-Code auf den Oberarm tätowieren liess. Der permanente Impfnachweis machte den Italiener auf Tiktok berühmt. Und ist Symbol dafür, wie sich die Gesellschaft am öffentlichen Leben spaltet, entzweit darüber, wer zum Club dazugehört. Wer kein Zertifikat hat, muss draussen bleiben. Andersdenkende finden sich zu Zehntausenden in Telegram-Gruppen wie «Corona-Rebellen Schweiz».

«Wie verändern sich Nachtleben und Kultur, wenn die Politik den Türsteher gibt?»

Ramona Drosner, Online-Redaktorin SRF Kultur

Wie verändern sich Nachtleben und Kultur, wenn die Politik den Türsteher gibt? Klar, in der Komfortzone tanzt es sich leichter. Streit um die richtigen Massnahmen löst man sicher nicht beim dritten Bier. Das erste Mal wieder im Ausgang, realisiere ich: Was mir mehr gefehlt hat als der richtige Sound (heute R&B), sind die Menschen, andere Gesichter. Begegnungen ausserhalb der Bubble. Die werden weniger, je mehr Menschen sich ausgeschlossen fühlen. Auch in meinem Umfeld haben Corona-Konflikte schon am Freundeskreis gerissen.

Ich hoffe deswegen auf die Kultur. Weil sie gemeinsame Erinnerungen schafft. Weil sie Orte bietet, an denen man sich selbst vergisst. Raum zum Wohlfühlen. Stimmt doch: Sogar das schummrige Licht auf der Clubtoilette schmeichelt dem Spiegelbild mehr als jedes andere Badezimmer. Wenigstens darauf können sich hoffentlich alle einigen.

Text: Ramona Drosner

Bild: zVg

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