Schweizer Fernsehen: Abriss oder Aufbruch?
Dieser Text erschien am Sonntag, 07. November 2021, als Teil von Anton Schallers Kolumne auf seniorweb.ch.
Die Medien rücken in der letzten Zeit wieder einmal stark in den Brennpunkt der Kritik. Wie positionieren sie sich im Spannungsfeld der Gesellschaft, der Politik und den digitalen Herausforderungen, aber auch aus den sich daraus ergebenden Chancen? In einem «umfassend recherchierten, zweiteiligen Report» nahm ein Redaktionsteam der «NZZ am Sonntag» das Schweizer Radio und Fernsehen der SRG unter dem Titel «Abriss» unter seine Lupe.
Nur: Das Schweizer Fernsehen war nie eine Perle, wie die Rechercheure der «NZZ am Sonntag» ihrer Leserschaft in der Einleitung weis machen wollen. Ja, das Schweizer Radio war und ist seit Radio Beromünster ein sehr geachteter und gern gehörter Sender. Und hat in seinen Informationssendungen tatsächlich eine Perle im Angebot: das «Echo der Zeit», seit Jahrzehnten. Das Schweizer Fernsehen dagegen hat seit 75 Jahren eine mehr oder weniger grosse Gegnerschaft in der Gesellschaft, in der Politik, in der Presse. Bei der Gründung tönte es laut aus dem Bildungsbürgertum: «Kein Radio-Franken für das Fernsehen.» In den 70-er-Jahren sammelte der Hofer-Club alles, was zu sammeln war, um zu beweisen, wie weit die Belegschaft am Leutschenbach von linken, jungen Journalistinnen und Journalisten unterwandert war. Wir wurden quasi als die Schmuddelkinder der Nation apostrophiert.
Die Inland-Redaktion hatte auf dem Höhepunkt im Kampf um das geplante Atomkraftwerk Kaiseraugst der Aargauer Regierung alle Beiträge vorzuführen, die in diesem Zusammenhang gesendet worden waren. Im Kino-Saal des Fernsehens las Leon Huber, der legendäre Sprecher der Tagesschau, die Intros zu den Beiträgen vor, danach wurden die Filme, Interviews und die Grafiken, die Kaiseraugst zum Inhalt hatten, eingespielt und gleich anschliessend diskutiert. Am Abend, am Ende dieses Marathons, blieben zwei, drei Ungereimtheiten übrig, auf denen dann die Regierungsräte herumritten. Das Fazit schliesslich: Fehlalarm. Das gleiche Prozedere hatte die Ausland-Redaktion bereits 1975 gegenüber einer Interessengruppe zu erdulden, weil ihr die Berichterstattung über die Nelkenrevolution in Portugal nicht in den Kram passte: zu links. Und eines Tages wurde ich an die Pforte gerufen, weil eine starke, laute Gruppe von erregten Frauen und Männern protestierten, weil die Tagesschau am Vortrag auf einer Grafik dargestellt hatte, welche Gebiete Israel bereits annektiert hatte. Geblieben sind mir die Ereignisse, weil sie ganz tief in die Unabhängigkeit des Schweizer Fernsehens einzugreifen versuchten, ich daran unmittelbar beteiligt war. Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Die Abstimmung über das Radio-und Fernsehgesetz. Das Aufkommen neuer Sender. Der stete Kampf um die Gebühren. Die noch nicht ausgestandene Affäre beim Westschweizer Fernsehen um sexuelle Übergriffe.
Es waren aber nicht nur politische Einflussversuche, welches das Schweizer Fernsehen erschütterten, es waren auch technologische Erneuerungen, wie gerade jetzt auch wieder. Was standen doch für Ungetüme von Kameras in den Studios, heute kann man gar mit Handys sendbare Bilder produzieren. Über das Internet werden laufend Interviews, Gespräche geführt, die trotz minderer Qualität gesendet werden.
Zoff gab es so in den Redaktionen, als eine technologische Revolution ins Haus stand: die elektronische Berichterstattung, englisch electronic news-gathering, ENG. Die ENG-Berichterstattung löste allmählich die Arbeit im Felde mit der Filmkamera ab. Es brach ein regelrechter Kulturkampf aus. Die alten Hasen weigerten sich, künftig mit der ENG-Kamera zu arbeiten; sie drohten mit der Kündigung, einige taten es auch. Die technologische Entwicklung trug aber zu einem Qualitätssprung in der Berichterstattung bei. Wie schon zu meiner Zeit beim Schweizer Fernsehen fällt der Sender auch heute im internationalen Vergleich in keiner Weise ab. Im Gegenteil. Damals verglichen wir uns jeweils an der politischen Akademie in Tutzing am Starnberger-See in gemeinsamen Seminaren mit den Nachrichten-Redaktionen von ARD, ZDF, ORF und SRG. Und siehe da: Nach Expertenmeinung hielt das Schweizer Fernsehen trotz weit geringeren Mitteln mehr als mit. Gerade heute, aktuell ist die Qualität keinesfalls zu unterschätzen. Im Gegenteil.
Was heute von Protagonisten im Report der NZZ am Sonntag als schlechte Entwicklung bezeichnet wird, empfinde ich als eine gute, gar sehr gute Weiterentwicklung: Es wird endlich umgesetzt, was wir anstrebten: Hintergrundinformation. Weg von sogenannten «Türschletzer-Beiträgen» in 20 bis 40 Sekunden, wie beispielsweis bei RTL. Drei Korrespondentinnen fielen mir in der letzten Zeit ganz besonders auf: Henriette Engbersen, die Londoner Korrespondentin; sie berichtete beispielsweise sehr aufschlussreich über die Schwester von Boris Johnson. Alexandra Gubser, ihre Pariser Kollegin, die aktuell vor Ort über den Fischereistreit zwischen Grossbritannien und Frankreich mit betroffenen Fischern im Interview berichtet. Und Luzia Tschirky, die jeweils kompetent über die Ereignisse in der Ukraine informiert, dabei Menschen in den Vordergrund rückt, sich auch wagt, Menschen aus dem Krisengebiet um Aserbaidschan herum zu porträtieren. Die Männer stehen ihnen nicht nach: insbesondere Andy Müller (Bundeshaus), Michael Rauchenstein (Brüssel), Peter Balzli (Osteuropa) und Pascal Weber (neu Washington). Und das Moderationsteam der Tagesschau, der wichtigsten Info-Sendung des Schweizer Fernsehens, überzeugt. Andrea Vetsch, Cornelia Bösch, Franz Fischlin und Florian Inhauser (selbst er mit seiner etwas eigenwillig gestelzten Art) präsentieren die Sendung auf internationalem Niveau.
Natürlich: Das Schweizer Fernsehen steht vor einer gigantischen Aufgabe, mit ihm aber auch die andern Medien-Häuser, selbst die NZZ; ihre Produkte sind davon nicht ausgenommen. Sie alle haben sich den Herausforderungen zu stellen, die sich einmal durch die neuen sozialen Medien ergeben, zum andern ist es die stets voranschreitende technologische Entwicklung, die sich als grosses Problem in den Medienhäusern auftürmt. Haarscharf weiss niemand, wo der Weg genau hinführt. Die NZZ versucht es mit seitenlangen Artikeln, die nicht immer leicht zu verstehen sind, die Sonntagspresse mit Reports, die mehr versprechen, als sie einhalten. Der Tagesanzeiger laviert zwischen Hintergrund und Aktualität. Der Blick biedert sich in der Aktualität oft der rechten Seite an, versucht aber, sich in der Kommentierung eher mittelinks zu positionieren.
Alle sind am Experimentieren. Und das ist gut so. Dass da nicht alle Mitarbeitenden mitmachen wollen, nicht mitmachen können, ist verständlich. Dass das Schweizer Fernsehen sich resolut dieser Herausforderung zu stellen hat, nicht ausweichen kann, ist angesichts der der fast 1.2 Mia. Franken, die dem Unternehmen über Gebühren jährlich zufliessen, sonnenklar. Dafür haben Verwaltungsrat und Management zu sorgen. Die Journalistinnen und Journalisten in den Informationsendungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, auch in der Unterhaltung werden es richten, wenn sie von oben für ihre Kernaufgabe die entsprechenden Finanzen und die notwendige Rückendeckung auch erhalten.
Anton Schaller war Chefredaktor der Tagesschau des Schweizer Fernsehens und leitete die Bundeshausredaktion. Er war Moderator und Leiter des Café Fédéral, der Rundschau und der Freitagsrunde. Schaller moderierte zudem zahlreiche eidgenössische Abstimmungs-, Wahl- und Sondersendungen.
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