Anna Lemmenmeier: «Ich verstehe mich nicht als Kriegsreporterin»
Das Berichten aus Kriegs- und Krisengebieten ist für viele Reporterinnen Alltag. Dank ihren Geschichten hat die Berichterstattung aus Krisengebieten nicht nur ein männliches Gesicht. In unserer Serie erzählen SRF-Korrespondentinnen, was hinter dem Mikrofon oder der Kamera geschieht und ob Geschichten mit einer weiblichen Stimme erzählt anders klingen. Afrikakorrespondentin Anna Lemmenmeier ist eine von ihnen.
Anna Lemmenmeier ist gerade von einer Reise in den Sudan zu ihrer Familie in Nairobi zurückgekehrt. Seit dem Putsch im Oktober gehen die Sudanesinnen und Sudanesen fast täglich zu Tausenden auf die Strasse und protestieren gegen die Militärregierung. Dieser starke Durchhaltewille beeindrucke sie immer wieder aufs Neue. Im Gespräch erzählt Anna Lemmenmeier mehr über ihr Leben als Afrika-Korrespondentin.
SRG Deutschschweiz: Anna Lemmenmeier, Sie decken als Korrespondentin den ganzen Kontinent ab. Wie schaffen Sie das?
Anna Lemmenmeier: Ganz ehrlich, es ist manchmal schon frustrierend, dieses Gefühl man habe zu wenig Kapazitäten. Als Korrespondentin berichte ich über 49 Länder. Andererseits schätze ich die grosse Flexibilität sehr, dass ich viel reisen und entscheiden kann, wo ich einen Fokus setze.
Erinnern Sie sich an Ihre allererste Reportage aus Afrika?
Daran kann ich mich gut erinnern. Ich war damals Anfang 20 und noch nicht Korrespondentin. Ich habe in Angola einen Freund besucht. Weil mich Blutdiamanten interessierten, bin ich allein auf einem Motorrad in den Busch gefahren – ohne Akkreditierung und ohne Papiere. Niemand wusste, wo ich bin. Das würde ich heute nie und nimmer mehr riskieren. Diamanten sind zudem ein schwieriges und gefährliches Thema. Im jugendlichen Übermut dachte ich, es kommt schon gut – und das ist es zum Glück auch.
Berichten Sie als Korrespondentin anders als Ihre Berufskollegen?
Ja und nein. Ich denke, im Journalismus kommt es in erster Linie auf die Person an und weniger auf das Geschlecht. Ich glaube aber, dass es Frauen noch mehr ein Anliegen ist, dass auch Frauen zu Wort kommen. Gerade auf dem afrikanischen Kontinent braucht es oft noch mehr Anstrengung eine Expertin zu finden. Diesen Sondereffort nehmen Frauen vielleicht eher auf sich als Männer.
Beobachten Sie, dass Sie als Frau an bestimmte Bevölkerungsgruppen näher herankommen?
Vielleicht. Ich war vor kurzem in Somalia und es war mir ein grosses Anliegen, mit einer Gynäkologin zu sprechen. Dort ist Muttersterblichkeit ein Riesenthema. Sicher hätte diese Gynäkologin einem Mann auch erzählt, aber ich weiss nicht wie detailliert und es wäre einem Mann vielleicht auch weniger ein Anliegen gewesen.
Erleben Sie bei der Berichterstattung auch Momente, die für eine Frau schwieriger sind?
Von den Themen her habe ich nicht das Gefühl. Von den Erwartungen an eine Frau in einem gewissen Kontext schon. Zum Beispiel in Somalia. Das muslimische Land ist sehr konservativ. Dort tragen alle Frauen Kopftuch und lange Gewänder. Bei der Vorbereitung wurde mir bewusst: Ich habe gar nichts zum Anziehen! Denn in anderen muslimischen Ländern in meinem Berichtsgebiet ist die Kleiderordnung lockerer. Ich musste darum alle meine muslimischen Freundinnen in Nairobi anrufen und fragen, ob sie mir was ausleihen könnten. Später musste ich dann feststellen: Diese Kleidung ist nicht praktisch zum Arbeiten. Als Mann müsste ich mir solche Überlegungen weniger machen.
Sie wurden schon mehrfach Zeugin von Gewalttaten. In welchen Momenten haben Sie Angst?
Am meisten Respekt habe ich vor Überlandfahrten mit dem Auto, weil hier alle wie die Henker fahren. Angst macht mir die schiesswütige Polizei, wenn Sicherheitskräfte bei Demonstrationen willkürlich in die Menge schiessen, wie ich das schon in Kenia, in Zimbabwe oder im Sudan miterlebt habe. Oft sind dies gezielte Machtdemonstrationen, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Die Berichterstattung über solche Demonstrationen ist etwas vom gefährlichsten für mich. Ich lege mir vorher einen Fluchtplan zurecht. Das musste ich auch erst lernen, beim ersten Mal hatte ich das völlig ausser Acht gelassen. Zum Glück konnten uns Journalistenkollegen einen Weg aus der Menge zeigen.
Wann tragen Sie bei der Berichterstattung eine schusssichere Weste?
Bisher habe ich nur ein einziges Mal einen Helm und eine Weste getragen. Das war am Anfang meiner Korrespondentinnenzeit bei einer Demonstration in Kenia, bei der mit einem grossen Polizeieinsatz gerechnet wurde. Ich könnte schusssichere Westen beim Journalistenverband ausleihen. Ich verstehe mich aber nicht als Kriegsreporterin. Das wird auch nicht von mir erwartet als SRF-Korrespondentin. Ich habe kein Interesse an eine Frontlinie zu gehen. Auch weil ich glaube, dass die Geschichten hinter der Front viel spannender sind. Wenn gekämpft wird, kannst du mit niemandem sprechen. Und du bist sehr mit deiner eigenen Sicherheit beschäftigt.
Wie gehen Sie mit solchen Erlebnissen um?
Das geht nicht spurlos an einem vorbei. Das Erlebte holt einen oft erst ein bisschen später ein. Als ich über die erste Demonstration für Abiy Ahmed, heute Ministerpräsident von Äthiopien, berichtete, wurde er Ziel eines Anschlages. Ich hatte es nicht gemerkt. Ich hatte gehört, wie es knallte. Ich hatte gesehen, wie Leute weggetragen wurden, aber ich hatte nicht begriffen was passierte. Erst einen Tag später bemerkte ich, dass ich mal Pause einlegen musste. Ich flanierte, gönnte mir Cremeschnitte und Kaffee, war einfach Touristin in Addis Abeba. Auch telefoniere ich auf Reportagereisen oft mit Freunden oder Berufskolleginnen und erzähle, was mich beschäftigt.
Sie sind Mutter von zwei kleinen Kindern. Reist eine Mutter anders zu anspruchsvollen Reportagereisen?
Wenn ich auf Reisen bin, beobachte ich manchmal, dass ich mir eine Schutzhülle umlegen muss, damit nicht alles so nah an mich herankommt. Wenn ich wieder zu Hause bei den Kindern bin, lasse ich wieder los. Dieser Wechsel ist manchmal nicht ganz einfach.
Gibt es etwas, das Sie auf Reportage immer dabeihaben?
Ja, eigentlich ziemlich viel (lacht). Ich habe mittlerweile ein ausgeklügeltes System. Was ich immer dabei habe, ist ein Stapel Passfotos, weil auf Reisen durch Afrika immer wieder Administratives anfällt. Auch meine Krankenkassenkarte habe ich immer bei mir. Im Spital wird nichts unternommen, solange sie nicht wissen, wer die Behandlung bezahlt.
Wie viel Aufwand stecken Sie in die Planung Ihrer Reisen?
Es kommt darauf an wohin und ob ich vorher schon einmal in diesem Land war. Es gibt Länder, in denen die Behörden die Medien bewusst nicht ins Land lassen. Andere machen einem die Berichterstattung alles andere als leicht. Für ein Visum in den Kongo beispielsweise rechne ich mit drei Monaten Wartezeit. In Somalia war ich mit vier bewaffneten Sicherheitskräften unterwegs, das muss organisiert sein. Gute Nerven braucht es auch auf Reisen. Ich kann nicht einfach in einen Zug einsteigen. Das Reisen ist oft ermüdend, die Strassen sind schlecht, das Klima warm und in gewissen Teilen feucht. Eine zwölfstündige Autofahrt auf einer holprigen Strasse bei 35 Grad ist nun mal anstrengender als eine Fahrt in einem Intercity-Express.
In einer Diskussion sagten Sie, dass Sie die Hoffnung für den Kontinent in der Jugend sehen. Inwiefern?
Gerade in den Städten gibt es sehr viele junge Menschen Mitte zwanzig, die im Ausland studiert haben, gut vernetzt sind und wissen, was auf der Welt läuft. Im Sudan beispielsweise geht die Jugend für eine bessere Zukunft auf die Strasse und nimmt dafür in Kauf zu sterben. Schon vor drei Jahren, als ich erstmals über eine solche Demonstration berichtet habe, hatte ich das Gefühl, dass jede Person auf dem Platz mir sagen konnte, um was es genau geht. Sie sprachen Revolution, von Strukturen aufbrechen, hatten Ideen, wie man Institutionen erneuern könnte. Diese jungen Menschen mit dieser unbeschreiblichen Energie, das ist etwas vom beeindruckendsten, über das ich bisher berichten konnte.
Welches Erlebnis werden Sie nie vergessen?
Es war noch vor meiner Zeit als Afrika-Korrespondentin, da bin ich in Burkina Faso durch puren Zufall Teil der Rittergarde vom König der Mossi in Ouagadougou geworden. Eigentlich hatte ich zum Reiten abgemacht, plötzlich musste ich dem König vorreiten. Als Dank habe ich eine Kolanuss erhalten, die man in vielen Teilen Afrikas in rituellen Momenten überbringt. Die Nuss habe ich noch immer, sie liegt hier vor mir auf dem Fenstersims.
Afrika-Korrespondentin Anna Lemmenmeier
Anna Lemmenmeier berichtet für SRF seit über vier Jahren als Auslandkorrespondentin aus Afrika. Nach ihrer Matura besuchte sie zum ersten Mal Burkina Faso. Es folgte ein Studienjahr in Ghana. Von da an zog es sie immer wieder in afrikanische Länder zurück. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in Nairobi.
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