Eine vielstimmige Standortbestimmung zur Diversität im Service public

Die vielfältige und vielstimmige Schweiz braucht einen Service public, der diese Realität widerspiegelt. Deshalb brachte die SRG Deutschschweiz an der Medientagsatzung vom 1. Juni 2022 Fachpersonen aus verschiedenen Gruppierungen mit Expertinnen und Experten aus der SRG und SRF zusammen. Die Tagung im GDI Rüschlikon bot Einblicke, Perspektiven und Szenarien für die Zukunft.

«Vielfalt hat viele Gesichter. Die Frage ist, welches wir sehen.» Jurczok 1001 ist seit 25 Jahren als Spoken-Word-Artist unterwegs und legt an der Medientagsatzung der SRG.D gleich zu Beginn eine Performance über Diversität in den Medien an den Tag. «Das, was Jurczok 1001 angesprochen hat, ist nicht nur dringend, sondern drängend», resümiert Niggi Ullrich, Leiter der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaftliche Rolle SRG.D, in seiner Ouverture. Diversität sei nicht nur zu diskutieren, sondern sie müsse auch gelebt werden. Gesagt, getan. So werden die Anwesenden im Saal von Inés Mateos, Expertin für Bildung und Diversität, für ein Experiment eingespannt. Die rund 60 Teilnehmenden sollen sich im Saal von der einen auf die andere Seite bewegen, wenn sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen. Beispielsweise alle, die sich als Mann identifizieren. Alle, die Kinder haben. Alle, die unter 30 sind. Alle, die auf dem Land aufgewachsen sind. Alle, deren Mutter hauptsächlich Hausfrau war. Alle, die selber in die Schweiz eingewandert sind. Alle, die von sich sagen würden, dass sie Rassismuserfahrung haben. Alle, die selbst oder deren Familienmitglieder eine Beeinträchtigung oder psychische Erkrankung haben.

Inés Mateos ordnet das Ganze schliesslich anhand einiger Zahlen und Fakten ein und zieht Vergleiche der Gruppengrösse vor Ort zur Zusammensetzung der Schweizer Bevölkerung. Einige Gruppen sind unterrepräsentiert, andere relativ ausgeglichen und wiederum andere eher überrepräsentiert. Dabei tauchen auch immer wieder Fragen zur Definition auf. Was ist Land? Gehört da auch die Agglo dazu? So kommt es, dass sich bei einigen Aufforderungen auch Personen in der Mitte einfinden, da sie sich bei beiden Gruppen nicht zugehörig fühlen. Diskussionsbedarf gibt es vor allem beim Aufruf bezüglich Rassismuserfahrung. Wann handelt es sich um Rassismus und was zählt zur Diskriminierung?

Die Medientagsatzung vom 1. Juni 2022

Will die SRG ihren gesetzlich verankerten und konzessionierten Auftrag erfüllen, muss sie den viefältigen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Schweiz programmlich, betrieblich und institutionell (pro)aktiv Rechnung tragen. Ein zeitgemässes und zukunftskompatibles Engagement der Trägerschaft SRG.D zugunsten des medialen Service public muss sich zwingend auch an gesellschaftlichen Entwicklungen und Diversitätskriterien orientieren.

Aus diesem Grund hat die SRG Deutschschweiz die alljährliche Medientagsatzung zum Thema Diversität im Service public organisiert. Durch das Programm geleitet hat Inés Mateos, Expertin für Expertin für Bildung und Diversität. Teilgenommen haben Programmschaffende von SRF, Gremienmitglieder der SRG.D sowie interessierte Personen aus dem Umfeld der SRG.

Zu Beginn gab es Inputpräsentationen von SRF und der SRG, worauf eine Expert:innenrunde mit einem moderierten Austausch folgte. Anschliessend verteilten sich die Teilnehmenden an acht «Tables rondes», wo sie die Gespräche weiter vertiefen konnten. Zum Abschluss wurden die wichtigsten Fragen bei einem Panelgespräch nochmals aufgegriffen.

Die physische Erfahrung, plötzlich zu einer Minderheit zu gehören, sorgt für einige Denkanstösse. Eine Teilnehmerin gesteht, dass sie die Rassismusfrage emotional sehr mitgenommen hat. Es könne aber sein, dass sie es verstärkt wahrgenommen habe, weil heute ihre Periode eingesetzt hat. Einige im Saal tauschen verdutzte Blicke aus – insbesondere Männer. Und mindestens eine Frau im Saal wirft ihr einen anerkennenden «I feel you!»-Blick zu. Womit wir bei einem weiteren Vielfaltsthema angelangt sind: dem Gender Shift.

Darauf geht auch Susanne Wille, Abteilungsleiterin Kultur und Mitglied der Geschäftsleitung SRF in ihrem Input zu den Absichten, Prinzipien und Zielen von SRF ein. Sie spricht aber nicht nur über die Projekte «Chance50:50», «idée femmes», «MeretO» oder die Charta der Lohngleichheit, sondern auch über das interne Soundingboard «Rassismus & Migration», die publizistischen Leitlinien oder das Diversity-Board.

«Sie haben es gespürt: Das Bemühen ist da. Die Debatte auch. Aber wir sehen, dass es noch viel Arbeit braucht.»

Susanne Wille, Abteilungsleiterin Kultur und Mitglied der Geschäftsleitung SRF

Und damit ist die Diskussion entzündet, an welcher sich nicht nur Gremienmitglieder der SRG Deutschschweiz und weitere Personen aus der Trägerschaft beteiligen, sondern auch Programmschaffende und Leute aus verschiedenen Gruppierungen. Und diese verfolgen alle dasselbe Ziel: «Die veralteten Strukturen in den Medien aufzubrechen», wie es Nicole Döbeli, Journalistin und Präsidentin Medienfrauen Schweiz, auf den Punkt bringt.

«Diversität ist keine Frage der Moral. Sie ist die Zukunft.»

Konstantina Vassilou-Enz, Geschäftsführerin Diversity Kartell

Da mit dem Thema aber auch Schicksale von Menschen verknüpft sind, bringt dieses einen gewissen Ballast mit sich. Es sei deshalb wichtig, dass die Leichtigkeit nicht verloren gehe. Und man die Chance auf einen Dialog nicht scheue aus Angst, irgendwo anzuecken, meint Livio Fosco, Fachspezialist HR und Diversity-Beauftragter bei SRF. «Nur durch kritische Stimmen sehen wir, wo die Entwicklungsfehler liegen», ist er überzeugt.

Und kritische Voten sind an der Medientagsatzung durchaus vorhanden. Einer der Teilnehmenden meldet sich beispielsweise zu Wort, dass Diversität zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. «Eine Spaltung der Gesellschaft wäre heikel. Aber eine Fraktionierung kann man nicht umgehen oder aufhalten. Es ist spannend, wie die SRG damit umgeht», meint Niggi Ullrich darauf. An den Stehtischen bei den sogenannten «Tables rondes» wird das Thema in kleineren Gruppen erneut aufgegriffen: Diversität bediene schon lange nicht mehr das Zweipol-System wie Stadt und Land oder Jung und Alt, sondern breche dieses auf. Schliesslich trage jede Person etwas in sich, das von Diskriminierung bedroht sei in einem spezifischen Setting. Dabei schwingt das kulturelle Gedächtnis stark mit – ältere Generationen müssen den Umgang mit der Thematik noch erlernen, jüngere wachsen bereits damit auf.

«Alle Medienschaffenden haben Perspektiven, wie sie auf die Welt kommen. Und diese sind ausschlaggebend, wo sie hinschauen.»

Anna Jikhareva, Co-Präsidentin Neue Schweizer Medienmacher:innen (NCHM)

Man stelle sich andere Fragen, wenn man jemanden mit einem gewissen Hintergrund im eigenen Umfeld habe, erwähnt jemand aus dem Publikum. In gewisser Hinsicht leben und bewegen wir uns alle in Bubbles: «Die Aufgabe des Journalismus ist es, das anzuschauen, zu analysieren, einzuordnen und ein vollständiges Bild zu zeichnen», so Konstantina Vassiliou-Enz, Geschäftsführerin vom Diversity Kartell. Es liesse sich nicht vermeiden, dass wir alle unsere eigenen Erfahrungen gemacht haben. Aber man müsse selber wissen, wo man stünde, um guten Journalismus zu machen. Dem stimmt auch Inés Mateos zu: «Ein selbstreflektiver Blick ist wichtig.» Senad Gafuri, Projektleiter bei «Reporter:innen ohne Barrieren», berichtet, dass er bis vor einem Jahr das Gefühl hatte, auf Behinderungserfahrungen sensibilisiert zu sein. Doch seine Arbeit bei INCLUSION.HANDICAP habe sein Bewusstsein geändert, da er seither auch eine emotionale Verbindung dazu habe. Auch Konstantina Vassiliou-Enz ist zur selben Erkenntnis gekommen. «Sobald Emotionen dabei sind, ist es möglich, eine Veränderung zu bewirken», sagt sie.

Genauso wichtig finden mehrere Anwesende auch Vorbilder in den Medien, die den Weg ebnen. «Wenn ich Fernsehen schaue, fühle ich mich nicht repräsentiert. Ich fühle mich nicht angesprochen», gibt Anna Jikhareva auf dem Podium zu bedenken. Sie bezieht sich damit auch auf die Intersektionalität – wobei verschiedene soziale oder körperliche Merkmale gleichzeitig zu berücksichtigen sind. «Alles muss zusammengedacht werden, sonst ist es nur für das Schaufenster», sagt Konstantina Vassiliou-Enz.

«Wenn wir Vielfalt nicht abbilden, verlieren wir journalistische Qualität.»

Laura Köppen, Leiterin Audience und Mitglied der Geschäftsleitung SRF

Auch an einigen «Tables rondes» sorgen Role Models für Diskussionsstoff. Es sei interessant, eine Moderatorin oder einen Moderator zu sehen, die oder der Schwächen hat. Je grösser aber das Format sei, desto geschliffener kämen die Moderierenden daher. Einige Stimmen finden es sogar eher kontraproduktiv, wenn beispielsweise ein Format zu den «Paralympics» von einer behinderten Person moderiert werde. Viel eher solle man Menschen aus einer Minderheit nicht nur dann zu Wort kommen lassen, wenn es um ein Diversitätsdimension geht, sondern ganz selbstverständlich auch als Expertinnen und Experten für anderweitige Themen im Programm einsetzen. Auch Natasha Ruf, Moderatorin von SRF Signes, hat vor einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, sich als gehörlose Person auf eine ausgeschriebene TV-Moderationsstelle zu bewerben. Von der Gruppe am Stehtisch erhält sie viel Zustimmung: Es sei wichtig, diesbezüglich immer wieder unbequem zu sein.

An einem anderen Stehtisch wird indes darüber debattiert, wie eine Rekrutierung lustvoller für beide Seiten gestaltet werden kann. Oftmals sei es so, dass ein Bewerbungsprozess mit viel Frustpotenzial verbunden sei. Dass sich bei Ausschreibungen, die zu allgemein formuliert seien – um möglichst alle anzusprechen – nicht unbedingt die Leute bewerben, nach denen man suche. Und bei zu spezifischen Anforderungen bezüglich Diversitätsmerkmalen – beispielsweise dem Geschlecht – sich andere ausgeschlossen fühlen.

Sind solche Quoten der einzige Weg zu einer Selbstverständlichkeit? Das fragen sich einige der Anwesenden. Quoten seien zwar unsympathisch, aber manchmal für eine Zeit nötig, fasst Isabelle Maissen, Moderatorin bei SRF 4 News, das Gespräch in der Gruppe zusammen. Ihr stimmt auch Christina Pollina, Produzentin bei SRF Signes zu. Und sie erzählt, dass eine Person aus der Gruppe am «Table ronde» bei den Vorgesetzten immer wieder mit Zahlen argumentieren müsse und nicht mit der Wichtigkeit des Themas Diversität. Manche Menschen seien sich nicht gewohnt, über Bedürfnisse und Barrierefreiheit zu diskutieren. Inés Mateos folgert, dass es um Verteilfragen gehe. Es sei ein Aufgeben von Privilegien und Macht: «Wenn Leute reinkommen, müssen andere rausgehen.»

«Wenn die Realität nicht abgebildet wird, geht dadurch auch die Glaubwürdigkeit verloren.»

Konstantina Vassilou-Enz, Geschäftsführerin Diversity Kartell

Das leitende Prinzip für die Diversitätsdebatte müsse der gesellschaftliche Auftrag sein, da auch alle zahlen, meint Inés Mateos. Es gebe kein: «Unsere Zuhörer:innen wollen das nicht hören», man müsse sich die Gesellschaft anschauen, wer zuhören könnte: «Es braucht eine SRG, die so vielfältig ist wie die Gesellschaft.» Sarah Jost, Mitglied Regionalvorstand SRG.D, findet es indes wichtig, dass sich auch Leute mit Privilegien an diesem Diskurs beteiligen und diesen voranbringen. Wobei Anna Jikhareva darauf hinweist, dass man dabei nicht den Goodwill derjenigen verlieren darf, die bei der «No Billag»-Abstimmung vor vier Jahren für den medialen Service public eingestanden sind.

Dieses Spannungsfeld wird die Trägerschaft also auch noch in den nächsten Jahren begleiten. Die Medientagsatzung der SRG Deutschschweiz zur Diversität im Service public dient somit nicht nur zur Standortbestimmung, sondern bildet zugleich auch ein Kick-off für die nächste grosse Abstimmung, welche auf die SRG zukommt.

Text: SRG.D

Bild: SRG.D/Gian Vaitl

Kommentar

Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar inkl. Name in unserem LINK-Magazin veröffentlicht werden kann

Leider konnte dein Kommentar nicht verarbeitet werden. Bitte versuche es später nochmals.

Ihr Kommentar wurde erfolgreich gespeichert und wird nach der Freigabe durch SRG Deutschschweiz hier veröffentlicht

Weitere Neuigkeiten