Der Zweck der Unabhängigkeit ist die Wahrheit

Für Philosoph Francis ­Cheneval gibt es keine materielle Unabhängigkeit – geistige ­jedoch sehr wohl. Ein Gespräch über die (Un)abhängigkeit von ­Medien und darüber, wie Medienschaffende ­ihren blinden Fleck ­umgehen ­können.

LINK: Propaganda, Fake News, gefälschte Bilder: Der Ukraine-Krieg führt uns vor Augen, wie wichtig unabhängige Berichterstattung ist. Aber wie definiert man diese überhaupt?
Francis Cheneval: Einerseits sollten die Personen, die Bericht erstatten, unabhängig sein in Bezug auf den Gegenstand. Das heisst: nicht mit eigenen Interessen verwickelt sein, nicht Richter – oder ­Berichterin – in eigener Sache spielen. Andererseits sollten sie auch unabhängig von den Interessen der Parteien sein, worüber sie Bericht erstatten. Im Ukraine-Krieg heisst das etwa ­unabhängig von beiden Kriegsparteien – auch wenn man eine Position hat und sagt, wer Aggressor und wer Opfer ist.

Das schliesst sich nicht aus?
Nein, denn der Zweck der Unabhängigkeit ist die Wahrheit. Als Journalistin oder Journalist muss man Informationen verifizieren. Ist man unabhängig, geht das am besten. Journalisten, die berichten, was sie gesehen und gehört haben, können objektiv zu einem Schluss kommen – indem sie die Quellen angeben und zeigen, wie sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen sind. Wenn die Quellen zu wenig hergeben, enthalten sie sich eines Urteils. Unabhängigkeit bedeutet also nicht Urteilsenthaltung in jedem Fall, sondern bezeichnet ­lediglich eine notwendige Bedingung einer gut belegten und nicht verzerrten Urteilsbegründung.

Unabhängigkeit bedeutet also nicht Urteilsenthaltung in jedem Fall, sondern bezeichnet ­lediglich eine notwendige Bedingung einer gut belegten und nicht verzerrten Urteilsbegründung.

Soweit also die Definition von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten. Wie sieht es mit den Medien selbst aus?
Der Begriff «unabhängig» suggeriert einen Zustand, den es in der materiellen Welt nur qualifiziert gibt. Man ist ­materiell nie schlicht unabhängig. Die Frage ist also nur: Von wem ist man wie materiell abhängig und in Bezug auf was? Solange man als Firma nicht von einem Kunden abhängig ist, sondern diverse, kleine hat, ist man unabhängig von einzelnen Kunden, nicht aber von allen oder einer Mehrheit. Die Existenz vielfältiger Abhängigkeiten ist keine Unabhängigkeit – aber eine Medienanstalt, die von vielen einzelnen Kunden abhängig ist, ist materiell unabhängiger als eine mit einer «Klumpen­abhängigkeit». Dasselbe gilt für das Aktionariat etc.

Es geht also vor allem um wirtschaftliche Abhängigkeit?
Es gibt die Begriffe der geistigen und der materiellen Unabhängigkeit, und es geht um beides. Es ist klug, davon auszugehen, dass materielle (Un)abhängigkeit die geistige in der Regel befördert. Eine notwendige begriffliche Beziehung gibt es aber nicht. Geistige und materielle Unabhängigkeit sind voneinander logisch unabhängig. In der Wirklichkeit sind sie komplex miteinander verstrickt.

Ist der Verzicht auf Werbung somit ein Garant für Unab­hängigkeit?
Das glaube ich nicht. Auch hier: Nur wer weniger Kunden hat, hat ein Problem. Unterschiedliche Werbe­­ein­nahmen hingegen führen zu einer Diversifikation von ­Abhängigkeit. Hat man gar zwei Finanzierungsquellen, also sowohl diverse Werbung als auch ein Abonnementsmodell, ist die materielle Abhängigkeit noch kleiner.

Häufig nennen sich vor allem diejenigen Medien unabhängig, die zu keinem Verlag oder Medienhaus gehören.
Bei der «Republik» ist man als Abonnentin ja gleichzeitig Mitverlegerin. Die «Republik» ist somit von ihren Mitverlegern abhängig. Aber da es viele sind – viel mehr als bei Medien­häusern wie Tamedia und Ringier – verfügt die «Republik» über ein grosses Mass an Unabhängigkeit, mindestens von ihren Verlegerinnen. Wichtig sind aber bei Firmen und Medien auch die Regeln oder Gesetze, die eine Einflussnahme verhindern sollen. Regeln und Gesetze sind geistige Normen, die «Firewalls» zu materiellen Abhängigkeiten darstellen können.

Bei Medien also die Trennung von Verlag und Redaktion?
Genau. Beim Staat ist das auch so: Interessanter­weise sind Institutionen zum Teil von der Regierung materiell abhängig, etwa weil gewisse personelle Besetzungen über ­Regierungsinstanzen laufen, die Institutionen im Auftrag der jeweiligen Behörde handeln, womöglich sogar von dieser ­direkt finanziert werden. Das gilt zum Beispiel für die Justiz. Aber wir müssen davon ausgehen können, dass Regierung und Parlament keinen nennbaren Einfluss auf die konkrete Rechtsprechung haben. Die Unabhängigkeit von einer Instanz, die von einer anderen materiell abhängig ist, garantieren die ­Regeln und Gesetze.

Institutionen sind zum Teil von der Regierung materiell abhängig, werden womöglich sogar von dieser ­direkt finanziert. Aber wir müssen davon ausgehen können, dass Regierung und Parlament keinen nennbaren Einfluss auf die konkrete Rechtsprechung haben.

Wie sieht dies bei Service-public-Medien aus? Die SRG muss sich ja häufig den Vorwurf anhören, sie sei ein Staatsmedium.
Es herrscht in der Gesellschaft eine gewisse Skepsis, wenn bei Medien Gebührengelder im Spiel sind, wohl aus dem Grund, dass die materielle Abhängigkeit die geistige in der Regel befördert. Interessant ist, dass unsere Universitäten auch von öffentlichen Geldern finanziert werden. Ich behaupte aber als Mitglied der Universität Zürich, dass die konkrete ­Forschung inhaltlich unabhängig vom Zürcher Kantons- oder ­Regierungsrat ist. Das könnte der Fall sein, weil die materielle Abhängigkeit vom demokratischen Staat, der an Gesetze und politische Kompromissfindung gebunden ist, mehr geistige Unabhängigkeit stiftet, als wenn die Universität von einzelnen privaten Geldgebern und vom Verkauf der Lehre und Forschung abhängig wäre. Die SRG ist bis zu einem gewissen Grad ein analoger Fall.

Es wird häufig kritisiert, Medien würden instrumentalisiert. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski scheint genau zu wissen, wie er sich der Medien bedienen kann.
Wolodimir Selenski hat sicher einen Sympathie­bonus, er hat sich aber auch eine hohe Glaubwürdigkeit erarbeitet. Es ist an den Medien, seine Aussagen zu verifizieren und weitere Quellen hinzuzuziehen.

Wie sieht es mit Social Media aus?
Als die sozialen Medien noch neu waren, gab es sehr grosse Verzerrungen in der politischen Wahrnehmung wegen der sogenannten Echokammer oder Bubble, in der man sich befand. Inzwischen sind die Menschen jedoch skeptischer geworden und begegnen sozialen Medien kritischer als früher – zumindest viele Menschen tun das. Auch die editorische Verantwortung der Plattformen ist inzwischen etwas grösser geworden.

Gibt uns Medienschaffenden der Glaube, unabhängig zu sein, vielleicht auch blinde Flecken?
Die ökonomische Unabhängigkeit ist in der Tat nur eines der Kriterien für objektive Berichterstattung. Es gibt aber weitere: das journalistische Ethos, die epistemischen Tugenden. Dazu gehören die Genauigkeit, die Sorgfalt und viele weitere Kriterien des journalistischen Arbeitens. Hat man keine Abhängigkeit, also spricht einem niemand drein, dann heisst das nicht, dass man automatisch eine gute Berichterstattung hat. Auf der Grundlage ökonomischer Unabhängigkeit beginnt die Arbeit erst!

Wie sieht es mit der Wahl der Themen aus? «Wir bringen die Infos, die die Leser wollen» – oft verstecken sich Medien doch auch hinter diesem Argument. Aber sind sie dadurch wirklich unabhängig?
Gerade bei Boulevardmedien herrscht sicher ein ­gewisser Drang zu Sensationalismus. Mit der Aussage, damit lediglich auf die Nachfrage der Leserschaft zu antworten, ­geben sie aber zu, dass sie von ihr abhängig sind.

Gerade bei Boulevardmedien herrscht sicher ein ­gewisser Drang zu Sensationalismus. Mit der Aussage, damit lediglich auf die Nachfrage der Leserschaft zu antworten, ­geben sie aber zu, dass sie von ihr abhängig sind.

Die Verbreitung von Informationen scheint tatsächlich immer mehr kontrolliert zu sein. Inzwischen haben alle grossen Firmen eigene Kommunikationsabteilungen, fast alle Branchen betreiben Lobbying. Wird die Unabhängigkeit in der Welt kleiner?
Nicht unbedingt. Der Technologiewandel hat auch dazu beigetragen, dass Informationen viel einfacher und schneller verifiziert werden können. Wenn eine Information einmal öffentlich im Umlauf ist, bringt sie keine auch noch so mächtige Lobby zurück in die Tube. Das Wachstum der Kommunikationsabteilungen hängt womöglich mit einem erhöhten Zugang zu Information und einem erhöhten Bedarf an kommunikativer Defensive zusammen.

Auch Whistleblower haben oft eine ganz genaue Absicht und eine Agenda. Stehen hinter jedem Scoop Interessen?
Wichtig ist, dass Journalisten die Quelle (Whistleblower) und Faktum trennen. Erstens muss man versuchen, das Faktum unabhängig von der Quelle zu beurteilen. Zweitens muss man überlegen, ob die Öffentlichkeit auf die Nachricht überhaupt einen Anspruch hat. Wahrheit macht frei – so steht es in der Bibel. Das bedeutet nicht, dass alle einen Anspruch darauf haben, alles zu wissen, auch Privates etc. Drittens kann man sich die Frage stellen, welche Agenda die Person haben könnte, die den Medien eine Nachricht zugespielt hat. Das ist aber nur wichtig, wenn es schwierig ist, die Nachricht zu verifizieren.

Welches dieser drei Kriterien ist am wichtigsten?
Die Verifizierung der Nachricht und die Prüfung, ob die Öffentlichkeit auf deren Kenntnis im Prinzip einen berechtigten Anspruch hat, haben Priorität vor einer Beurteilung der Motive der Whistleblower. Whistleblower gehen ohnehin oft Risiken ein, wenn sie vertrauliche Informationen weitergeben. Dieses Inkaufnehmen eines möglichen persönlichen Nachteils steigert ihre Glaubwürdigkeit. Das ist aber nur relevant, wenn der Wahrscheinlichkeitsgrad der Nachricht tief ist.

Wo liegt die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus?
Eine gute Aktivistin ist möglicherweise eine schlechte Journalistin und umgekehrt. Eine Aktivistin hat nicht die ­nötige Distanz, die man für eine objektive Berichterstattung braucht, und einer Journalistin fehlt der strategische Spielraum im Einsatz für ein bestimmtes Thema. Grundsätzlich hat die Journalistin eine höhere Verpflichtung zu Wahrheit und Objektivität. Sie muss strategische Diskurse vermeiden. Eine gute Aktivistin ist rhetorisch unterwegs, muss zuspitzen, übertreiben, indirekt agieren, selektiv ausblenden. Wenn dieser Aktivismus in den Journalismus einzieht, ist man als Medium nicht mehr glaubwürdig. Das ist das Gleiche bei Umweltaktivisten und Umweltwissenschaftlerinnen: Sie können beide das gleiche Ziel – die Bekämpfung des Klimawandels – verfolgen, aber ein Wissenschaftler muss sachlich bleiben und ergebnisoffen forschen.

Kann man auch unbewusst abhängig sein? Ich denke da an Autozensur – eine Lokalzeitung will vielleicht nicht allzu kritisch über einen Gemeinderat berichten, um sich den Zugang zu Informationen nicht zu verspielen ...
Ich denke schon, dass es das gibt. Es gibt auch den Implicit Bias, Vorurteile oder Verzerrungseffekte, deren wir uns gar nicht bewusst sind.

Es gibt auch den Implicit Bias, Vorurteile oder Verzerrungseffekte, deren wir uns gar nicht bewusst sind.

Was kann helfen, um möglichst unabhängig zu berichten?
Bewusstmachung ist ein erster wichtiger Schritt. Wir haben alle unterschiedliche Implicit Biases. Deshalb wird guter Journalismus auch in Teams gemacht, wie gute Forschung ja auch. Der Journalismus lebt ebenfalls vom Austausch unter Peers. So kann man sich blinde Flecken gegenseitig aufzeigen. Deshalb ist es wichtig, dass Leute nicht immer allein oder immer in den gleichen Bubbles unterwegs sind. Auch Forscherinnen sind gehalten, ihre Arbeit an Kongressen vorzutragen, wo sie mit neuer, schärferer Kritik konfrontiert werden. Das tut gut. Gerade im Wissenschaftsbereich wird Mobilität hoch ­bewertet. Natürlich kann es auch innerhalb einer Redaktion zu einem Bubble-Effekt kommen, einer gewissen Insiderkultur. Deshalb ist es in einer offenen Gesellschaft generell wichtig, sich nicht abzuschotten, sondern sich der Überprüfung und der Debatte zu stellen.

Das heisst, Diversität ist auch innerhalb einer Redaktion wichtig?
Auf jeden Fall. Aber ein intern diverses Team, das in sich gekehrt agiert, ist womöglich befangener als ein weniger diverses Team, das viele Kontakte nach aussen pflegt. Diversität ist kein Zweck an sich für eine Redaktion. Der Zweck ist die geistige Unabhängigkeit im Dienst der Wahrheit.

Prof. Dr. Francis Cheneval

Francis Cheneval im Porträt

Prof. Dr. Francis Cheneval, geboren 1962 in Bern, ist Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Demokratie­theorie und Rechtsphilosophie. Zudem ist er Vorsteher des Philosophischen Seminars.

Text: Eva Hirschi

Bild: Artikelbild: Beni Bischof/Porträt Francis Cheneval: zVg

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