Die Resilienz des Radios
Radio SRF Virus ist seit einem halben Jahr wieder moderiert auf Sendung. Radio für Junge, geht das noch? «Radio muss man anders denken», sagt die ebenfalls junge Redaktion.
Zürich-Nord, Campus Leutschenbach, Radio Hall, Mittwoch kurz vor 11 Uhr. Es herrscht eine Stimmung wie in einem angenehm ruhigen Terminal am Flughafen. Die gedämpften Gespräche der SRF-Mitarbeitenden, die gerade vor Ort sind, verlieren sich in den hohen Räumen. «Wollen wir?», fragt David Largier in die Runde, und eines nach dem anderen erheben sich seine Teammitglieder zur täglichen Sitzung, die an einem Hochtisch mitten im Open Space der riesigen Halle stattfindet.
Es sind die Content Creators und Hosts, die als Redaktionsmitglieder von Radio SRF Virus das Programm des heutigen Tages bestreiten – und bereits bestritten haben, denn der erste Programmblock dieses Mittwochs, die Morgenshow mit dem Motto «Wacher mit dir», war um diese Zeit bereits auf Sendung gewesen. Was gut lief und was verbessert werden könnte, besprechen fünf der insgesamt zwölf Virus- Mitarbeitenden, die Feedbackrunde geht von Person zu Person, jeder Eindruck zählt. Neue Themen, neue Zugänge zu diesen und ein kritischer Blick auf die eigene Arbeit sind genauso Teil wie die Planung des bevorstehenden Nachmittagsblocks und des darauffolgenden Morgens. Radio neu zu denken, das hat sich das Virus-Team auf die Fahne geschrieben – und mit dem ehrlichen Hinterfragen im Experimentierfeld «Virus» scheint einiges anders zu laufen.
«Radio, aber anders» steckt schon seit je in der DNA des Senders. Seit seiner Gründung 1999 hat der «Kultursender für ein junges Publikum» verschiedene Phasen durchlaufen, um über die Jahre anders – und dabei relevant – für die Jungen seiner Zeit zu bleiben. Ab 2006 gab es mehr Hip-Hop im Programm, und zum Zehnjährigen brachte bereits ein Relaunch eine musikalische Neuausrichtung, um sich deutlicher von Radio SRF 3 abzugrenzen und sich abseits des Mainstreams zu positionieren. Dem Neustart im Frühjahr ging eine mehrmonatige Virus-Pause voraus, seit im letzten Herbst die Moderation eingestellt worden war.
Als Ende Mai 2022 schliesslich der Startschuss für das neue Radio SRF Virus fiel, war es ein Neuanfang für das ganze Team. Sie alle stiessen in dieser Zeit frisch zu SRF, nur David Largier war bereits ein halbes Jahr zuvor damit beschäftigt gewesen, den Sender neu zu konzipieren und das Virus-Team zusammenzustellen. In diesen Monaten legte er als Virus-Leiter die inhaltliche und strukturelle Grundlage, auf der das Team anschliessend die Prozesse erarbeitete. «Das war eine sehr intensive Zeit, aber letztlich fühlt es sich wie ein Privileg an, gemeinsam ein Angebot schaffen zu können», sagt er über die Anfangsphase.
Eine Mischung aus Talent und Erfahrung
Für diese anspruchsvolle Aufgabe arbeitete sich David Largier durch die deutschschweizerische Medienlandschaft. «Von Januar bis März habe ich mich so ziemlich mit allen jungen Medienschaffenden aus der Schweiz auseinandergesetzt. » Durch seine vorherige Stelle als Programm- und Redaktionsleiter des Luzerner Radios 3FACH kannte er bereits viele Radiomacherinnen und -macher und weitete seine Recherche auf YouTube und andere Social-Media-Kanäle aus – denn was in ein junges Radio gehört, muss nicht zwangsläufig aus der klassischen Radioumgebung stammen. Zusammengekommen ist eine Gruppe von erfahrenen und noch frischen Talenten mit Musik- oder TikTok-Hintergrund, die nun hinter dem Moderationspult sitzen.
Die Stimmen von Radio SRF Virus
Sie werden von Content Creators, Channel Managers und dem Musikplaner des Senders unterstützt. «Bezüglich Arbeitsprozessen ist Virus einzigartig», erklärt Alexander Blunschi, der als Gesamtverantwortlicher für die Programme von Radio SRF 3 und Radio SRF Virus zuständig ist. «Jobprofile wie Produzentin, Moderator oder Social Media Producer verschmelzen bei Virus, und einzelne Teammitglieder arbeiten in unterschiedlichen Jobs.» Seit dem erneuten Relaunch Ende Mai gibt es bei Virus unter der Woche von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr nun wieder Moderation und ein Programm, das auf musikalische Vielfalt mit Schweizer Fokus setzt.
Die Teammitglieder haben sich einen eigenen inhaltlichen Rahmen gesteckt, was relevante Themen für sie bedeuten: Musik, Popkultur, Gesellschaft und Identität sind die Themensäulen, innerhalb derer sie frei experimentieren. «Als ich angefangen habe, war ich überrascht, wie flexibel wir noch in der Gestaltung sein konnten», sagt Host Mira Weingart. «Die Vorarbeit, wie das neue Virus aussehen sollte, war gemacht. Doch es war noch nicht klar, wie wir es schaffen, dass es auch zu diesem neuen Radio wird.»
«Start-up in einer geschützten Welt»
Viel Freiraum biete der «Start-up-Groove», wie David Largier die Umgebung beschreibt, in der sich sein Team bewegt. Lockere Strukturen, die sie selbst schaffen, verwerfen und neu denken, aber ohne die Nachteile eines Start-ups tragen zu müssen. «Wir sind Teil eines grossen, gut funktionierenden Unternehmens», betont er. «Wir haben topmoderne Studios und Arbeitsplätze.» Mira Weingart stimmt zu: «Ich beschreibe es Aussenstehenden manchmal als Start-up in einer geschützten Welt. Wir sind uns der Möglichkeiten und Freiheiten sehr bewusst, die ein Ort wie SRF bietet. Aber die Mentalität ähnelt einem Start-up-Umfeld. Alle sind hungrig, etwas zu erreichen, und auch die Reaktionen von den anderen Mitarbeitenden inhouse sind gut.»
Doch es gab auch kritische Stimmen, die sich mit Vorbehalten meldeten, als die Neukonzeption des Senders beschlossen wurde. Sie drehten sich vor allem um die Formfrage: Lineares Radio für eine junge Hörerinnenschaft? Kann das überhaupt etwas werden? Neben den Statistiken, die eindeutig auf ein junges Marktsegment hindeuten, und der inhaltlichen Auffrischung gewinnt der Sender zusätzlich durch die digitale Grundhaltung eine neue Stellung innerhalb von SRF. «Inhalte bei Virus werden konsequent bimedial geplant, gedacht und umgesetzt», sagt Alexander Blunschi über die strategische Positionierung. «Inhalte von TikTok bereichern das Programm im Radio und umgekehrt, und Virus probiert noch in diesem Jahr neue Ideen im Bereich der Informationseinordung aus.»
So sind Elemente wie das Visual Radio, das die Hosts während ihrer Sendung konstant filmt und für einige eingesessene Moderatorinnen und Moderatoren eine Umstellung bedeutete, eine Erleichterung für das Team, das die Videos später für TikTok nutzt. Und der digitale Vektor von Virus geht noch weiter: Es dient zudem als Distributionsplattform für alle anderen jungen, digitalen Angebote von SRF. Formate wie «Impact» und «Bounce» finden bei Virus ein Zuhause, indem ihre Themen und Beiträge in plattform gerechter Form ins Radioprogramm einfliessen, was im Austausch mit dem Virus-Team geschieht. Auch durch den Alltag in der Radio Hall, die seit Ende August der Standort der Virus-Crew ist, spielt der Austausch eine zentralere Rolle.
Kurze Distanzen und viel Austausch
Die Wege zu anderen Redaktionen sind kürzer, was für Synergien in der Programmgestaltung sorgt. «Es verändert etwas auf persönlicher Ebene, denn man ist näher an den Leuten und entwickelt ein ganz anderes Verständnis davon, was bei anderen läuft», sagt Mira Weingart. Als beispielsweise vor Kurzem die Liste der Anwärter für das Jugendwort des Jahres veröffentlicht wurde, brachte Radio SRF 3 einen Beitrag dazu, doch den meisten Redaktionsmitgliedern über 30 fehlte der Bezug zur Jugendsprache. «Es kam jemand zu uns und hat einzelne Bedeutungen nachgefragt. Doch am Ende haben wir jemanden vom Virus-Team rübergeschickt, der die Jugendwörter live im Radio erklärte. Im Beitrag liess sich das wunderbar einleiten, dass ein Mitglied des Jugendsenders zu Gast sei. Solche Sachen ergeben sich erst durch die Radio Hall.»
Ob sich die experimentierfreudige Start-up-Mentalität auch in den Publikumszahlen niederschlägt, wird erst mit aussagekräftigen Messzahlen deutlich werden. Doch der TikTok-Kanal von Virus konnte seit dem Relaunch die Zahl der Follower fast verdoppeln auf über 40 000. Ist lineares Radio für ein junges Publikum also doch möglich? «Als ich mit 16 an den Jugendmedientagen war, gab es bereits Podiumsdiskussionen, ob klassischer Journalismus und seine Produkte aussterben», sagt Mira Weingart zur Formfrage. «Das war vor zehn Jahren. Ich sehe es inzwischen so: Entweder haben wir jedes Jahr Podien zu diesem Thema, oder wir entwickeln uns weiter und arbeiten daran, nicht auszusterben.» Mit den Freiräumen bei SRF Virus sind die besten Voraussetzungen für so eine Resilienz des Radios gesetzt.
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