«Der Mensch braucht Fiktion»
Nicht nur zu Unterhaltungszwecken, sondern auch zur Einordnung des Selbst in der Welt ist Fiktion wichtig, sagt Philipp Tingler, Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker. Ein Gespräch über Authentizität, Eskapismus und Wahrheit.
Philipp Tingler, warum schauen und lesen Menschen so gern fiktive Geschichten?
Einerseits besteht ein Bedürfnis nach Zerstreuung und Unterhaltung. Dies ist in meinen Augen ein sehr legitimes Bedürfnis, weil ich glaube, dass Erkenntnis nur über Unterhaltung transportiert werden kann. Andererseits besteht aber auch ein Bedürfnis nach Konstruktion von Sinn und Identifikation, zum Beispiel, indem man sein Selbst in eine Geschichte einordnet.
Warum ist Fiktion für uns – als Gesellschaft und als Individuen – wichtig?
Idealerweise ist sie sinnstiftend. Sie schafft neue Zusammenhänge, öffnet Horizonte, ermöglicht Bezugnahme. Doch nicht jede Form von Fiktion ist wichtig für uns. Im Gegenteil: Es gibt schädliche Fiktionen, die mit Vereinfachungen arbeiten und versuchen, die grundlegende Ambivalenz zu negieren, die dem Leben stets innewohnt. Diese Vereindeutigungsversuche sind für niemanden gut, weder für die Gesellschaft noch für die Leser oder Zuschauerinnen. Fiktion ist dann gut, wenn sie universalistisch ist, wenn sie es möglich macht, sich auf zeitlos geltende Phänomene des Menschseins zu beziehen. Wir leben in einer Zeit, die vergisst, dass uns viel mehr verbindet, als uns trennt.
Also geht es um Identifikation mit anderen.
Selbstbezügliche Identitätsprosa, die leider immer häufiger wird, ist jedenfalls uninteressant und für mich keine Literatur, denn sie ist anti-universalistisch. Literatur sollte kein Spiegel sein, sondern eine Tür. Oder eine Brücke. Sie interessiert mich dann, wenn sie eine Brücke schlägt, wenn ich mich aufgrund ihrer Sprachkunst zum Beispiel mit einer Erntehelferin in Uganda im letzten Jahrhundert identifizieren kann, weil ich ihre Gedankengänge, die Motivationen nachvollziehe. Das macht grosse Literatur aus, grosse Fiktion, darum ist sie zeitlos.
Bei «Madame Bovary», einem Roman, der in der französischen Provinz Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, geht es um die Frau eines Landarztes, die sich zu Tode langweilt. Die Handlung kann man also in einem Satz zusammenfassen – wie übrigens bei den meisten grossen Werken der Weltliteratur. Was aber bei diesem Buch interessant ist, ist nicht die Handlungsebene, sondern das Innenleben der Frau Bovary, mit der man sich über sämtliche vermeintlichen Identitätsgrenzen hinweg verbinden kann. Dank dieser Figur dürfen wir das ganze Glück und das ganze Grauen erfahren, die dem menschlichen Dasein innewohnen können.
Die Wissenschaft geht davon aus, dass es Fiktion immer schon gegeben hat – etwa durch die Überlieferung, durch Erzählungen. Handelt es sich dabei aber nicht eher um Dokumentation statt Fiktion?
Hier muss man sich die Frage stellen: In welchem Verhältnis steht Fiktion zu Wahrheit? Es ist wichtig, zwischen Wahrheit und Tatsachen zu unterscheiden. Wahrheit ist ein philosophisch aufgeladener, metaphysischer Begriff. In der Fiktion – in der Literatur, der Dichtung – liegt eine höhere Wahrheit. Es gibt hier also keinen Gegensatz zwischen Fiktion und Wahrheit. Das andere sind Tatsachen: Das Berichten von Tatsachen ist keine Fiktion. Stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, nur Tatsachen wiederzugeben, oder ist nicht immer auch ein Element von Fiktion enthalten? Man stellt gewisse Tatsachen in ein Verhältnis, wählt aus – schon entsteht ein fiktionaler Schleier. Was nicht heisst, dass es keine Tatsachen gäbe.
Gleichzeitig gibt es immer mehr Filme, die betonen, auf einer wahren Begebenheit zu beruhen.
Den gleichen Trend erleben Sie in der Literatur. Diese überzogene Vorstellung von Authentizität ist für mich in erster Linie ein Vermarktungsversuch. Es ist Unfug, zu behaupten, Geschichten würden dann besser erzählt, wenn sie durchlebt worden sind. Diese Auffassung widerspiegelt eine weitere Mode unserer Zeit, die Verwechslung von Betroffenheit und Kompetenz: Nicht jede Person, die betroffen ist, ist schon deshalb kompetent, sich in literarischer Form zu äussern.
Wie ist der Begriff Authentizität in der Fiktion zu verordnen?
In meiner Arbeit als Literaturkritiker erlebe ich oft, dass Texte einen Anspruch auf Authentizität erheben. Die normative Aufladung dieses Begriffs ist problematisch, weil er nichts über die Sache aussagt, sondern nur über einen selbst. Ein Beispiel: Wenn ich behaupte, ich war in einem authentischen italienischen Restaurant, dann sagt dies nur, dass sich das Restaurant mit meinen Vorstellungen eines italienischen Restaurants gedeckt hat. Das vermeintlich Echte per se ist keine literarische Kategorie. Literatur ist immer Fiktion; sie soll es sein, ja sie muss es sein.
Hat dieser Trend des Authentischen vielleicht auch mit der Fülle an Fake News, an Unwahrheiten zu tun?
Das Interessante ist doch, dass dadurch, dass jemand die Geschichte erlebt hat, sie noch nicht wahr wird – jedenfalls nicht in literarischem Sinne. Die literarische Wahrheit ist etwas, was hinter der Fiktion steht. Die Geschichte kann von A bis Z erfunden sein und trotzdem wahr. Nämlich wenn sie grundlegende Zusammenhänge des Menschseins enthüllt. Ein Beispiel sind die Fabeln von Äsop. Es geht nicht darum, dass sie nicht wahr sein können, weil Tiere nicht sprechen. Sondern sie fördern die Einsicht in die Beweggründe und Axiome der menschlichen Natur in all ihren wunderbaren und widerwärtigen Spielarten – und deshalb sind sie wahr.
Was darf Fiktion, was darf sie nicht?
Wenn die Handlungsebene nur – aber immerhin – als künstlerischer Weg für die Ingangsetzung von Reflexionsprozessen wichtig ist, dann folgt daraus, dass Fiktion alles darf. Die Frage nach der Qualität von Literatur richtet sich nicht danach, was auf der Handlungsebene geschieht, sondern nach der künstlerischen Gestaltung dieser Handlung. Durch die Sprache.
Wie sieht es mit Political Correctness aus?
Das Problem ist auch hier der Anti-Universalismus: Wenn man nur noch in Zugehörigkeiten denkt und die Welt in scheinbar eindeutige Kategorien einteilt, deren Personal eine vermeintliche Identität teilt, dann ist das Ergebnis nicht Literatur, sondern ein Monster. Wir dürfen uns nicht von einer Weltsicht leiten lassen, die keine Ambivalenzen zulässt und die Identitäten an die Stelle von Individualitäten setzt. Wenn Political Correctness weiterhin heisst, dass man über gewisse Dinge nicht schreiben soll, dann frage ich mich: Warum? Was soll das bewirken? Fiktionstauglich ist alles.
Leidet Fiktion somit unter einer zunehmenden Schubladisierung? Sie haben letztes Jahr in einem Text in der NZZ geschrieben: «Die identitäre Befindlichkeitsprosa reduziert Protagonisten auf ihre Zugehörigkeit zu Kohorten.»
Die Identitätsprosa versteht den Menschen als fixes und unveränderliches Essenzwesen, aber diese Sichtweise ist sehr unaufgeklärt. Identitätspolitische Zuschreibungen sind oft biologistisch, indem sie beispielsweise Kategorien wie Hautfarbe oder Geschlecht als essenziell betrachten. Identitätspolitik finden Sie links wie rechts. Auf der linken Seite kommt die paradoxe Vorstellung hinzu, man würde Einengungen aufheben, indem man neue Verästelungen von Zuschreibungen und Etiketten einführt. Auf beiden Seiten sehen Sie eine Herabsetzung des Individuums zugunsten des Kollektivs. Das halte ich für alarmierend, denn ich glaube an das moralische Primat des Individuums. Dem entspricht die universalistische Sichtweise Kants: der Mensch als Wesen, das zur Moral befähigt ist. Jeder Mensch.
Ist Fiktion manchmal auch eine Art von Eskapismus?
Ich hoffe nicht. Ich sträube mich sehr gegen die Auffassung von Literatur als Eskapismus. Natürlich kommt es darauf an, was mit Eskapismus gemeint ist. Unterhaltung – im Gegensatz zu Langweiligkeit – ist ein wichtiges Mittel, um sich zu inspirieren. Bei Eskapismus geht es aber um eine Fluchtbewegung, weg vom Leben. Kunst muss jedoch mit dem Leben zu tun haben, sie muss sich dem Leben stellen. Literatur ist nicht das Reservat von verbitterten Pausenplatzopfern, die sich in Klischees, Angst und Argwohn flüchten, statt Courage und Diskurs anzustreben. Noch schlimmer wird es, wenn solche Pausenplatzopfer dann Positionen im Literaturbetrieb besetzen.
Wenn Fiktion also mit dem Leben zu tun haben muss, stellt sich die paradoxe Frage: Wie realistisch muss Fiktion sein?
Das ist nicht paradox, denn was heisst «realistisch»? Dass ich eine äussere Welt präzise abbilde oder aber die inneren Vorgänge? Wir beide erleben eine ähnliche Welt, auf der Strasse würden wir uns ähnlich orientieren. Dennoch sehen wir die Welt anders. Kriterien wie «realistisch» sind deshalb nur begrenzt hilfreich. Ich glaube, was wichtig ist, ist die Frage nach der persönlichen Auseinandersetzung mit der Welt. Bücher können mir eine ganz andere Perspektive eröffnen. Heute setzen viele Bücher auf eine äussere Drastik statt auf die innere Handlung. Für mich ist das eher schlechtere Literatur, es gehört weniger Können dazu, eine äusserlich drastische Geschichte zu entwerfen als die komplexe innerliche Entwicklung von Protagonisten.
Gibt es einen Unterschied zwischen Fiktion in der Literatur und Fiktion im Fernsehen und im Radio?
In der fiktionalen Qualität gibt es keinen Unterschied. Sie funktioniert, wenn ich mich als Rezipient nicht mehr mit der Frage befasse, wie fiktiv die Narration ist, sondern ich in die Geschichte eintauche und mich die Fiktion umgibt, ohne dass sie mich erschlägt oder versucht, mich zu leiten. Es braucht etwas, woran man anknüpfen, worauf man sich beziehen kann. Sei es mittels Identifikation oder mittels Ablehnung.
Was für einen Einfluss hat Fiktion auf unser Leben?
Fiktion ist allgegenwärtig, nur schon, weil das Phänomen der Markenbildung, das sogenannte Branding, immer wichtiger wird. Auch Branding ist eine Fiktion, die weit darüber hinausgeht, irgendein Produkt mit einer Geschichte zu assoziieren. Man spricht vom «Nation Branding», wenn es darum geht, wie sich zum Beispiel die Schweiz positionieren oder erzählen will. Oder von «Personal Branding» im Lebenslauf, etwa bei Bewerbungen. Und nicht nur über die sozialen Medien arbeiten wir mit Fiktionen unseres Selbst. Sondern auch in dem, was wir über uns selbst glauben. Dazu fällt mir ein Zitat des Psychiaters Irvin Yalom ein: «There is no such thing as a grown-up person.» (So etwas wie eine erwachsene Person gibt es nicht.) Damit meint er auch: Wir sind und bleiben alle fiktionsbedürftig. Das ist allerdings keine Entschuldigung, Ammenmärchen hinterherzulaufen. Oder sie zu verbreiten.
Der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler wurde 1970 in West-Berlin geboren und hat Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich studiert. Er ist Kritiker im SRF-«Literaturclub» und im «Literarischen Quartett» des ZDF sowie Juror beim ORF- Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Bekannt ist er neben seinen Büchern auch durch das SRF-Format «Steiner & Tingler» und durch seine Essays unter anderem in der NZZ und im Autokulturmagazin «ramp».
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