«Wir glauben oft, wir hätten im Internet mehr Freiheit»
Die Onlinewelt bietet unzählige Möglichkeiten, aber wie selbstbestimmt sind wir tatsächlich im digitalen Raum? Wichtig seien bewusste Entscheidungen, sagt Oliver Zöllner, Professor für Mediensoziologie, Medienforschung und Digitale Ethik in Stuttgart.
Sind die Menschen heute freier als früher?
Wir haben uns in den letzten 200 Jahren viele Freiheitsrechte erkämpft. Auch wirken unsere Konsumentscheide zumindest auf den ersten Blick sehr viel freier, als sie noch für unsere Eltern und Grosseltern waren. Wir können viel mehr Dinge kaufen – für einige ist dies ebenfalls ein Zeichen von Freiheit. Gleichzeitig gibt es aber im Internetzeitalter ganz neue Druckverhältnisse und Konformitätszwänge. Was neu ist, ist dieses Ausbeutungsverhältnis, z. B. Big-Tech-Firmen wie Meta und Alphabet, die unsere Daten absaugen und darauf ihr Geschäftsmodell aufbauen. Natürlich wurden Menschen bereits früher ausgebeutet, das hat sich jetzt zusätzlich ins Internet verlagert und andere Ausmasse angenommen – Stichwort Datenkapitalismus, Überwachungskapitalismus. Die anfängliche euphorische Utopie eines herrschaftsfreien Raumes hat nicht lange überlebt, auch das Internet ist inzwischen stark kommerzialisiert. Dies hat zu neuen Zwängen und Unfreiheiten geführt.
Trotzdem: Wir können mit dem Smartphone bestimmen, was wir zu Mittag essen, welchen Film wir anschauen, ob wir ein Produkt vom anderen Ende der Welt kaufen oder mit unbekannten Menschen kommunizieren. Leben wir nicht selbstbestimmter als früher?
Wir haben zumindest grössere Entfaltungschancen. Früher ergriff man oft den Beruf der Eltern, heute können wir sehr viel mehr sein. Auch die Konsummöglichkeiten sind durch das Internet sehr viel differenzierter und individueller zugeschnitten geworden – die ganze Welt ist quasi durch nur einen Klick in Reichweite. Uns steht viel mehr zur Verfügung, und vieles ist sehr viel bequemer kaufbar – jedenfalls wenn man es sich leisten kann. Man darf aber nicht vergessen, dass es immer noch viele Menschen gibt, die diese Freiheiten und Möglichkeiten nicht haben.
Es gibt mehr Möglichkeiten, aber gleichzeitig ist die Werbung viel omnipräsenter als früher und wird durch Influencerinnen und Influencer verstärkt.
Natürlich gab es Peer Group Pressure auch früher schon, etwa als Gruppendruck auf dem Schulhof, bestimmte Marken oder Kleider zu tragen – aber in einem engeren Repertoire. Heute gibt es viel mehr Trends, und sie drehen sich auch viel schneller. Brauchten Trends aus London oder New York früher manchmal zwei Jahre, bis sie in Bochum oder Olten ankamen, so geschieht dies heute nahezu augenblicklich. Auch kann man direkt an den Trends partizipieren, indem man bestimmten Leuten folgt und ihnen zusieht, wie sie diese kreieren. Diese Trendorientierung ist grösser als früher, und gerade bei jungen Menschen ist der Druck oft sehr gross.
Das würde dafür sprechen, dass wir weniger selbstbestimmt sind.
Wenn man da immer mitmacht respektive den Zwang verspürt mitzumachen, weil man sonst ausgegrenzt würde, dann verliert man tatsächlich einen Teil seiner Handlungsautonomie. Doch viele Menschen folgen sehr gern Trends. Problematisch ist es dann, wenn sie weniger frei leben, den eigenen Geschmack nicht ausbilden können und quasi nur noch Trendsetter folgen.
Somit bedeuten mehr Auswahl und mehr Freiheiten nicht unbedingt mehr Selbstbestimmung?
In der Digitalisierung verhalten sich diese zwei Begriffe zum Teil paradox. Wir glauben oft, wir hätten mehr Freiheit, aber wir bemerken nicht, dass dahinter Strukturen der Unfreiheit bestehen, wie eben in Bezug auf die Datenwirtschaft und die Datenausbeutung. Dennoch fühlen sich viele in dieser Shoppingwelt recht wohl. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir alles in allem bequemlich geworden sind.
Nicht nur beim Konsum, auch bei den Meinungen scheint der Druck zuzunehmen, die Diskussionen werden polarisierter. Früher orientierten sich die Menschen an der unmittelbaren Gemeinschaft, heute oft an der Community im Internet – doch diese ist um ein Vielfaches grösser, und somit auch der Druck.
Ich frage mich: Wie tief sind diese Diskurse und Diskussionen, die online stattfinden, wirklich? Es gibt sehr viele Menschen – oder Profile –, die ihre Meinungen und Haltungen zum Ausdruck bringen. Häufig ist es eine Form der Inszenierung; Twitter und Co. sind oftmals blosse Selbstdarstellungsplattformen. Eine echte Auseinandersetzung findet selten statt. Im Gegenteil: Online eskaliert fast jede Diskussion schnell. Es reichen Schlagworte, die Debatte wird sofort ideologisiert. Das kann bei vielen einen grossen Druck auslösen, sich konform zu verhalten oder vorsichtig zu agieren, um ja keine Angriffsfläche zu bieten. Nutzt man dann die Freiheit, seine Meinung kundzutun, überhaupt noch? Und ist das wirklich ein Ausdruck von Freiheit? Einige Menschen teilen richtig aus, ihnen erscheint es als Freiheit, alles sagen zu können, was sie wollen – auch Verbotenes –, weil sie wissen, dass dies selten rechtliche Folgen hat. Das bereitet mir mit Blick auf die Zivilität und ein gutes Zusammenleben einer Gesellschaft Sorgen.
Wie stark trägt das Internet zu unserer Identitätsbildung bei?
Für junge Menschen ist die Digitalität ein sehr wichtiger Faktor. Ab 12 Jahren sind quasi alle online aktiv, sie folgen sich dort gegenseitig, messen und vergleichen sich. Das ist ganz alterstypisch und ein wichtiger Teil der Identitätsbildung. Früher geschah dies auf anderen Wegen, heute hat sich viel ins Internet verlagert, weil es Teil des realen Lebens geworden ist. Nicht nur bei den Jungen: Die Älteren suchen ebenfalls Anschluss an Communitys mit Gleichgesinnten, informieren und vernetzen sich oder leben dort ihre Hobbys aus. Das hat auch einen Einfluss auf die Identitätsbildung, die ist ja nicht mit 25 Jahren abgeschlossen. Somit kann das Internet auch eine grosse Hilfe bieten.
Inwiefern?
Weil ich mehr Möglichkeiten habe, die ich sonst nicht entdeckt hätte. Wenn ich aus einer kleineren Stadt oder vom Land stamme, sind die kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten mit Blick auf den persönlichen Lebensstil kleiner – weil ich stärker unter Beobachtung stehe oder weil einfach nicht so viel los ist. Vielleicht ist der Lebensstil, den ich bevorzuge, in meiner Stadt nicht gegeben, dafür aber in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land. Dank dem Internet kann ich mich trotzdem daran orientieren. Das kann bereichernd sein. Nehmen wir als Beispiel die LGBTQ-Community: Sie führte über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte ein Leben im Versteckten, jetzt kann sie endlich freier leben. Das Internet gibt Raum für diese Communitys. Doch es löst nicht alle Probleme: Wenn ich in einer kleinen Stadt etwa der einzige Punk bin, brauche ich trotzdem ein dickes Fell.
Sie haben einmal gesagt: «Wenn Menschen mit ihren Onlinehandlungen einen Algorithmus füttern, beeinflusst der Algorithmus das weitere Handeln des Menschen – er lenkt es gewissermassen.» In welchem Sinne?
Algorithmen sind nicht zuletzt eine Beobachtungsinstanz, sie erkennen Muster: Verhaltensmuster, Likemuster, Präferenzmuster, Wiederholungen. Die meisten Algorithmen sind daraufhin programmiert, die offenbar von mir präferierten Inhalte vermehrt auszuspielen, sodass die Konversionsrate steigt, ich mehr anklicke oder mehr Produkte kaufe. Der Algorithmus geht von der Devise aus: Wir sind, was wir shoppen. Durch meine individuellen Verhaltensspuren – Daten sind ja im Prinzip Verhaltensspuren – lenke ich im grösseren kollektiven Datensatz den Pfad noch mehr in Richtung der gleichen Muster.
Wie können wir denn den Algorithmen-Teufelskreis brechen?
Indem wir die Algorithmen anders programmieren. Es gibt ja dieses neue Gegenstück zu Twitter: Mastodon. Dort gibt es keinen Empfehlungsalgorithmus, es werden mir keine Profile, keine Themen vorgeschlagen, es passiert zunächst gar nichts. Ich muss aktiv und manuell suchen. Daran muss man sich zuerst wieder gewöhnen. Ich finde es aber ganz erholsam, nicht immer zu irgendeinem Thema sofort einen Wust von 200 Botschaften zu erhalten. Allerdings muss ich dafür selbst mehr leisten.
Ist dies ein Schritt zur digitalen Selbstbestimmung?
Für solche Mikroblogging-Dienste gilt das bestimmt, so fühle ich mich als Individuum selbstbestimmter. Ich bekomme auf Mastodon vielleicht nicht sofort viele Posts angezeigt, sondern muss sie aktiver suchen – aber oft reicht mir das. Bei Twitter oder Instagram ist das ganz anders mit diesem «infinite scrolling», dem Herunterscrollen ohne Ende. Das Beispiel Mastodon zeigt zudem, dass es Menschen gibt, die ein anderes Internet wollen. Zurzeit fristet diese Vorstellung aber noch ein Nischendasein. Vielleicht ist es für die grosse Mehrheit zu anstrengend? In den letzten 15 Jahren haben wir uns ja so daran gewöhnt, dass Algorithmen uns immer etwas Neues vorschlagen, stets «more of the same» sozusagen.
Oft ist es aber auch zu viel. Bei der digitalen Selbstbestimmung geht es auch ums Filtern und Aussortieren von digitalen Inhalten und um die Frage, was meine Aufmerksamkeit verdient. Was für eine Rolle übernehmen da Qualitätsmedien?
Qualitätsmedien mit bezahlten Journalistinnen und Journalisten, insbesondere auch die öffentlich-rechtlichen Medien, haben neben ihrem Informationsauftrag auch einen Bildungsauftrag. Sie machen uns erst zu Bürgerinnen und Bürgern, denn das werden wir erst, wenn wir informiert sind und wissen, wie unsere Gesellschaft, der Staat und die Wahlen funktionieren. Es sind wichtige Entscheidungen, die wir in aller Freiheit fällen sollten, aber dafür brauchen wir fakten- und nicht konsumorientierte oder politisch verzerrte Information. Jedes liberale und freiheitsliebende Staatswesen braucht freie Medien. Professionell recherchierende und journalistisch abwägende Medien sind also nicht obsolet geworden, im Gegenteil: Gerade in dieser unübersichtlich gewordenen Welt braucht es einen Orientierungsrahmen, und diesen erhält man nur, wenn er der Objektivität und dem Allgemeinwohl verpflichtet ist. Wir dürfen das Feld nicht den Tech-Unternehmen überlassen, denen all dies egal ist; für sie zählt nur, dass wir etwas anklicken. In diesem Kontext ist es deshalb noch wichtiger als früher, dass etwa der öffentliche Rundfunk qualitätsvolle und vielfältige Informationen anbietet und dabei nicht ständig um Markanteile kämpfen muss.
Service public als Gegenpol für Fremdbestimmung im Internet?
Die Frage der Fremdbestimmung stellt sich auch hier. Es gab und gibt sogar Diskussionen um die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Internets. Diese Idee ist im Prinzip gut, in meinen Augen aber schwer umsetzbar. Wer kuratiert dann dort die Inhalte? Ist die Auswahl der Kuration nicht wieder eine Form der Unfreiheit, weil bestimmte Akteurinnen und Akteure nicht berücksichtigt werden? Ein Service-public-Internet bleibt wohl eine idealistische Vorstellung. Aber tatsächlich ist die Leitvorstellung wichtig, etwa aus Social Media wirklich soziale, gesellschaftsorientierte Medien zu machen.
Heute haben wir Zugang zu viel mehr Medien. Hat das zu einem selbstbestimmteren Weltbild geführt?
Im Kern sind auch Medienangebote Konsumoptionen. Ich bin in den 1970er-Jahren mit drei Schwarz-Weiss-Fernsehprogrammen aufgewachsen und war nicht unglücklich. Heute habe ich 300 farbige Sender, schalte in meinem Medienalltag aber trotzdem nur fünf Programme an. Inwieweit ist das Vorhandensein all der zusätzlichen Programmangebote ein Zeichen eines besseren oder glücklicheren Lebens? Ich behaupte, ich bin heute mindestens genauso gut über die wichtigen Belange informiert wie als Teenager. Es stellt sich also die Frage, welches Problem sich durch diese Vielzahl an Angeboten gelöst hat. Waren wir vorher zu wenig informiert? War es früher qualitativ schlechter? Auf solche Fragen eine Antwort zu finden, ist schwierig.
Was können wir selbst für mehr Selbstbestimmung tun?
Wir müssen uns als Nutzende darüber klar sein, wie das Internet funktioniert und welche Geschäftsmodelle dahinterstehen. Wie funktionieren diese Programme und Apps, die ich benutze, wer bezahlt das, wer hat Interesse, dass ich interagiere, etwas kaufe, etwas like? Aber das Bewusstsein allein reicht nicht, man muss es in sein tatsächliches Verhalten übertragen. Viele Menschen wissen, dass der Schutz der Privatsphäre wichtig ist, aber sie hinterlassen im Netz trotzdem überall Datenspuren. Ihnen ist das oft relativ egal. Diese Haltung zu überwinden, ist schwierig. Schliesslich sind viele Angebote im Internet sehr bequem und machen Spass. Aber man lässt sich eben leicht einlullen und verhält sich oft gegen sein eigenes Wissen und seine eigenen Überzeugungen.
Sind wir freier als früher?
Wir haben auf jeden Fall die Möglichkeit dazu. Die Frage ist nur: Nutzen wir sie?
Prof. Dr. Oliver Zöllner lehrt Medienforschung, Mediensoziologie und Digitale Ethik an der Hochschule der Medien Stuttgart, wo er das Institut für Digitale Ethik (IDE) co-leitet. Er gilt als Experte für Fragen der Digitalisierung, der digitalen Transformation und der damit verbundenen Aspekte der reflexiven Medienkompetenz und der Digitalen Ethik.
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