«Wut zu triggern, ist einfacher»
Social-Media-Kanäle betreuen kann für Mitarbeitende bereichernd sein – aber auch psychisch belastend. Was Hassrede im Netz mit uns macht, weiss Psychologe Stephan Scherrer. Er begleitet unter anderem Mitarbeitende bei SRF. Seine Eindrücke.
«Ob der Ton im Netz rauer geworden ist, werde ich oft gefragt. Das ist eine schwierige Frage. Ich sehe das digitale Leben als Spiegel dessen, was auf der Welt passiert. Als Coach und Psychotherapeut beobachte ich, dass seit der Corona-Krise und dem Ukraine-Krieg mehr Menschen an den Rand ihrer Kräfte gekommen sind als zuvor. Manche von ihnen haben eine kürzere Zündschnur und nutzen die sozialen Medien als Blitzableiter für ihren Frust, ihre Wut oder ihre Angst.
Ich behandle und betreue seit vielen Jahren Menschen mit Burn-out und Stresserkrankungen. Und seit vier Jahren begleite ich bei Schweizer Radio und Fernsehen Mitarbeitende des Community Management und des Kundendiensts. Sie haben die herausfordernde Aufgabe, auf die Abertausenden von Reaktionen und Kommentaren zu antworten. Diese Kommunikation findet in einem abstrakteren Rahmen statt, der virtuellen Welt, und doch ist sie eine Form von Beziehung. Wenn auch eine nicht ganz einfache. Das Internet ist ein Ort, wo zuweilen bis unter die Gürtellinie beleidigt wird, manchmal auch Hass entgegenschreit. Für mich ist ‹Hate Speech› (Hassrede), sobald die Würde eines Menschen oder einer Gruppe angegriffen wird.
Keine Frage, Hassrede geht unter die Haut, selbst wenn sie gegen den Arbeitgeber gerichtet ist, nicht in erster Linie gegen einen persönlich. Hasserfüllte Kommentare sind eine Attacke, können wehtun, verletzend und in gewissen Fällen traumatisierend sein. Manchmal höre ich Mitarbeitende, die ob der Welt, die sie im Internet antreffen, richtig erschüttert sind. Solche Erfahrungen können eigene Weltbilder, das eigene Menschenverständnis ins Wanken bringen. Hate Speech ist an sich kein neues Phänomen. Im Netz verbreitet sich Hassrede aber schneller. Es bietet den Haterinnen und Hatern die nötige Anonymität und Distanz zum Gegenüber. Und oft auch ein falsches Gefühl von Sicherheit, weil man vermeintlich nicht sichtbar ist. Viele der Hater sind Menschen, die sich von Emotionen anderer ernähren.
Tatsächlich ist es einfacher, beim Gegenüber Hass, Wut und Ängste zu triggern. Bei der Liebe beispielsweise ist das viel schwieriger, sie muss entstehen können. Was die Kommunikation in sozialen Medien zur Herausforderung macht: Wir alle haben Themen, die uns emotional stärker berühren, weil sie uns an eigene Erfahrungen erinnern. Beispielsweise ging es kürzlich in einem Workshop um die Genderthematik. In diesem Fall wurde sehr abwertend über Frauen kommentiert. Eine junge Teilnehmerin hatte ähnliche eigene schwierige Erfahrungen erlebt, die durch diese Kommentare getriggert wurden.
Das kann uns allen passieren, wenn wir in sozialen Medien unterwegs sind. Dabei stellt sich die Frage: Wie gehe ich damit um? Wie kann ich Distanz schaffen, um auf solche Reaktionen zu antworten? Einfach stehen lassen oder ignorieren kann man sie nicht. Hasskommentare gehen nicht spurlos an uns vorbei. Sie machen etwas mit uns. Kann ich mich nicht abgrenzen, hat das Folgen für die eigene Gesundheit. Wenn dir ein Kommentar ständig nachgeht, du nach der Arbeit nicht mehr abschalten kannst, sind dies Frühwarnsignale.
Sie machen sich nicht von heute auf morgen bemerkbar, aber immer wieder über eine längere Zeit. Du fühlst dich lust- oder antriebslos, bist öfter deprimiert, hast Mühe beim Einschlafen. Das sind Zeichen eines möglichen Erschöpfungsprozesses. Viele Betroffene ziehen sich auf sozialer Ebene zurück, verkriechen sich in die eigenen vier Wände und scheuen zunehmend soziale Kontakte. Mögliche Folgen können Angststörungen oder depressive Störungen sein. Wie kann ich mit solchen Widrigkeiten umgehen, sodass ich gesund bleibe? Wie kann ich einen persönlichen Weg finden, damit umzugehen?
Sobald Angestellte in den sozialen Netzwerken im Namen des Unternehmens posten, werden praktikable Richtlinien notwendig. Sie schützen die Mitarbeitenden, denn es braucht eine emotionale Distanz zu Kommentaren, vor allem wenn sie einen persönlich berühren. Im Community Management geht es nicht um mich als Stephan oder um dich. Vielmehr versuche ich, im Namen meines Arbeitgebers zu kommentieren und damit möglichst sachlich und konkret zu bleiben. Was einfach tönt, ist aber hohe Schule.
Regelmässige Pausen, vielleicht auch ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft, und der Austausch im Team sind wichtige Faktoren, um resilienter mit der täglichen Flut an Hass im Netz umzugehen. In meinen Workshops thematisieren wir, was die Kolleginnen und Kollegen bewegt. Wir tauschen uns aus, und manchmal geht es wirklich ans Eingemachte. Dieses Persönlich-sein-Können, diese Offenheit stärkt den Teamgeist. Auch Selbstregulationstechniken wie Atem- oder Erdungsübungen können helfen, aus der manchmal schwer fassbaren virtuellen Welt zu kommen – und wortwörtlich wieder festen Boden unter den Füssen zu gewinnen.
Ja, es hilft sehr, sich bewusst zu werden, wo die eigenen Ressourcen liegen, was einem im Leben Freude bereitet und was einem guttut. Gute Beziehungen im Leben offline sind etwas vom Wichtigsten. Denn im Kern geht es immer, auch im Internet, um Menschen und was sie in ihrem Leben bewegt.»
Stephan Scherrer ist Psychotherapeut, Coach und Supervisor. Er berät, coacht und therapiert Burn-out-Betroffene und Menschen in Krisensituationen. In unserem aktuellen Video liefert er Tipps, wie man mit Hate Speech umgehen und sich dagegen schützen kann.
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