«Traditionen stiften Identität»

Das Winzerfest in Vevey und die Basler Fasnacht stehen bereits drauf, jetzt soll auch die Alpsaison auf die Unesco-Liste des Kulturerbes. Wie wichtig sind Traditionen überhaupt und wie verändern sie sich? Ein Gespräch mit Volkskundlerin Isabelle Raboud-Schüle.

Isabelle Raboud-Schüle, Sie setzen sich als Mitglied der Schweizerischen Unesco-Kommission seit 2010 dafür ein, dass die Alpsaison in die Liste des immateriellen Kulturerbes (siehe Kasten) aufgenommen wird. Warum?
Diese Tradition liegt mir am Herzen. Als damalige Direktorin des Greyerzer Museums war ich zuständig für die Erstellung eines Inventars der lebendigen Traditionen im Kanton Freiburg. In dieser Region ist die Alpsaison zentral, fast schon ein Mythos. Sie ist aber für die gesamte Schweizer Identität sehr wichtig. Die Schweiz pflegt dieses Bild ihrer Berge und Senninnen und Sennen seit dem 19. Jahrhundert, auch wenn inzwischen die grosse Mehrheit der Bevölkerung in den Städten lebt. Doch ein Alpabzug zieht auch viele Leute aus dem urbanen Raum an, es ist ein Spektakel.

Die Liste des immateriellen Kulturerbes:

Mit der Ratifikation des Unesco-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes am 16. Oktober 2008 hat sich die Schweiz verpflichtet, ein Inventar des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz zu erarbeiten, zu führen und periodisch zu aktualisieren. Diese nationale Liste bildet die Grundlage und die Voraussetzung für Nominierungen von lebendigen Traditionen für die Unesco-Listen. Aktuell sind dort das Winzerfest in Vevey, die Basler Fasnacht, der Umgang mit Lawinengefahr, die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio sowie die Uhrmacherkunst und die Kunstmechanik verzeichnet. Die Alpsaison hat im März dieses Jahres ebenfalls für die Unesco-Liste kandidiert. Der Entscheid wird voraussichtlich bis Ende 2023 fallen.

Ist die Alpsaison zur Show verkommen?
Es gibt gewisse Spannungen zwischen der Realität der Bäuerinnen und Bauern und dem schönen Image, das sie pflegen sollen. Natürlich sind ihnen die Leidenschaft für die Natur, die Tiere, das Handwerk wichtig. Aber es geht auch um Wirtschaftlichkeit. Heute haben die Sennen Smartphone und Melkmaschine. Sie haben sich an die Modernität angepasst. Deshalb finde ich es wichtig, dass man diese Tradition in ihrer gesamten Realität in die Unesco-Liste aufnimmt – und nicht nur das Bild, das vor 200 Jahren geschaffen wurde.

Warum ist es überhaupt wichtig, dass solche Traditionen geschützt werden?
Traditionen sind identitätsstiftend. Sie erzählen etwas über uns und unsere Geschichte – aber auch über unsere aktuelle Realität. Senninnen und Sennen sind nicht jeden Tag am Jodeln, die Arbeit auf der Alp ist hart. Es ist wichtig, dass in der Bevölkerung nicht ein klischiertes Bild umgeht, sondern man weiss, wie das Leben auf der Alp aussieht. Die Aufnahme in die Unesco-Liste rückt die Traditionen ins Scheinwerferlicht – auch diejenigen, die wenig sichtbar sind. Zudem zeigt die Liste, welche Traditionen es in anderen Gemeinschaften, Regionen oder gar Ländern gibt. Auf der gleichen Liste steht auch ein Volkslied aus dem Kosovo oder eine Tradition aus Peru oder Thailand. So merken wir, das ist für die Leute dort genauso wichtig wie für uns die Alpsaison. Dieser Dialog ist zentral.

Die Schweiz hat ein eigenes Inventar erstellt, insgesamt stehen 199 Traditionen drin, darunter La Fête des Fontaines de Môtiers in Neuenburg und die Hallauer Herbstsonntage in Schaffhausen. Man hat ein bisschen das Gefühl, alles Mögliche schaffe es auf diese nationale Liste ...
Die Diversität ist tatsächlich sehr gross. Aber man hätte noch viel mehr Traditionen in dieses Inventar aufnehmen können. Jeder Kanton hat zuerst mehrere Vorschläge eingebracht und diese dann priorisiert. So sind zwar mehrere Fasnachtsbräuche drin, wie etwa aus Basel und der Zentralschweiz, aber nicht alle, die es in der Schweiz gibt. Und: Es sollen nicht nur ländliche Traditionen Platz finden, sondern auch diejenigen aus dem städtischen Gebiet.

Warum spricht die Schweiz eigentlich von lebendigen Traditionen?
Dieser Begriff stammt vom Bundesamt für Kultur, um das «immaterielle Kulturerbe der Menschheit», wie es die Unesco nennt, etwas fassbarer machen. Wichtig ist genau dieser Punkt: dass die Tradition lebendig ist. Es geht nicht darum, etwas zu schützen, was niemand mehr macht. Deshalb soll diese Liste die Traditionen auch nicht schützen im Sinn von konservieren – Traditionen dürfen und sollen sich der heutigen Realität anpassen.

Wie können Traditionen identitätsstiftend sein, wenn sie von Kanton zu Kanton unterschiedlich sind?
Eine Tradition muss nicht die ganze Identität eines Kantons prägen. Sie kann auch nur von einer Gruppe getragen werden, etwa vom Berner Oberland. Es gibt sogar nur wenige Traditionen, die wirklich die ganze Schweiz betreffen. Die Alpsaison ist vielleicht ein Beispiel, allerdings mit Ausnahme von Genf und Baselstadt, wo die Alpen fehlen. Oder das Jassen – doch auch da werden ja nicht überall dieselben Karten verwendet. Genau diese Vielfalt gehört aber zur Identität der ganzen Schweiz. Was wichtig in Hallau, Mendrisio oder Môtiers ist, ist auch wichtig für die ganze Schweiz.

Warum?
Wir haben eine Vielfalt an Regionen, Sprachen, Kulturen – und wir pflegen das. Für die nationale Kohäsion muss man sich untereinander besser kennen und verstehen und Interesse haben dafür, was in anderen Regionen läuft. Wir sind ein föderalistischer Staat, und erst im 19. Jahrhundert hat man überhaupt versucht, eine gemeinsame Identität zu schaffen. Das funktioniert nur durch das Zusammenleben. So gibt es zum Beispiel keine Schweizer Tracht, auch kaum kantonale. Allein das Wallis hat 30 verschiedene Trachten.

Geht es bei solchen Traditionen nicht viel eher um Imagepflege und Marketing?
Das gehört auch dazu. Die Schweiz ist ein touristisches Land. Dieses Bild hat sie kultiviert. Sogar die Landschaft beim Vierwaldstättersee ist eine Schweizer Tradition im Inventar. Dass Traditionen und Tourismus verknüpft sind, ist manchmal schwierig zu verstehen, weil man denkt, der Tourismus spreche vor allem Menschen von anderen Kontinenten an. Denen serviert man immer ein bisschen eine Karikatur, etwas Simples. Aber der interne Tourismus ist genauso wichtig – also dass ein Zürcher nach Glarus kommt oder eine Genferin ins Wallis.

Welche Rolle spielen die Medien im Hinblick auf Traditionen?
Sie sind wichtig, weil sie zeigen, was läuft. Der Hauptfokus liegt dabei interessanterweise immer auf dem Ereignis selbst und wenig auf der Vorbereitung – dabei nimmt diese viel mehr Zeit in Anspruch, denken wir etwa an die Fasnacht oder an ein Musikfest, das monatelang vorher in verschiedenen Gremien gemeinsam organisiert und vorbereitet wird. Mehr über die Hintergründe erfährt man dafür in Museen. Das Greyerzer Museum etwa hatte mehrere Projekte, die mit Fotografien etc. aufzeigen, was hinter den Kulissen stattfindet.

Laufen Medien nicht auch Gefahr, nur Klischees zu reproduzieren? Im Wallis berichtet man über den Kuhkampf, in Basel über die Fasnacht ...
Das gehört einfach dazu. In der Schweiz fördert man diese Klischees ja nicht nur in den Medien, sondern auch im Tourismus. Andererseits ermöglichen der Föderalismus und die Vielfalt der Medien – auch wenn diese nicht mehr so gross ist wie früher – verschiedene Blickwinkel. Da spielen stark kantonal ausgerichtete Medien eine wichtige Rolle. Sie können weitere Traditionen aufzeigen. Auf der SRG-Ebene spürt man diese Vielfalt vielleicht ein bisschen weniger; dort geht es darum, über etwas zu berichten, was alle interessieren kann.

Hat die Einwanderung einen Einfluss auf unsere Traditionen?
Ja, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht sieht. Man verlangt von den Leuten, dass sie sich integrieren und unsere Lebensarten übernehmen. Doch sie bringen auch etwas mit. Gerade hier in Bulle gibt es zum Beispiel viele Personen aus Portugal. Die frühere Generation war noch sehr diskret und hat still gearbeitet, aber inzwischen sind sie integriert und pflegen gleichzeitig ihre eigenen Traditionen, etwa mit Trachten und Tanz. Heute sind sie gar eine der wichtigsten Folkloregruppen des Kantons Freiburg, sie sind an jedem Fest. Es ist aber keine rein portugiesische Tradition, sie hat sich in der Schweiz entwickelt; und auch wenn es für uns Schweizerinnen und Schweizer einheitlich aussieht, so ist es für sie ein Patchwork aus verschiedenen Traditionen aus ihrem Land.

Gewisse Traditionen verschwinden aber auch, etwa im handwerklichen Bereich.
Natürlich gibt es immer weniger Menschen, die eine ganze Kutsche aus Holz bauen oder einen Kupferkessel für die Käserei schmieden können. Dennoch verschwinden das Wissen und das Interesse trotz Modernisierung und internationalem Handel nicht komplett. Was sich geändert hat: Das Handwerk findet viel mehr an Vorführungen statt. Die Demonstration des Handwerks ist sehr beliebt an Festen oder in einem Museum. Das fertige Objekt kauft aber fast niemand mehr. Doch auch hier passen sich die Traditionen an: Ein Beispiel ist das Klöppeln, das Herstellen von Spitze – heute kaufen nur wenige Leute Spitze für Tischtücher zu Hause, deshalb wird nun halt Spitze für Puppenkleider einer Krippe hergestellt.

Sehen Sie es als Verlust, wenn Traditionen verschwinden?
Es ist immer ein Verlust, aber es hat keinen Sinn, das zu beklagen. Es ist auch nichts Neues. Viele Traditionen sind in den letzten Jahrhunderten verschwunden. Es gibt aber auch solche, die wieder auftauchen oder anders interpretiert werden. Wichtig scheint mir, dass das, was einem am Herzen liegt, weitergegeben werden kann. Das kann Generationen verbinden. Wenn eine neue Generation diese Tradition nicht mehr interessant findet, dann ist es halt so. Wir fanden ja auch nicht alles interessant, was unsere Eltern gemacht haben. Interessant ist, dass einige Traditionen sehr wichtig bleiben.

Zum Beispiel?
Das Chorsingen. Es hat sich zwar stark verändert. Heute wird weniger in der Kirche gesungen, aber es gibt immer wieder neue Chöre, die auftauchen – etwa Jugendchöre mit kreativen Projekten, auch gibt es viele Leute, die Musik schreiben für Chöre, vor allem in der Deutschschweiz. Die Volksmusik ist sehr lebendig, und ständig wird etwas Neues gemacht. Auch wird heute weniger im kleinen Kreis von Familie und Dorf musiziert, sondern man trifft sich in 50 Kilometer Entfernung, um mit gewissen Leuten zu spielen.

Feiert die Volksmusik quasi ein Revival?
Sie hat sich stets angepasst. Heute hat sie sich modernisiert, man hört sie im Radio oder an Festivals. Auch gehen die verschiedenen Sparten – Klassik, Pop, Jazz etc. – nicht mehr so stark auseinander. Viele Musikerinnen und Musiker wandern zwischen den verschiedenen Stilen, so wird zum Beispiel auch in der Popmusik gejodelt. Es ist interessant, wie sich Künstlerinnen und Künstler mit diesen Elementen befassen. Was sich geändert hat: Man zelebriert diese Musik nicht mehr unbedingt auf dem Dorfplatz, sondern vor allem an Festivals, wo man gemeinsam mitsingt und mittanzt. Diese Festivals sind ein interessantes Spiel in der Beziehung zwischen Land und Stadt: Die Städterinnen und Städter interessieren sich für etwas, was sie als urchig ansehen – obwohl sich die Volksmusik eigentlich ständig adaptiert hat.

Zur Person:

Foto Isabelle Raboud-Schüle

Isabelle Raboud-Schüle ist im schweizerischen Unesco-Komitee vertreten. Bis zu ihrer Pensionierung war sie Direktorin des Freiburger Regionalmuseums Musée gruérien in Bulle sowie Präsidentin des Verbands der Museen der Schweiz. Sie hat an der Universität Neuenburg Volkskunde, Musikwissenschaft und Dialektologie studiert.

Text: SRG.D

Bild: zVg

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