Traditionen leben in der postmigrantischen Schweiz
In der Rubrik «Carte blanche» haben Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, über ein Thema zu schreiben, welches ihnen persönlich am Herzen liegt. Dieses Mal kommt Cristina Vega, Mitglied des Publikumsrats der SRG.D und Co-Leiterin von Interbiblio zu Wort.
Ich habe mir oft die Frage gestellt, welche Traditionen ich meinen Kindern weitergeben möchte. Wie und welche Feste feiern wir? Wer kommt, wenn der erste Zahn ausfällt? Kommt die Zahnfee oder wie in meiner Kindheit die Zahnmaus Ratoncito Pérez? Und dabei befiel mich ein diffuses Unbehagen. Ich habe lange darüber nachgedacht, woher es rührt. Und ich habe gemerkt, dass das, was mir von den Medien und der breiten Öffentlichkeit als Schweizer Tradition verkauft wird, nicht mit dem übereinstimmt, was ich tagtäglich sehe und (er)lebe.
Als in der Schweiz geborenes Migrant:innenkind wuchs ich zu Hause mit diesen, draussen mit jenen Traditionen auf. Obwohl hybride Identitäten wie die meine eher die Regel als die Ausnahme sind, fühl(t)e ich mich in diesem Dazwischen häufig orientierungslos. 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben eine Migrationsgeschichte. Die Schweiz ist eine postmigrantische Gesellschaft, eine von der Migration geprägte Gesellschaft. Dennoch werden die Geschichten und Traditionen dieser 40 Prozent häufig als exotisch oder fremd dargestellt und nicht als selbstverständlicher Teil des Schweizer Lebens. Faktisch sind sie es aber. Traditionen sind – wie die Gesellschaft – nicht statisch, sie verändern sich im Lauf der Zeit, und es kommen Neue dazu.
Wenn das (Er)leben eines bedeutenden Teils der Gesellschaft in der Öffentlichkeit überproportional ausgeblendet wird, dann fehlt ein wichtiges Puzzleteil der Schweizer Identität. Dies führt mich unvermeidlich zum Stichwort Repräsentation: Sie ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft zentral. Sie hilft, eigene und andere Lebensrealitäten zu verstehen und zu entdecken. Sie gibt Orientierung, fördert Empathie und Respekt für Unterschiede und ist identitätsstiftend. Repräsentation hat einen positiven Effekt auf die gesamte Gesellschaft, nicht nur auf marginalisierte Gruppen. Da liegt für mich eine Kernaufgabe des Service public.
Cristina Vega wohnt in Zürich und ist Mitglied des Publikumsrats und Co-Leiterin Interbiblio, Kompetenzzentrum für interkulturelle Bibliotheksarbeit.
Kommentare zur Carte blanche an: link@srgd.ch
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