«Du willst damit etwas bewegen»
Mit hartnäckigen Recherchen bringen Investigativjournalistinnen und -journalisten Missstände, Korruption, Skandale ans Licht. Medienhäuser setzen vermehrt auf investigativen Journalismus – auch SRF. Ein Trend? Was kann dieser bewegen? Ein Gespräch mit Mario Poletti, Leiter der «Rundschau», über beherzte Recherchen und Geheimdokumente im Briefkasten.
Herr Poletti, welche Geschichte hat Sie zum Investigativjournalismus gebracht?
Eines Tages lag ein Plastiksack mit einem brisanten Dossier im Briefkasten. Ich war damals, Mitte der 90er-Jahre, als freier Journalist unterwegs. Es waren 30 Seiten mit vertraulichen Dokumenten über das Schweizer Trainingsflugzeug der Pilatus-Werke in Stans. Die Firma hatte ohne Skrupel mitgeholfen – und das war die Enthüllung –, diese Flugzeuge heimlich zu bewaffnen. Diktaturen wie Burma, Guatemala und der Irak bestellten das wendige Flugzeug in der Schweiz, Pilatus-Techniker montierten dann vor Ort Maschinengewehre und Bomben von französischen und belgischen Waffenfabriken unter den Tragflügeln. Mit dem Dossier lag der Beweis für diese Machenschaften auf dem Tisch. Nach einem Riesenwirbel wurde der Direktor gefeuert, der Bundesrat schaute fortan genauer hin. Das war mein Durchstarten als Investigativjournalist.
Haben Sie je herausgefunden, wer das Dossier in Ihren Briefkasten legte?
Irgendwann wusste ich, wer es war. Die Motivation dieses Mannes war klar: Er wollte nicht mehr zuschauen, wie die Chefetage der Pilatus-Werke die Öffentlichkeit hinters Licht führte und die offizielle Schweiz wegschaute.
Ich nehme an, heute landen Geheimdokumente eher in Ihrer Mailbox.
Heute landen Dokumente bei der Rundschau tatsächlich meist in der Investigativ-Box. Die Leute wissen, dass wir hartnäckig recherchieren. Sie kommen direkt auf uns zu. In der Regel müssen wir aber selber suchen. Es geht um Skandale, Millionen, Existenzen – auch um die Existenzen der Informantinnen und Informanten. Darum hat bei uns der Quellenschutz höchste Priorität.
Missstände aufzudecken, gehört zur DNA des Journalismus. Wo beginnt der Investigativjournalismus?
Für mich ist der investigative Ansatz, wenn du Missbrauch von Macht sowie illegale oder unethische Aktivitäten hinterfragst und aufdeckst. Das riecht jetzt nach Pathos, aber du willst damit etwas bewegen in der Gesellschaft. Investigativjournalistinnen enthüllen, was andere unbedingt geheim halten wollen.
Beispiele von investigativem Jounalismus
Beispiele von investigativem Jounalismus
- Watergate
Die Watergate-Affäre in den USA in den 1970er-Jahren führte zum Rücktritt des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon und trug wesentlich zur Stärkung der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz bei.
- Panama Papers
Die Panama Papers im Jahr 2016 offenbarten die illegalen Finanzgeschäfte von Politikern, Prominenten und Unternehmen. Die Affäre führte zu Ermittlungen und zur Verurteilung von vielen Personen und Unternehmen und trug zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Geldwäsche bei.
- Snowden-Enthüllungen
Die Enthüllungen des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden im Jahr 2013 deckten umfangreiche Überwachungsprogramme der US-Regierung auf. Die Affäre führte zu politischen Debatten über Datenschutz und Privatsphäre.
- Fifa-Korruptionsskandal
Die Enthüllungen des FBI im Jahr 2015 über Korruption in der Fifa und anderen internationalen Fussballverbänden führten zu strafrechtlichen Ermittlungen und der Verurteilungen von beteiligten Personen und trugen zur Reform der Fifa bei.
- Grenzen Kroatien
Zusammen mit Lighthouse Reports, ARD, RTL Kroatien und weiteren Medien gelang es SRF «Rundschau», zu dokumentieren, wie staatliche Spezialeinheiten Asylsuchende an der kroatischen EU-Grenze jagen und verprügeln – von der EU und der Schweiz mitfinanziert. Die kroatische Regierung reagierte auf die Veröffentlichung mit der Entlassung von Polizeibeamten und kündigte an, einen unabhängigen Überwachungsmechanismus aufzubauen.
- Synchronschwimmen
Chaos, gewaltsame Trainingsmethoden, Vetternwirtschaft: Im Schweizer Synchronschwimmen herrschen massive Missstände, wie Recherchen von «SRF Investigativ» zeigen. Mehrere Athletinnen berichteten von enormem Drill und einem Klima der Angst. Aufgrund der SRF-Recherche ist die zuständige Co-Sportdirektion zurückgetreten. Ein Bericht bestätigte diese Missstände und schlug eine Palette von Massnahmen vor, die der Schwimmverband schrittweise umsetzen will.
SRF wie auch weitere Medienhäuser setzen derzeit wieder stärker auf Investigativteams. Woran liegt es, dass der investigative Journalismus zunimmt? Eine Reaktion auf die sozialen Medien?
Exklusive Recherchen gehören zur Kernfunktion des Journalismus. Mit dem Medienwandel pulsiert die Berichterstattung allerdings immer schneller und kurzatmiger. Daher setzen Medienhäuser sicherlich bewusst stärker auf exklusive, tief recherchierte Inhalte. Gleichzeitig katapultieren sie ihre Recherchen auf allen sozialen Kanälen unters Volk.
Wie hat der Medienwandel Ihre Arbeit als Journalist beeinflusst?
Das Grundprinzip der Recherche bleibt gleich. Aber selbstverständlich arbeiten wir eng mit allen im Haus SRF zusammen, auch um unsere Geschichten weiterzuverbreiten. Die «SRF Investigativ»-Redaktion, die vor anderthalb Jahren gegründet wurde, bringt sehr erfolgreich einen zusätzlichen Booster in diese trimediale Zusammenarbeit. Davon profitieren auch wir oder der «Kassensturz» – etwa mit der Story zu den Sicherheitsmängeln im Nationalen Organspenderegister. Eine starke Geschichte lieferte «SRF Investigativ» auch über Missstände beim Synchronschwimmen, die auf allen Vektoren eingeschlagen hat.
Die «Rundschau» ist für den Beitrag «Gewalt an der Grenze: EU-Geld für kroatische Schlägerpolizisten» mit einem europäischen Investigativ-Preis ausgezeichnet worden. Wie wirkungsvoll sind solche Recherchen?
Die Story über die kroatischen Prügelpolizisten war sehr wichtig. Unsere Journalistin lag tagelang bei Regen im Schlamm und filmte versteckt mit Spezialkameras, wie brutal und systematisch Migrantinnen und Migranten auf der Balkanroute davon abgehalten werden, die EU zu betreten. Die Dokumente waren erschütternd, und die Recherche über die Schlägereinheiten erzielte eine grosse Wirkung. Die zurückgewiesenen Menschen berichten nicht mehr von Gewalt. Das sehe ich als eine direkte Folge unserer Publikation – ein Journalismus mit Folgen.
Gibt es weitere Beispiele, die in der Gesellschaft etwas bewegt haben?
Die Recherche zur Anti-Baby-Pille Yasmin, der damals am häufigsten verschriebenen Verhütungspille, hat eine breite Diskussion ausgelöst. Wir hatten ein 16-jähriges Mädchen begleitet, das eine schwere Lungenembolie mit Herzstillstand erlitten hat und seither schwerstbehindert ist. Die Herstellerfirma versuchte, die Story mit einer Juristen-Armada zu torpedieren, vergeblich. Allen war spätestens dann klar: Die Pille ist kein harmloses Bonbon. Eindringlich war auch die Recherche unserer Journalistin Helena Schmid, die bei Corona-Massnahmen-Gegnern zu Hause an der Tür klingelte, nachdem diese im Netz anonym gehetzt und Morddrohungen gegen Politikerinnen und Politiker geäussert hatten. Die Botschaft war klar: Wir finden euch.
Rahel Sahli hat einen tamilischen Pastor aus der Region Bern geoutet. Er nutzte seinen Jesus-ähnlichen Status innerhalb der Religionsgemeinschaft aus, mehrere junge Frauen berichteten unserer Journalistin von sexuellen Übergriffen. Deren Eltern schauten weg, nach unserer Publikation wohl nicht mehr. Ein weiteres Beispiel: Ousman Sonko war als Innenminister eine Schlüsselfigur des repressiven Regimes in Gambia. Sonko war 2016 in die Schweiz geflohen und hatte unbehelligt in einem bernischen Asylzentrum gelebt, bis Franziska Ramser ihn dort aufspürte. Sonko, der «Folter-Kommandant», wurde daraufhin verhaftet. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Nun kommt es in der Schweiz zum Prozess.
Wie hat sich der investigative Journalismus verändert: Ist es heute leichter, Missstände aufzudecken?
Dank dem Öffentlichkeitsgesetz, das seit 2006 schweizweit in Kraft ist, sollte der freie Zugang zu Behördeninformationen einfacher sein. Du kommst an spannende interne Verwaltungsdokumente heran. Das Gesetz ist eigentlich ein Brandbeschleuniger für den Recherchejournalismus in der Schweiz, doch viele Amtsstellen tun sich bis heute schwer damit, den Auftrag zu vollziehen. Ich denke, die Behörden haben oftmals kein Interesse, Kritik konstruktiv entgegenzunehmen, die eigenen Strukturen zu hinterfragen.
Vielmehr treten Behörden sofort eine Strafanzeige gegen unbekannt los, sobald sogenannte Amtsgeheimnisse an die Öffentlichkeit gelangen. Das macht es schwieriger, Quellen zu finden, die bereit sind, sich mit dir an einen Tisch zu setzen, um sich vertraulich auszutauschen. Allerdings hat sich mit OSINT, also öffentlich zugänglichen Quellen im Internet, eine neue Recherchegalaxie geöffnet. Und die KI-Tools spucken investigative Fragen, ja gar Story-Ideen aus. Aber am Anfang steht immer das Erkenntnisinteresse des recherchierenden Menschen – und ohne Leidenschaft geht es nicht.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien beim Impact einer veröffentlichten Recherche?
Die Zusammenarbeit mit allen Kanälen bei SRF ist eine eigentliche Win-win-Situation. Ein Beispiel ist die Recherche zur Zuger Firma Crypto von «Rundschau», ZDF und «Washington Post» – zu einem der wahrscheinlich skrupellosesten Geheimdienst-Scoops dieses Jahrhunderts. Sie enthüllte eine weltweite Abhöroperation von US- und deutschen Geheimdiensten mittels manipulierter Chiffriergeräte der Innerschweizer.
Drei «Rundschau»-Journalistinnen recherchierten während Monaten. Wir lancierten die Story am Dienstagabend bei «10 vor 10», am Mittwochmorgen bei «SRF online» sowie auf den Kanälen der sozialen Medien und abends dann mit einer 100-minütigen Sondersendung der «Rundschau». Die Enthüllung hat Reaktionen rund um den Globus ausgelöst. So ein Publikations-Stakkato funktioniert aber nur bei einem wirklichen Knaller.
Wie bedeutend ist für euch die Zusammenarbeit mit internationalen Recherche-Netzwerken?
Wenn immer möglich suchen wir diese gemeinsamen Recherchen. Es ist inspirierend, spannend und natürlich eine Ressourcenvervielfachung. Wir können gegenseitig von unseren Quellen und unserem Know-how profitieren. Wenn wir Recherchen mit internationaler Ausstrahlung allein stemmen müssten, hiesse das ein x-Faches mehr Kosten und Manpower. Digitalisierung und Globalisierung machen eine intensivere journalistische Vernetzung notwendig. Daher denke ich, dass solche Kooperationen zunehmen werden.
Wagen wir einen Ausblick: Wohin geht der Investigativjournalismus?
Er hat wohl eine neue Dimension erreicht, verglichen mit der Zeit, in der ich angefangen habe. Meine erste «Pilatus»- Geschichte erschien damals in der Zeitung – eine Bleiwüste und ein Foto. Heute erzählen wir multimedial auf verschiedenen Kanälen. Du kannst dich in Grafiken hineinklicken, Querverbindungen tauchen auf, vieles ist interaktiv. Am Anfang steht aber immer die investigative Recherche, und diese bleibt damit eine Kerndisziplin des Journalismus.
Welche Recherchegeschichten haben Sie persönlich beeindruckt?
Die Recherchen von Bellingcat zur Vergiftung von Alexei Nawalny. Ein wichtiger Mann in Russland wird vergiftet, und das Dokfilmteam findet tatsächlich heraus, wer dahintersteckt. Bemerkenswert ist allerdings: Christo Grozev, der Leiter der Russlandermittlungen bei Bellingcat, hat bei all seinen Recherchen bisher offenbar über 100 000 Franken für Verbindungsdaten bezahlt, die er von «elastischen» Beamtinnen und Beamten gekauft hat. Bei uns undenkbar.
Hartnäckigkeit und Cleverness haben auch unsere Journalistinnen Fiona Endres, Nicole Vögele und Anielle Peterhans bei der «Cryptoleaks»-Recherche gezeigt. Das Dossier zählte über 200 Seiten, dokumentierte den Skandal aber nur bis 1993. Dennoch konnten sie herausdestillieren, dass die Operation bis mindestens 2018 weiterlief und auch der Schweizer Geheimdienst mitmischte. Die Luft für Recherchen in diesem abgeschotteten Bereich ist sehr dünn.
Stark war auch die Recherche von Tamedia zu den Magglingen-Protokollen, die den Missbrauch von Athletinnen in der Kunstturnausbildung aufgedeckt hat. Beeindruckt bin ich von allen hartnäckig und fair Recherchierenden, die auch den Druck massiver juristischer und anderer Einschüchterungsversuche aushalten. Ich denke, wir haben in der Schweiz ein hohes Niveau an Recherchejournalismus. Das ist wichtiger denn je, kritische Medien sind die Wachhunde der Demokratie.
Über Mario Poletti
Mario Poletti ist seit 2013 Redaktionsleiter des Politmagazins «Rundschau» bei SRF. Das Markenzeichen der Sendung sind unbequeme Recherchen, überraschende Reportagen und harte, aber faire Interviews. Seinen Einstand bei SRF gab Mario Poletti 1994 – er wirkte bis 2001 als Reporter und Themenplaner bei der «Rundschau». In den Anfängen seiner Karriere war er als freier Journalist tätig. Mit seiner Recherche zur Bewaffnung der Pilatus-Flugzeuge machte er auf sich aufmerksam und hat 1993 dazu auch das Buch «Der Pilatus-Schwindel – PC-7 und PC-9 im Sturzflug» veröffentlicht. Seither gilt seine Leidenschaft dem investigativen Journalismus.
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