«Digitalisierung ist nicht etwas, was über uns hinwegrollt»
Die Digitalisierung hat die Arbeit massgeblich verändert – und somit auch die Berufsbilder. Doch wer profitiert davon und wie? Worauf gilt es zu achten? Ein Gespräch mit Innovationsexperte Ruben Feurer vom «Think & Do Tank» Dezentrum.
Es heisst, 65 Prozent der Primarschulkinder werden eines Tages in Berufen arbeiten, die wir noch gar nicht kennen. Was bedeutet das?
Jobs verändern sich sehr schnell. Das hat viel mit der Digitalisierung und der Automatisierung zu tun. Jobs werden ersetzt – etwa solche, die viel repetitive Arbeit beinhalten –, aber auch geschaffen. Etwa solche, die mit der Automatisierung umgehen und Technologien steuern. Wie genau diese Jobs in ein paar Jahren aussehen werden, steht noch in den Sternen.
Welche Beispiele illustrieren diesen Wandel?
Im Marketing zum Beispiel haben sich in letzten Jahrzehnten die Fähigkeiten, die man mitbringen muss, extrem verändert. So sind Social Media oft auch Teil des Jobs – es sind daraus sogar neue Stellen entstanden wie Social-Media-Managerin. Auch in Bezug auf sogenannte künstliche Intelligenz (KI) sind neue Jobs aus dem Boden geschossen wie Prompt Engineering, also wie man eine KI mit Datenanweisungen («prompts») richtig füttert, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Ob es sich dabei um nachhaltige Jobs handelt oder auch diese sich schnell verändern, werden wir sehen.
Gilt das auch für nicht digitale Arbeit?
Ja, zum Beispiel beim Einkaufen. Es gibt immer weniger bediente Kassen und immer mehr Self-Check-outs. Die Arbeit, die früher durch eine Person geleistet wurde, wird jetzt von einer Maschine angeboten.
Eigentlich war das grosse Versprechen der Digitalisierung, dass die Arbeit vereinfacht würde. Stattdessen müssen wir jetzt einfach oft mehr selber machen.
Es geht darum, wie wir die Automatisierung nutzen und was das Ziel ist. Die grosse Frage ist: Was passiert mit dem Produktivitätsgewinn einer Automatisierung? Früher sass eine Person an der Kasse; durch die automatischen Kassen konnte die Produktivität zwar gesteigert werden, aber hat diese Person nun mehr Zeit als vorher? Was man beobachten kann: Unsere Produktivität ist stetig am Zunehmen, aber von der gewonnenen Produktivität profitieren derzeit vor allem die Unternehmen oder die Technologiekonzerne, die immer grössere Profite erzielen. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Wie verteilen wir diesen Produktivitätsgewinn?
Welche Ansätze gäbe es da?
Da gibt es unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. Der Produktivitätsgewinn kann den grossen Konzernen zugutekommen, damit sie wieder neue Technologien entwickeln. Oder man kann ihn umverteilen – sprich die Unternehmen fair besteuern, sodass etwas zurückkommt für die ganze Gesellschaft. Oder aber, man verteilt die frei gewordene Zeit innerhalb des Unternehmens, damit alle Angestellten weniger arbeiten müssen.
Was bedeutet das für das Konzept der Arbeit?
Für uns Menschen ist es eine unglaubliche Chance, dass wir Arbeit, die mühselig ist, keinen Spass macht, vielleicht sogar gefährlich ist, an Maschinen abgeben können. Die Frage ist: Wie weit wollen wir gehen? Ist es sinnvoll, alles zu digitalisieren, oder ist es auch schön, humane Interaktionen zu behalten? Ich finde, es wird zu wenig besprochen, wie wir mit der frei gewordenen Zeit und den Ressourcen umgehen. Im Moment scheint es, als wollten alle möglichst alles digitalisieren und immer produktiver werden. Doch ist wichtig, zu sehen, dass es auch gewisse Nachteile gibt. Vieles hat sich beschleunigt, weil man in kürzerer Zeit mehr machen kann als vorher – was aber auch zu mehr Stress und Überlastung führen kann. Psychische Krankheiten haben zugenommen, und Stress kann einer der Faktoren sein.
Was bedeutet die Digitalisierung für die junge Generation?
Sie wachsen in einem viel digitalisierteren Umfeld auf als wir und sind von Anfang an mit diesen Arbeitsweisen konfrontiert. Das sind andere Voraussetzungen als vor 20 Jahren. Dass die Digitalisierung einen direkten Einfluss auf ihre Einstellung zur Arbeit per se hat, glaube ich nicht. Der Unterschied ist vielleicht eher der demografische Wandel, der dazu geführt hat, dass junge Menschen punkto Arbeitsstellen mehr auswählen können und dadurch eine bessere Verhandlungs position haben. Das beschäftigt natürlich auch Arbeitgeber: Wenn die Person flexibler oder Teilzeit arbeiten möchte, aber Fachkräftemangel herrscht, dann müssen sich auch Arbeitgeber anpassen.
Die Digitalisierung soll einem Arbeit abnehmen, aber es entsteht der Eindruck, dass viele eher mehr arbeiten als vorher – weil man durch die Digitalisierung mehr Dinge selber machen kann.
So, wie wir die Digitalisierung aktuell angehen, führt sie auf jeden Fall nicht dazu, dass es insgesamt weniger Jobs gibt. Aber wie sinnvoll sind die neuen Arbeitsstellen? Wir sind gut darin, neue Jobs zu erfinden, um Leute busy zu halten. Das ist immer auch ein Argument in der Politik: Das Ziel ist Vollzeitbeschäftigung, damit die Wirtschaft wachsen und das BIP grösser werden kann. Ich würde diesen Weg infrage stellen. Das Konzept «Bullshit Jobs» von Anthropologe David Graeber zeigt: Es gibt viele Jobs, die zwar eine Beschäftigung sind, aber keinen sinnvollen Zweck erfüllen.
Die Arbeit an sich hat sich ja auch verändert; das Konzept «New Work» beschreibt den Wandel vom Abarbeiten von Aufgaben hin zur Arbeit als Mittel der Selbstverwirklichung.
Mit dem Begriff «New Work» würde ich aufpassen, der geistert in vielen unterschiedlichen Bereichen herum. Ursprünglich stammt dieses Konzept aus den 1980er-Jahren, von Sozialphilosoph und Anthropologe Frithjof Bergmann. Bei «New Work» geht es um eine bestimmte Art von Arbeit mit viel Freiheit, Eigenständigkeit, Sinnhaftigkeit und Inklusion. Oftmals handelt es sich zwar immer noch um ein Abarbeiten von Aufgaben, aber gleichzeitig spielen auch Werte eine wichtige Rolle: Warum gehe ich arbeiten und was ist mir bei der Arbeit wichtig?
Heisst das, wir müssen uns jetzt alle selbst verwirklichen, wenn wir arbeiten gehen?
Das müssen wir nicht, es ist aber etwas, was viele Leute beschäftigt: die Sinnhaftigkeit des eigenen Berufs, die Eigenständigkeit, das Gefühl, mitbestimmen zu können und nicht einfach ein Rädchen in einer grossen Maschine zu sein. Wenn der Lohn hoch ist, dann können wir uns Gedanken darüber machen, ob unser Job sinnvoll ist oder ob wir eine andere Stelle suchen wollen. Das ist aber ein Privileg; in prekarisierten Berufen oder solchen, die in Zukunft vielleicht sogar weg fallen, herrschen andere Voraussetzungen.
Ein Beispiel dieser Freiheit und Eigenständigkeit, die viele suchen, ist die Gig Economy – man kann durch die digitalen Plattformen seine eigene Chefin sein. Oftmals führt das aber nur in eine Scheinselbstständigkeit, wie der Fahrdienst Uber gezeigt hat: Die Fahrerinnen und Fahrer sind trotzdem von einem Arbeitgeber abhängig.
Absolut. Man muss aber unterscheiden zwischen der Gig Economy und einer allgemeinen Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Bei der Gig Economy geht es um kleine Gelegenheitsjobs auf Abruf, bei denen man kein fixes Einkommen hat. Darum haben verschiedene Städte begonnen, dies zu regulieren, denn die Scheinselbstständigkeit hat zu teilweise sehr prekären Arbeitsverhältnissen geführt. Es gibt aber durchaus Chancen in einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten – jedoch nur, wenn dabei das Risiko nicht von den Arbeitnehmenden getragen wird, sondern es mehr Teilzeitstellen gibt, man nicht unbedingt «nine to five» im Büro sitzen muss und auch von anderen Orten aus zu anderen Zeiten arbeiten kann.
Was heisst das für den Wandel von Berufsbildern und damit für die Anforderungen?
Es kommt extrem aufs Berufsfeld an. In stark digitalisierten Berufen ändern sich auch die Anforderungen. Es wird vorausgesetzt, dass man gewisse Technologien und eine gewisse Art von Kommunikation beherrscht. Dies verändert sich sehr schnell, und diese Geschwindigkeit kann Mitarbeitende auch überfordern und zu viel Stress führen. Ein konkretes Beispiel ist das hybride Arbeiten. Die Möglichkeit des Homeoffice ist relativ neu; seit drei Jahren nutzen viele von uns Videocalls, kommunizieren auf Slack. Oft zeigt sich aber erst durchs Nutzen und Ausprobieren, welche Vor- und Nachteile diese neuen Technologien haben. Sowie auch die neuen Arbeitsweisen mit dem Homeoffice: Das Abgrenzen wird teil weise schwieriger, man ist ständig erreichbar, hat auch im privaten Kontext Zugang zu E-Mails – sprich, wir sind ständig konfrontiert mit der Arbeit.
Ist es nicht problematisch, wenn zum Beispiel Arbeitsort und Wohnraum nicht mehr getrennt werden?
Auf der einen Seite kann das Homeoffice Vorteile haben, weil man weniger pendeln muss, wodurch man sich die Reisezeit spart und dafür zum Beispiel mehr Zeit für Care-Arbeit hat. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist das Homeoffice zu begrüssen, weil dadurch weniger CO2-Emissionen entstehen. Auf der anderen Seite besteht sicher eine Gefahr, dass man Arbeit und Freizeit vermischt – und dass man nicht richtig abschalten kann.
Welche Lösungen sehen Sie?
Es braucht klare Regelungen, die man gemeinsam mit dem Team besprechen sollte – denn es braucht flexible Lösungen. Vielleicht können die einen sehr gut mit dem Homeoffice umgehen, für andere hingegen ist es wichtig, ins Büro gehen zu können und sozialen Austausch zu haben. Das Gleiche gilt bezüglich Erreichbarkeit. Oft hat man das Gefühl, man müsse sofort antworten, dabei ist das vielleicht gar nicht so. Es hilft, dies abzumachen: Wenn es nicht dringend ist, kann ich dann auch einfach einmal pro Tag alle Nachrichten auf Slack, Teams und anderen Messengertools beantworten? Wird von mir erwartet, auch nach 18 Uhr noch zu antworten? Grundsätzlich geht es um Erwartungsmanagement.
Die Multiplikation der Kommunikationskanäle und Tools macht es auch nicht einfacher, den Überblick zu behalten ...
Es ist sicher lohnenswert, sich darüber Gedanken zu machen, mit welchen Tools arbeiten wir überhaupt? Heutzutage ist es selbstverständlich, alles zu digitalisieren – aber auch dies muss man immer wieder hinterfragen und schauen, ob es unseren Zielen dient oder wegen der vergrösserten Ablenkung nicht sogar schadet.
Heisst das zusammengefasst: Dialog ist besser als Digitalisierung?
Ja. Als Gesellschaft befinden wir uns immer noch in einem extremen Lernprozess. Wir haben neue technologische Möglichkeiten, die uns erlauben, Prozesse zu automatisieren, Kommunikation zu verschnellern, produktiver zu werden. Wenn neue Technologien aber zu viel mehr Stress führen, dann müssen wir hinterfragen, ob das wirklich der richtige Weg ist. Gewisse Bereiche sollten wir bewusst nicht digitalisieren und aktiv Grenzen ziehen zwischen Arbeit und Privatleben. Nicht vergessen sollte man aber: Digitalisierung ist nicht etwas, was über uns hinwegrollt – wir können selber gestalten, wie wir diese Technologien einsetzen.
Zur Person:
Zur Person:
Ruben Feurer (1991) aus Zürich ist Partner bei Dezentrum, einem «Think & Do Tank» für Digitalisierung und Gesellschaft. Feurer arbeitet an der Schnittstelle von Strategie, Organisationsentwicklung, Technologie und Design. Er hat unter anderem «Ting» mit aufgebaut, eine solidarische Community, in der Mitglieder mehr als 400'000 Franken pro Jahr für persönliche Weiterentwicklung teilen.
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