Gatekeeperin der News
Themen, die durch die Medien transportiert werden, bestimmen mit, wie wir die Realität wahrnehmen. Wahlkampfauftritte, Gerichtsverfahren von Donald Trump, Versprecher von Joe Biden – was ist relevant, was nicht? Zoe Geissler, Produzentin SRF 4 News, erzählt von ihrer Verantwortung dafür, welche Themen auf den Sender kommen.
«Guten Morgen» – zu diesen zwei Worten wachen Tausende Menschen in der Deutschschweiz auf. Dann Schlagzeilen, Wetter,
Nachrichten, Beiträge und Vertiefungen. Nach rund zehn Minuten ist die Sendung «Heute Morgen» schon wieder vorbei, und die Hörer:innen starten, so unser Ziel, gut informiert über die wichtigsten Themen im Ausland und in der Schweiz in den Tag. Obwohl die Sendung relativ kurz ist und jeden Tag im gewohnten Gewand daherkommt, ist sie das Resultat etlicher Stunden Arbeit mit vielen Diskussionen innerhalb eines grossen Teams. Und ein Teil davon bin ich.
Seit drei Jahren arbeite ich bei SRF 4 News, anfangs als Praktikantin, dann als Redaktorin und mittlerweile bin ich Produzentin und plane zudem die Woche. Meine Dienste sind sehr unterschiedlich: An einem Tag beginne ich meine Arbeit als Frühproduzentin noch bevor das erste Tram fährt. Umgekehrt kann mein Arbeitstag als Abendproduzentin nach dem letzten Tram enden. Genau das macht die Arbeit bei SRF 4 News so interessant und abwechslungsreich. Je nach Dienst habe ich andere Aufgaben und jeden Tag beschäftige ich mich mit neuen tagesaktuellen Themen. Doch schlussendlich geht es immer darum, unsere Morgenstrecke, also sowohl die Sendung «Heute Morgen» als auch das Hintergrundprogramm auf SRF 4 News, aktuell, relevant und publikumsnah zu gestalten, oft auch unter Zeitdruck.
Die Ausgestaltung unseres Programms ist ein ständiger Aushandlungsprozess innerhalb der Redaktion und mit den Fachredaktionen. Denn wir sind uns bewusst, dass wir die Wahrnehmung unseres Publikums mitprägen. Daher stelle ich mir bei jeder Entscheidung, was auf unseren Sender kommt, unter anderem folgende Fragen: Welche Themen möchte ich aufgreifen? Und: Wie sollen die ausgewählten Themen erzählt werden?
Unsere Themenwahl bestimmt mit, worüber das Publikum informiert wird.
Illustrieren wir unsere Überlegungen am Beispiel der US-Wahlen, die im November stattfinden und zu denen uns jetzt schon täglich neue Entwicklungen erreichen: von Wahlkampfauftritten des voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump über stattfindende Vorwahlen oder Meldungen zu Gerichtsurteilen rund um Trump bis hin zu Versprechern des amtierenden Präsidenten Joe Biden. Doch welche Meldungen sind relevant genug und verdienen einen Platz in unserer Sendung? In all diesen Fällen überlegen wir uns genau, wann wir etwas aufgreifen und umfassender darüber berichten. Das kann sein, wenn es Überraschungen bei den Vorwahlen gibt oder uns andere unerwartete Entwicklungen erreichen. Als Produzentin und Gatekeeperin trage ich hier eine Verantwortung, denn unsere Themenwahl bestimmt mit, worüber das Publikum informiert wird.
Haben wir uns entschieden, uns einem Thema anzunehmen, stellt sich die Frage, wie es erzählt werden soll. Hier überlege ich mir zunächst, welcher Fokus für unser Publikum spannend ist, und danach, welche Form sinnvoll ist: Im Fall der US-Wahlen kann das ein Gespräch mit unseren eigenen Korrespondent:innen in den USA sein, ein Interview mit einer Expertin, ein Beitrag mit O-Tönen wichtiger Akteur:innen oder eine längere Reportage. Das Format und die Wahl der zu Wort kommenden Personen gibt dem Thema den gewünschten Fokus. Dies mag zunächst offensichtlich erscheinen. Je länger ich aber in dieser Funktion tätig bin, desto mehr habe ich gelernt, dass die Vielfalt der Perspektiven – die Auswahl der Expert:innen, die politische Orientierung der Akteur:innen oder die Erfahrungen der Betroffenen – dazu führt, dass unsere Berichte tiefgründiger werden, mehr Einsichten zulassen, und wir so ein differenziertes Bild der Realität zeigen können.
Um solche Entscheidungen zu treffen, hilft es mir, dass ich stets gut informiert bin, täglich verschiedene Zeitungen lese, diverse Podcasts in anderthalbfacher Geschwindigkeit höre und ich nach drei Jahren schon einen Rucksack an Erfahrungen sammeln konnte. Gleichzeitig sind wir allein in unserer Redaktion rund 40 Personen mit unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen Umfeldern, die alle ihre Eindrücke und Themenideen einbringen. Das heisst, aus den unzähligen Diskussionen, die wir über aktuelle Themen führen und darüber, wie wir sie weiterentwickeln können, entsteht ein vielfältiges und relevantes Programm.
Trotzdem stehe ich während meiner Arbeit unter Druck. Ich muss des Öfteren in kurzer Zeit entscheiden, was auf unseren Sender kommt. Dies kann auch mal sein, wenn die Quellenlage unsicher ist. Zwar gilt bei SRF, dass wir für diePublikation einer Nachricht eine zweifelsfrei legitimierte und nachprüfbare Quelle brauchen. Und falls wir dies nicht haben, gilt im Grundsatz die Zwei-Quellen-Regel. Wir haben also klare Vorgaben. Doch wie gehen wir vor, wenn die Quellenlage dennoch unsicher ist? Wie können wir Ereignisse in Kriegen, bei Terror oder in Ländern mit eingeschränkter Medienfreiheit der Realität entsprechend erzählen und einordnen? Nehmen wir das Beispiel des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der uns nun mehr als zwei Jahre beschäftigt.
Wir prägen jeden Tag aufs Neue mit, worüber gesprochen wird – und wie.
Es erreichen uns zahlreiche Informationen zu diesem Krieg, zum Teil sind sie widersprüchlich oder die Quellenlage nicht unabhängig überprüfbar. Hier stützen wir uns unter anderem auf unsere eigenen Journalist:innen vor Ort. So übernehmen wir die Informationen nicht einfach, sondern ordnen sie ein. Gleichzeitig ist es wichtig, Transparenz zu schaffen, wenn die Quellenlage unsicher ist. Zum Beispiel bei umstrittenen Fakten. Nur so, also wenn wir Quellen hinterfragen, uns an sicheren Fakten orientieren und die Geschehnisse einordnen, können wir unserem Publikum ein differenziertes Bild zeigen.
Im Zusammenhang mit Kriegen sind auch Opferzahlen ein wichtiges Thema. Zum einen, weil auch hier die Quellenlage oft unsicher ist, zum anderen, weil Opferzahlen in der Wahrnehmung abstrakt sind. Wenn wir davon sprechen, dass bei einem Angriff «über 300 Menschen getötet wurden», ist diese Zahl zwar wichtig, um das Ausmass zu beschreiben. Damit unser Publikum aber besser versteht, wie schlimm die Situation für die Menschen ist, versuchen wir, Stimmen vor Ort einzubinden. Denn sie ermöglichen dem Publikum, die Schicksale, das Leid und die Tragödien hinter den Zahlen besser zu verstehen.
All dies zeigt auf, dass ich mit meiner Arbeit einen Teil dazu beitrage, wie die Welt von unserem Publikum wahrgenommen wird: Worüber wird berichtet und wie wird dies getan? In den letzten Jahren habe ich viel darüber gelernt, welche Verantwortung wir als Journalist:innen haben: Wir prägen jeden Tag aufs Neue mit, worüber gesprochen wird – und wie.
Kommentar