Michael Hermann: «Wir sind eine spezielle Spezies»

Der Meinungsforscher Michael Hermann misst mit seinem Forschungsinstitut Sotomo die Solidarität in der Schweiz. Nach einem grossen Rückgang während der Pandemie erzählt er, welchen Stand sie in der heutigen Welt noch hat – und warum die Spezies Mensch eigenartig ist.

Michael Hermann, ist die Schweiz ein solidarisches Land?

Das ist eine Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt. In der Schweiz gibt es starke solidarische Elemente, aber unsere Gesellschaft beruht nicht allein darauf. Individualismus und Eigennutz laufen der Solidarität entgegen. Das gilt auch auf nationaler Ebene. Da ist die Schweiz oft auf den eigenen Vorteil bedacht, aber leistet dennoch auch starke solidarische Beiträge.

Was bedeutet der Begriff überhaupt?

Zunächst mal ist es ein sehr positiv besetzter Begriff, denn wer will schon nicht solidarisch sein? Allerdings verstehen nicht alle das Gleiche darunter, und man passt die Bedeutung gern den eigenen Bedürfnissen an. Das war ein Grund, warum wir Solidarität in der Schweiz empirisch untersucht haben. Uns ging es vor allem darum, zu begreifen, was die Bevölkerung
unter dem Begriff versteht.

Seit 2021 erstellen Sie jährlich einen Solidaritäts-Barometer. Wie definieren die Befragten Solidarität?

Für viele bedeutet Solidarität mehr als nur Helfen und Unterstützen, es geht auch um eine Form von Zusammenhalt und Sich-verbunden-Fühlen mit denen, für die man etwas macht. In diesem Verständnis haben primär die eigene Familie und Bekannte Solidarität verdient. Ein zweites verbreitetes Verständnis orientiert sich vor allem an der unverschuldeten Notlage, in die Menschen aufgrund eines Unglücks oder einer Naturkatastrophe geraten sind.

«Die Vorstellung der institutionalisierten Solidarität durch den Staat ist stark verankert.»

Michael Hermann, Leiter Forschungsstelle Sotomo

Recht stark verankert ist auch die Vorstellung der institutionalisierten Solidarität durch den Staat, sprich, dass man Steuern zahlt, dass der Staat für die Armen oder Kranken schaut. Nur eine Minderheit hat hingegen eine liberale Vorstellung davon, und zwar, dass jede Person für sich selbst schauen soll, um anderen nicht zur Last zu fallen. Diese Vorstellung hat während der Coronapandemie an Bedeutung gewonnen: Sich impfen zu lassen, wurde als solidarischer Akt empfunden – nicht primär, um sich selbst zu schützen, sondern um ältere Personen nicht anzustecken.

Während der Coronapandemie hat die Solidarität stark gelitten. Weshalb? Man half sich doch gegenseitig, etwa mit der Nachbarschaftshilfe.

Ganz am Anfang war sie sehr stark, weil das Coronavirus als Angriff von aussen wahrgenommen wurde, was zu einer internen Solidaritätswelle geführt hat. Doch sobald das Virus auch in unserem Land stärker präsent war, wirkte dieser Reflex nicht mehr – jetzt konnte die Gefahr auch vom Nachbarn kommen. Der Zwang, zu Hause zu bleiben, und die Angst, sich anzustecken, flachten die Welle wieder ab. Vertrauen in das Umfeld oder in die Institutionen ist eine wichtige Basis, es braucht oft eine Reziprozität, sprich, ich muss vertrauen können, dass auch ich Hilfe erfahren würde, wenn ich sie brauchte. Dieses Vertrauen hatte gelitten: Es gab eine starke Verunsicherung im Umgang miteinander, mit weniger Anlässen, weniger Kontakten. Der soziale Kit hat gebröckelt. Eine wichtige Rolle spielten auch die emotionalen Konflikte zwischen Impfbefürwortern und Massnahmenkritikerinnen.

Inzwischen scheint sich die Situation gebessert zu haben; die Solidarität sei generell hoch und der zwischenmenschliche Umgang deutlich positiver als 2021. Wie kommt das?

Es gibt mehr Austausch, man trifft sich wieder und hat so auch mehr Empathie und mehr Vertrauen. Darum steigt die Solidarität innerhalb der Schweiz wieder. Die Frage ist, was gegen aussen geschieht. Der Krieg in der Ukraine hat zwar eine enorme Solidaritätswelle gegenüber Flüchtlingen ausgelöst, doch diese ist bereits wieder am Erodieren. Das ist normal. Nur beim persönlichen Umfeld erwartet man permanente Hilfsbereitschaft. Bei Menschen, die man nicht kennt, geschieht das eher bei akuten Notfällen, wie etwa dem Erdbeben in der Türkei oder den Anschlägen in den USA, dem Massaker in Israel, der Hungersnot im Gazastreifen.

Es fühlt sich an, als müsste man sich heute überall und gegenüber allen unterstützend zeigen.

Das Problem ist: Sobald die Situation andauert, ist es schwierig, Solidarität aufrechtzuerhalten. Das kann zur Belastungsprobe werden, weil heute viele globale Konflikte und Krisen lange währen. Das sehen wir auch beim Klimawandel: Nach dem Hitzesommer 2018 ging ein Ruck durch die Gesellschaft mit einer breiten Jugendbewegung und vielen Solidaritätsbekundungen; aber je länger es geht, desto mehr siegen Gewöhnung, Abstumpfung, Bequemlichkeit. Dann fliegt man eben doch lieber, als für die kommenden Generationen darauf zu verzichten. Das Potenzial der Solidarität ist nicht unerschöpflich, sie kann überstrapaziert werden. Es wäre also wichtig, dass die Welt nicht zu stark auf spontane Solidarität angewiesen ist. Ohne institutionalisierte Solidarität und Eigenverantwortung kommen wir als Gesellschaft sonst an die Grenzen.

In Ihrer Studie ist eine Tendenz zu mehr Hilfsbereitschaft im Privaten erkennbar, hingegen werden der öffentliche Raum und die sozialen Medien mehrheitlich als unsolidarisch wahrgenommen. Ist das ein Zeichen der oft beschworenen zunehmenden Spaltung der Gesellschaft?

Mit der Digitalisierung bekommen wir heute live mit, wenn Menschen in anderen Weltgegenden leiden. Das kann Solidarität wecken, uns aber auch abstumpfen lassen. Dazu kommt, dass gerade die sozialen Medien zur Verbreitung von Hass beitragen. Wenn viel Misstrauen besteht und andere Gruppen als feindselig wahrgenommen werden, wird das Fundament des Füreinander-Einstehens untergraben.

Negativ fällt in Ihrer Studie der zwischenmenschliche Umgang in der Gesellschaft aus. Er wird von der Hälfte der Befragten als egoistisch und als desinteressiert wahrgenommen. Muss uns das Sorgen bereiten?

Soziale Medien spülen das Egoistische und das Konfliktreiche stärker an die Oberfläche. So kann der Eindruck entstehen, dass zwar die Nachbarschaft gut ist, aber alle anderen nicht. Wer kein Vertrauen mehr hat in die gegenseitige Unterstützung und sich abkapselt, kann eine negative Spirale in Gang setzen. Man muss aber auch sagen: Die Spenden- und Hilfsbereitschaft war früher nicht grösser als heute.

Doch das Freiwilligenengagement und die Vereinsarbeit nehmen ab. Was drückt das aus?

Das ist Ausdruck einer mobileren, institutionalisierten Gemeinschaft. Vereinsarbeit funktioniert vor allem, wenn man lokal eingebunden ist. Sobald man viel unterwegs ist oder in einem städtischen Umfeld lebt, ist sie viel weniger wichtig. Das war schon früher so, nur leben heute immer mehr Menschen im urbanen Umfeld. Unweigerlich hat man so auch mehr Optionen. Statt in den Turnverein geht man ins Fitness. Dies schafft Konkurrenz zu den Vereinen. Auch das Bedürfnis nach Individualität und die Bereitschaft, sich in eine Gruppe einzufügen, haben sich verändert. Gleichzeitig entstehen aber auch viele neue Vereine. Die Situation wurde lange als dramatisch angesehen, hat sich in der Zwischenzeit aber stabilisiert.

«Das Staatswesen funktioniert nur, wenn man bereit ist, seinen Teil mitzutragen.»

Michael Hermann, Leiter Forschungsstelle Sotomo

Lässt die internationale Solidarität nach? Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit sollen gestrichen werden, auch die Ukraine erfährt nach einem Rekord an Geldspenden einen Rückgang der Bereitschaft zu spenden.

Wenn man das Gefühl hat, Konflikte gebe es überall, man sei bedroht, vielleicht auch finanziell unter Druck, dann besteht die Gefahr, dass man findet, jetzt müssen wir zuerst einmal für uns schauen. Das kann zu einer internationalen Entsolidarisierung führen. Plötzlich wird eine Switzerland-first-Mentalität sichtbar nach dem Vorbild von Donald Trumps «America first». Zudem gibt es aber auch so etwas wie eine Mefirst-Mentalität: Wenn alle profitieren, will auch ich meinen Teil haben. Dies ist gefährlich, denn das Staatswesen funktioniert nur, wenn man bereit ist, seinen Teil mitzutragen.

Welche gesellschaftlichen Dynamiken beeinflussen die Entwicklung von Solidarität?

Die Globalisierung macht es schwieriger. In den engen Kammern einer nicht mobilen Gesellschaft konnte man mit einem begrenzten Kreis von Menschen solidarisch sein, denen man schon immer nah war. Mit dem internationalen Handel, aber auch der medialen Globalisierung, ist man zumindest virtuell über das Handy mit der ganzen Welt verbunden. Dadurch ist die Welt grösser und zusammenhängender geworden. Das hat aber auch zu einer permanenten Überforderung des Solidaritätsprinzips geführt. Der Begriff «Global Village» aus den 1960er-Jahren, der die vernetzte Welt angeblich zu einem «Dorf» transformiert, verharmlost die Globalisierung. Wir befinden uns eher in einer «Global Mega City». Zu dieser Megastadt gehören auch Slums, Bandenkriege und Kriminalität. Die sozialen Medien machen Konflikte, Hass und extreme Positionen sichtbarer und spürbarer. Statt einer globalen Empathie und dem Gefühl, einem gemeinsamen Menschenvolk anzugehören, zerfällt die Welt wieder in einzelne Gruppen oder gar Stämme, die sich feindlich sind.

Kann man nur solidarisch sein, wenn es einem gut geht, wenn der Wohlstand gedeiht?

Überhaupt nicht. Es gibt unglaubliche Beispiele, etwa die Internierung der Bourbaki-Armee: Die Schweizer Bevölkerung hat 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg Zehntausende französische Soldaten aufgenommen, untergebracht, medizinisch betreut – obwohl man selbst nicht viel hatte. Manchmal ist es fast schwieriger, solidarisch zu sein, wenn die Unterschiede zu gross sind: Man hat sich zu sehr an seinen Wohlstand gewöhnt und hat Angst vor einem Abstieg. Es gibt in der Schweiz aber auch Beispiele von wohlhabenden Menschen, die uneigennützig handeln, insbesondere was materielle Spenden betrifft.

Welche Rolle spielen die Medien?

Krisen und Katastrophen gelangen erst ins Bewusstsein der Gesellschaft, wenn sie ihr nähergebracht werden. Dies geschieht oft über journalistische Reportagen. Der Biafra-Krieg in Nigeria in den 1960er-Jahren hat wegen der eindrücklichen Bilder von Kindern mit aufgeblähtem Bauch eine erste grosse Welle der Solidarität mit Afrika ausgelöst. Ein anderes Beispiel ist das Foto des nackten Mädchens beim Napalmangriff in Vietnam. Medien spielen eine positive und wichtige Rolle. Wenn aber die Gesellschaft überall nur noch Konflikte und Bedrohungen sieht, besteht die Gefahr, dass das Gegenteil eintrifft, weil man glaubt, nichts ändern zu können, und sich ohnmächtig fühlt. Heutzutage steht aber nicht mehr alles in der Macht der Medien, weil vieles über die sozialen Medien läuft.

Heisst das, Medien sollten weniger oder anders über Konflikte berichten?

Es besteht natürlich eine Informationspflicht. Aber die Medien sollten eher zeigen, wo man etwas ändern und zum Positiven bewegen kann. Sprich: Grosse Probleme in kleine Probleme zerlegen, die bewältigbar sind. Auch gilt es, Beispiele zu suchen, um zu zeigen, wo es sich lohnt, etwas zu machen. Etwa, was die Ukraine-Hilfe wirklich bringt. Es geht nicht darum, etwas zu beschönigen, sondern darum, die Perspektive zu wechseln. Da Solidarität von Nähe lebt, kann es helfen, Konflikte zu personalisieren und jeweils ein persönliches Schicksal aufzuzeigen statt nur die grossen geopolitischen Zusammenhänge.

Wagen wir einen Ausblick: In welche Richtung bewegt sich die Gesellschaft?

Die Solidarität ist herausgefordert. Es gibt nicht weniger Probleme. Die Welt prasselt auf uns ein, und die Leute, die Konflikte und Hass schüren wollen, werden immer raffinierter in ihren Methoden. Gleichzeitig wäre ich aber auch nicht zu pessimistisch. Der Mensch ist extrem anpassungsfähig und kann mit vielem umgehen. Im Vergleich zu allen anderen Tieren ist der Mensch erstaunlich gut darin, auch mit Fremden solidarisch zu sein. Schimpansen etwa sind innerhalb ihrer Gruppe solidarisch, lausen sich gegenseitig, schauen zueinander – aber wenn eine andere Gruppe kommt, begegnen sie ihr feindlich, weil sie Gefahr oder Konkurrenz bedeutet. Menschen hingegen können auch solidarisch sein, wenn ihnen Unbekannte von einer Katastrophe betroffen sind. Das allein ist ein kleines Wunder. Wir sind eine spezielle Spezies.

Zur Person

Der Meinungsforscher Michael Hermann ist Co-Gründer und Leiter des privaten Forschungsinstituts Sotomo. Dieses publiziert seit 2021 jährlich den Glückskette-Solidaritäts-Barometer und untersucht, wie sich die Solidarität nach der Covid-19-Pandemie in der Schweizer Bevölkerung entwickelt. An der letzten Onlinebefragung nahmen über 3000 Personen aus der deutsch-, der französisch- und der italienischsprachigen Schweiz teil.

Text: Eva Hirschi

Bild: zVg

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