«Transparenz über die eigene Arbeit ist enorm wichtig»

Die publizistischen Leitlinien sind die Basis des journalistischen Arbeitens. Es ist ein Regelwerk, das sich jede Redaktion selbst auferlegt. Im Interview erklärt Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss, warum die Relevanz dieser Richtlinien heute so hoch ist wie noch nie, warum auch gesellschaftliche Fragestellungen in die Leitlinien einfliessen sollten – und wo die Regelwerke der Schweizer Redaktionen Lücken aufweisen.

Vinzenz Wyss, Schweizer Medien verfügen zumeist über publizistische Leitlinien. Auf sie beziehen sie sich, um ihre journalistische Arbeit zu erklären. Welche Relevanz hat dieses Instrument im Redaktionsalltag?

Die publizistischen Leitlinien sind in erster Linie ein wichtiges Qualitätssicherungsinstrument. In der Regel wird es intern eingesetzt: Die Redaktion beschreibt darin journalistische und medienethische Problem- und Fragestellungen und wie damit umzugehen ist. Daran müssen sich alle halten, vom Volontär bis zur Chefredaktorin.

Ein Beispiel?

Immer wieder kommt die Frage nach der Nennung der Nationalität von Straftätern auf. Wann ist diese Transparenz relevant, wann sollte darauf verzichtet werden? Redaktionen können sich beispielsweise dazu entscheiden, in gewissen Fällen davon abzusehen, obwohl die Nationalität in der Polizeimeldung genannt wurde. In den publizistischen Leitlinien wird begründet, weshalb eine Redaktion so arbeitet; nämlich dann, wenn die Nationalität im Zusammenhang mit der Geschichte relevant ist und nicht diskriminiert.

Wo liegen die Ursprünge der publizistischen Leitlinien?

In den 1970er-Jahren entstanden Redaktionsstatuten, welche die Beziehung zwischen Redaktion und Verlag regelten. Medienethische Prinzipien und handwerkliche Regeln für den journalistischen Alltag wurden darin aber nicht ausgeführt. In der Deutschschweiz war der Initiator der Radio-DRS-Journalist Casper Selg, der vor 35 Jahren als USA-Korrespondent mit den strengen US-Medien konfrontiert war und bei seiner Rückkehr als Mitglied der Chefredaktion schriftlich festhielt, nach welchen Prinzipien vorzugehen sei. Sein Leitfaden entwickelte sich weiter zu den heutigen Publizistischen Leitlinien von SRF, die nach wie vor Vorbildcharakter haben.

In der Deutschschweiz gab es nichts Vergleichbares, woran orientierte sich Casper Selg beim Erarbeiten des Leitfadens?

Er hat sich von ausländischen Guidelines inspirieren lassen, studierte Leitlinien des National Public Radio NPR in den USA, von «New York Times», «Le Monde», «El País» und anderen. Allerdings widersprachen die sich zum Teil in zentralen Fragen. Schliesslich hat er sich stark an den «Editorial Guidelines» der BBC orientiert. Auch dank dieser konnte sich die BBC bereits im Zweiten Weltkrieg als unabhängige Stimme Europas positionieren.

Diese Guidelines wurden also nach aussen kommuniziert, nicht nur innerhalb der Redaktion genutzt.

Ja, im Europa während des Zweiten Weltkriegs war es wichtig, die journalistischen Werte auch nach aussen zu kommunizieren. Ähnlich ist es heute bei SRF: Zunächst waren die Publizistischen Leitlinien ein noch eher dünnes Buch, mit dem vor allem die Chefredaktion und die Tagesverantwortlichen arbeiteten. Heute sind sie als umfassendes Regelwerk öffentlich im Web einsehbar.

Wie lange ging es, bis andere Schweizer Redaktionen nachzogen und publizistische Leitlinien erarbeiteten?

Es dauerte etwas, obwohl die DRS-Leitlinien auch den anderen Redaktionen bekannt waren. Zu Beginn war auch viel Unsicherheit da. Ein Beispiel: Im Jahr 2016 besuchte ich im Rahmen eines Forschungsprojekts viele verschiedene Redaktionen, um das Qualitätssicherungssystem zu evaluieren. Publizistische Leitlinien sind ein wichtiger Bestandteil davon. Der Chefredaktor einer grossen Zeitung zückte damals beim Gespräch mit mir eine veraltete Version der Publizistischen Leitlinien des Schweizer Radios aus dem Büchergestell und meinte: «So etwas hätte ich auch gern. Aber wir können das ja nicht einfach abschreiben…» Im Anschluss an meine Evaluation gab er dann aber einem Mitarbeiter den Auftrag, entsprechende Leitlinien für die Redaktion zu verfassen. Heute verfügen die meisten Redaktionen über Leitlinien.

In Ihrem Buch «Medienqualität durchsetzen», das Sie gemeinsam mit Peter Studer und Toni Zwyssig veröffentlichten, kritisieren Sie, dass publizistische Leitlinien noch immer oft unzugänglich sind für die Öffentlichkeit. Das war vor elf Jahren, wie hat sich das entwickelt?

Viele Medienhäuser haben noch immer nicht verstanden, wie wichtig Transparenz über die eigene Arbeit ist: gegenüber dem Publikum und den Betroffenen, also jenen, über die man berichtet. Und auch gegenüber politischen Akteuren, welche die Berichterstattung immer wieder mal kritisieren, ohne die Standards zu kennen.

Könnte Transparenz gegen Anschuldigungen bezüglich «gelenkter Presse» oder «Lügenpresse» helfen?

Ich glaube, es ist heute so wichtig wie nie, dass sich der Journalismus erklärt: «Daran könnt ihr uns messen; kritisiert uns, wenn wir unsere eigenen Regeln verletzen.» Die skeptischere Stimmung gegenüber den Medien sollte die Verlage und Redaktionen dazu veranlassen, publizistische Leitlinien öffentlich zu kommunizieren. Mich erstaunt schon, dass solche Regelwerke von einigen Medienhäusern noch immer unter Verschluss gehalten werden.

«Für eine freie Gesellschaft wäre es fatal, wenn der Gesetzgeber journalistische oder medienethische Prinzipien vorgäbe.»

Vinzenz Wyss

Publizistische Leitlinien sind freiwillig. Warum gibt sich eine Redaktion Regeln, die weiter gehen als das Mediengesetz?

Wie sagte doch schon der Philosoph Seneca? «Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand.» Ausserdem wäre es für eine freie Gesellschaft fatal, wenn der Gesetzgeber journalistische oder medienethische Prinzipien vorgäbe. Selbstverständlich sind aber auch für unabhängige Medien allgemeingültige Gesetze einzuhalten, wie zum Beispiel die Wahrung der Persönlichkeitsrechte. Die Selbstregulierung über eigene Leitlinien ist übrigens eine Reaktion auf die Gelüste der Politik in den 1970er-Jahren, die Medien vermehrt an die Kandare zu nehmen.

Inwiefern?

Die Politik – nicht nur in der Schweiz – beäugte das aufkommende Fernsehen skeptisch. In der Übertragung von bewegten Bildern sahen manche Politiker die Gefahr einer Manipulation der Bevölkerung. Die Medienbranche reagierte auf diesen Regulierungswillen damals mit der Einrichtung von Presseräten, die in der Form von Journalistenkodizes professionelle Regeln festhielten, um quasi im vorauseilenden Gehorsam Eingriffe des Staats zu verhindern. Diese Rechte und Pflichten für Medienschaffende sind durchaus mit publizistischen Leitlinien zu vergleichen; sie setzen jedoch auf der Ebene der Profession und nicht auf der Ebene der einzelnen Medienorganisation an. Dieses sogenannte Standesrecht wurde schon in manchem richterlichen Urteil berücksichtigt.

Heute befinden sich Medien immer öfter in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld – gerade die öffentlich finanzierten Medienhäuser. Ein Beispiel ist die Genderdebatte: SRF passte 2023 die Publizistischen Leitlinien dahin gehend an, den sogenannten Genderstern nicht mehr zu verwenden. Dies als Reaktion auf Kritik aus dem Publikum. Jetzt, ein Jahr später, gingen bei der Ombudsstelle viele Beschwerden ein, dass SRF zu wenig inklusive Sprache verwende. Als Redaktion ist man da in einem stetigen Spannungsfeld, die öffentliche Meinung verändert sich ständig.

Das Instrument publizistische Leitlinien soll ja gerade ein lebendiges Regelwerk sein. Auch scheinbar unbestrittene Regeln müssen immer wieder hinterfragt und diskutiert werden. Die sogenannte Wokeness-Debatte rief bei den Medien in der Schweiz unterschiedliche Reaktionen hervor. Beim Gendern geht es um den Umgang mit Sprache, das ist journalistisch relevant. Als Redaktion muss man sich für eine Lösung entscheiden, an die sich die Redaktionsmitglieder halten sollten. Man kann die Entscheidung nicht dem einzelnen Journalisten, der einzelnen Journalistin überlassen.

Warum nicht?

Eine Redaktion soll diese Themen diskutieren und sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise verständigen. In welchen Fällen man etwa die Nationalität einer Straftäterin nennt, entscheiden auch nicht Einzelne für sich. Nach aussen muss eine Redaktion geeint auftreten. Ansonsten wird das Publikum verwirrt, und redaktionelle Entscheidungen wirken willkürlich.

Man könnte auch argumentieren, das sei die journalistische Freiheit der einzelnen Redaktionsmitglieder.

Die Redaktion ist ja frei in der Diskussion über das Thema – und dort müssen kritische Stimmen erlaubt sein. Die publizistischen Leitlinien können ja stets neu besprochen werden. Vielleicht gibt es in der Thematik Entwicklungen, welche die Sachlage verändern.

«Wer sich gar nicht mit den publizistischen Leitlinien seines Mediums identifizieren kann, wechselt mittelfristig vielleicht besser die Redaktion.»

Vinzenz Wyss

Was, wenn sich jemand an einer von der Redaktion getroffenen Entscheidung stört?

Wer sich gar nicht mit den publizistischen Leitlinien seines Mediums identifizieren kann, wechselt mittelfristig vielleicht besser die Redaktion. Aber: Voraussetzung für akzeptierte Leitlinien ist, dass diese nicht einfach von der Chefetage diktiert werden. Die Mitarbeitenden müssen bei der Erarbeitung miteinbezogen werden. Dann ist auch die Akzeptanz gegenüber einzelnen Richtlinien höher, mit denen man vielleicht nur zähneknirschend einverstanden ist.

Die publizistischen Leitlinien verschiedener Medien unterscheiden sich. Manche regeln ausschliesslich Handwerkliches, andere sogar die Bürokultur. Was soll das Leitwerk beinhalten – und was nicht?

In den Anfängen waren publizistische Leitlinien noch stark aufs Handwerk bezogen. Mit der Zeit sind auch Haltungen zu aktuellen Gesellschaftsfragen eingeflossen. Diese lassen sich ja auch oft nicht von der journalistischen Arbeit trennen. Zum Beispiel: Wer in der Berichterstattung Wert legt auf das Abbilden der gesellschaftlichen Diversität, sollte auch klären, wie divers das Redaktionsteam sein soll. Wer mit vielfältigen Perspektiven die Welt beobachten und inszenieren will, muss diese Vielfalt auch personalpolitisch organisieren.

Vor zwei Jahren wies SRF seine Moderatorinnen und Moderatoren von Informationssendungen an, während der Übertragung keine religiösen Symbole zu zeigen. Man berief sich dabei auf die Publizistischen Leitlinien. Ist diese Auslegung der Publizistischen Leitlinien legitim?

Die Moderation gehört zur Inszenierung der Sendung. Trägt sie ein Symbol – egal, ob religiös oder politisch –, beeinflusst das die journalistische Kommunikation. Will man seitens SRF Rücksicht auf eine religiös vielfältige Gesellschaft nehmen, kann man zur Entscheidung gelangen: Im professionellen Umfeld sollten religiöse Symbole nicht getragen werden, weil sich gewisse Gruppen dadurch ausgeschlossen fühlen könnten.

Verändert es denn den Informationsgehalt eines Nachrichtenbeitrags?

Stellen Sie sich vor, ein Moderator trägt eine Halskette mit Kruzifix. Jetzt moderiert er einen Beitrag über den Bau einer Moschee an. Das kann für gewisse Zuschauerinnen und Zuschauer unnötig das Framing und damit die Interpretation des Beitrags beeinflussen. Die Publizistischen Leitlinien aber fordern Sachlichkeit in Informationssendungen. Deshalb scheint es mir korrekt, die Moderation anzuweisen, solche Symbole nicht zu tragen.

Inzwischen weisen auch Publikationen von Unternehmen eigene Leitlinien aus. Ist das sinnvoll oder versucht man einfach, Firmenkommunikation einen journalistischen Anstrich zu geben?

Auch wenn in den Publikationen der interessengesteuerten Organisationskommunikation eine journalistische Inszenierung nur imitiert wird, können auch da publizistische Leitlinien Orientierung bieten. Da kommt es beispielsweise immer wieder mal zu Konflikten zwischen redaktioneller Unabhängigkeit und der Loyalität gegenüber der Auftraggeberin. Auch wenn diese Spannung kaum aufgelöst werden kann, wäre es beispielsweise wichtig, für die Unternehmenspublizistik Leitlinien festzulegen, welche die redaktionelle Autonomie regeln. Den Konflikt zwischen Unternehmensleitung und Redaktion kennt aber übrigens auch der Journalismus.

Inwiefern?

Berichtet man über Entwicklungen oder Irritationen im eigenen Medienunternehmen, entsteht ein Konflikt zwischen der redaktionellen Unabhängigkeit und den Interessen des Unternehmens. Obwohl solche Situationen in der Praxis immer wieder mal vorkommen, vermisse ich gerade dazu Guidelines in den publizistischen Leitlinien von Schweizer Medienhäusern. Dabei wäre es wichtig, dass Journalistinnen und Journalisten wissen, wie sie sich in diesem Spannungsfeld verhalten können oder sollen.

Zur Person

Prof. Dr. Vinzenz Wyss ist Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler forscht und lehrt zu journalistischer Qualität und Innovation, Medienethik und Medienkritik. Er evaluiert mit seiner Firma Media Quality Assessment regelmässig Qualitätssicherungssysteme in Medienorganisationen.

Text: Pascal Zeder

Bild: zVg/Manuel Bauer

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