Ein Lichtblick auf dem Smokey Mountain

Jeden Sonntag um 19.15 Uhr porträtiert die SRF-Sendung «Mitenand» jene, die auf der Schattenseite des Lebens stehen und nicht aufgeben. Und jene, die ihnen beim Nichtaufgeben zur Seite stehen. Executive Producer Mitja Rietbrock ist seit mehr als 20 Jahren als Reporter in der Schweiz und im Ausland unterwegs, um über die zu berichten, die sich für andere engagieren.

Smokey Mountain in Manila ist ein Ort, an dem niemand leben möchte. Ein Stadtviertel aus behelfsmässig zusammengezimmerten Hütten auf einem Hügel von über Jahrzehnte aufgeschüttetem Müll. Wer hier leben muss, gehört zu den Ärmsten des Landes. Und zu den Vergessenen. In den matschigen Gassen zwischen den Hütten treffen Perspektivlosigkeit, Armut und Gewalt aufeinander. Es ist eine der Welten, in denen «Mitenand» unterwegs ist.

Ich begleite zwei Mitarbeiterinnen von Médecins Sans Frontières (MSF) bei ihrem Einsatz auf dem Smokey Mountain. Ihr Auftrag: Menschen auf Tuberkulose testen, die sich einen Arztbesuch nicht leisten können. Ich filme die Krankenschwestern Rejina und Mishie dabei, wie sie schwitzend den Müllberg erklimmen. Alltag, für sie und für mich. Die Sendung «Mitenand» porträtiert in ihren Filmen jene, die sich sozial engagieren, Solidarität für andere zeigen. Und jene, die nicht aufgeben, obwohl sie auf der Schattenseite des Lebens stehen. Auf dem Smokey Mountain engagieren sich Rejina und Mishie gemeinsam mit MSF für Menschen, die vom Staat vergessen wurden.

Auf der Spitze des Müllbergs angekommen, gehen Rejina und Mishie methodisch vor. In den kaum wohnzimmergrossen Stahlblechhütten leben oft mehr als ein Dutzend Menschen auf engstem Raum zusammen. «Hier gibt es keinen sozialen Abstand», sagt Rejina, «Krankheiten übertragen sich schnell auf die ganze Familie.» Deshalb testet sie gerade die Familie von Mary Ann. Auch sie lebt zusammen mit ihren Kindern, ihren Eltern und der weiteren Familie in einer Hütte, die kleiner ist als eine durchschnittliche Garage in der Schweiz. Ausgestattet mit Mund-Nasen-Schutz versuche ich, die entscheidenden Momente mit der Kamera einzufangen. Den ängstlichen Blick von Mary Ann, die Füsse ihrer Kinder im Müll, die routinierten Handbewegungen von Rejina und Mishie. Das ist mein Auftrag: das Engagement der Helfenden für die Zuschauenden erlebbar werden lassen.

Seit mehr als vierzig Jahren widmet sich «Mitenand» mit seinen Filmen und Interviews immer sonntags vor der «Tagesschau» am Abend jenen, die sich in der Schweiz und im Ausland für andere einsetzen. Mehr als 2000 Ausgaben, eine der ältesten Sendungen des Schweizer Fernsehens. Als nationales Projekt ins Leben gerufen, tauscht «Mitenand» einen grossen Teil seiner Filme mit den Schwestersendungen von RTS und RSI aus. Als Teil des Multimedialen Teams (MMT ) Reportagen & Talk arbeitet das Team gleichzeitig an der Vernetzung innerhalb von SRF. So sollen unter anderem Synergien mit dem Live-Radio vermehrt genutzt werden, um Themen rund um die Solidarität häufiger zu vertiefen.

«Seit einigen Jahren erlebe ich ein schleichendes Abnehmen der Bereitschaft zu Solidarität.»

Mitja Rietbrock, Executive Producer «Mitenand»

Auf dem Smokey Mountain sind die Temperaturen auf fast 40 Grad angestiegen. In einer der in der Hitze glühenden Blechhütten hat sich ein Familienvater mit Tuberkulose angesteckt. Rejina und Mishie versorgen seine Familie vorsorglich mit Medikamenten für die Kinder, damit sie vor einer Ansteckung geschützt sind. Der Vater begibt sich auf den Weg in ein öffentliches Spital. Er ist verzweifelt, sein Gelegenheitsjob auf einer Baustelle ist in Gefahr. «Wenn ich meine Arbeit verliere, weiss ich nicht, wie wir die Familie durchbringen sollen», sagt er mir in die Kamera.

Es sind diese Welten, in denen «Mitenand» navigiert. Diese Menschen, denen die Sendung ein Gesicht und eine Stimme gibt. Genauso wie denen, die sich engagieren, um das Leben anderer erträglicher zu machen. Rund um den Globus und in der Schweiz. Die Themen betreffen viele von uns: soziale Ausgrenzung, Armut, Bildung, Krankheiten … Es braucht nicht viel, damit das Leben plötzlich aus den Fugen gerät. Von heute auf morgen zerplatzen Sicherheiten, und wir werden abhängig von der Solidarität der anderen.

Seit einigen Jahren erlebe ich ein schleichendes Abnehmen der Bereitschaft zu Solidarität. Sowohl während meiner Drehs in Krisengebieten wie auch im Alltag um mich herum. Es sind die kleinen Dinge. Ein Vordrängeln beim Einsteigen in den Zug, ein Wegschauen bei einem nach dem Weg suchenden Blinden. Ein verstärktes Konzentrieren aufs «Ich». Weltweit nehmen die bewaffneten Konflikte zu. Ebenso die Armut und die Anzahl jener Länder, in denen reiche wenige autoritär über das Schicksal von armen vielen herrschen. Das kann Angst machen. Die meisten von uns leben wie ich in einer Welt von scheinbaren Sicherheiten. Doch auf wen können wir zählen, wenn wir nicht mehr auf diese zählen können?

Diesen und ähnliche Gedanken habe ich auf vielen meiner Drehs. Auch auf dem Smokey Mountain. Vor meiner Kamera spielen sich die Dramen jener ab, mit denen es das Leben weniger gut meint als mit mir. Ich sehe sie leben, lieben, leiden. Und jedes Mal bin ich froh, dass «Mitenand» ihren Geschichten mit seinen Filmen Gehör bietet, ebenso wie jenen, die sich engagieren, um die grossen Probleme unserer Zivilisation im Kleinen anzugehen und wenn nicht zu lösen, doch zumindest zu verbessern. Zum Glück gibt es sie, sowohl in der Schweiz wie auch in den entferntesten krisengeschüttelten Ecken der Welt. Jene, die einen geringeren Lohn in Kauf nehmen oder sich gar freiwillig engagieren, um das Leben anderer erträglicher zu machen.

Ich möchte noch ein letztes Interview machen und frage Rejina, warum sie sich für einen geringen Lohn bei MSF für die Ärmsten engagiert. Sie braucht nicht lange zu überlegen, ihre Antwort kommt direkt aus dem Herzen: «Eigentlich sollte es eine Krankheit wie Tuberkulose auf den Philippinen gar nicht mehr geben», sagt sie. «Schau mal, die ganzen Kinder hier. Für die mache ich das. Wenn sie schon so wenig Zugang zum Gesundheitssystem haben, möchte wenigstens ich für sie da sein.»

Die Krankenschwestern Rejina und Mishie schenken ihr Know-how jenen, die auf dem untersten Ende der sozialen Leiter stehen. Sie schwitzen. Lächeln. Verteilen Medikamente und Hoffnung. Nach vier Stunden auf dem Müllberg ist ihr Einsatz für heute beendet. Sie machen sich auf den Weg zurück, ins andere Leben, am Fusse des Müllbergs.

Text: Mitja Rietbrock

Bild: MSF

Kommentar

Leider konnte dein Kommentar nicht verarbeitet werden. Bitte versuche es später nochmals.

Ihr Kommentar wurde erfolgreich gespeichert und wird nach der Freigabe durch SRG Deutschschweiz hier veröffentlicht

Weitere Neuigkeiten