Michelle Kalt: «Irgendwann verliert man die Angst vor dem Versagen»

Michelle Kalt sitzt in der Jury der Swiss Comedy Awards, die am 7. September über die Bühne gehen. Im Interview spricht die Comedienne über die beste Nachwuchsförderung und den Umgang mit Versagensängsten.

Unter den 12 Nominierten bei den Swiss Comedy Awards sind gerade einmal drei Frauen zu finden, davon keine unter der Kategorie «Solo». Comedy scheint nach wie vor eine Sparte zu sein, die männlich geprägt ist. Wie erklären Sie sich das?

Sie überlegt kurz. Dafür gibt es mehrere Gründe. Frauen sind oft perfektionistisch veranlagt und sehr streng mit sich. Ich höre oft von Frauen, dass sie nie vor Leute hinstehen und etwas erzählen könnten. Viele würden das nur machen, wenn alles zu 100 Prozent stimmt. Doch gerade am Anfang ist das nie der Fall. Männer machen meiner Erfahrung nach viel eher «einfach mal». Die anfängliche Hürde scheint bei vielen von ihnen tiefer zu sein. Was dazu kommt: In einer Szene, in der sich zu 90 Prozent Männer bewegen, ist die Dynamik und der der Umgangston oft rauer.

War das auch Ihre Erfahrung?

Nicht unbedingt. Was ich jedoch durchaus kenne, ist, dass man als Frau eine Aussenseiterin ist und das auch immer wieder betont wird. «Die nächste Comedienne ist eine FRAU», heisst es dann bei der Moderation, wie wenn man eine Zirkusattraktion wäre. Das ist schon speziell.

Das klingt, als seien Frauen in der Comedy auch für das Publikum noch eher Neuland.

Tatsächlich glaube ich, dass sich das Publikum die Perspektive der Frau oft noch nicht gewohnt ist und glaubt, wenn eine Frau auf der Bühne steht, redet sie nur über die Mens und über Beziehungen. Man wird von gewissen Leuten eher als Frau, denn als Künstlerin wahrgenommen. Erst wenn man sich jahrelang etabliert hat, ändert sich das. Hazel Brugger wird als Hazel Brugger wahrgenommen.

Müssten Preise wie der Best Talent Comedy Award nicht auch dafür da sein, um Frauen stärker ins Rampenlicht zu stellen?
Sie zögert. Jein. Ich habe folgendes Problem mit solchen Nachwuchs-Preisen im Allgemeinen: Bei solchen Awards werden Nachwuchskünstler:nnen gesucht, um ihnen eine Plattform damit zu bieten. Der Pool an männlichen Comedians ist dabei deutlich grösser. Entsprechend haben jene Männer, die nominiert werden, oft bereits mehrjährige Erfahrung in dem, was sie tun. Bei weiblichen Talenten kann es hingegen vorkommen, dass sie diese Plattform erhalten, bevor sie dazu bereit sind und die entsprechende Bühnenerfahrung haben. Eigentlich müsste die Förderung ein bis zwei Jahre früher stattfinden. Werden sie zu früh «entdeckt», sind sie zwar oft schon gut, aber ihr Material ist noch nicht ausgereift. Oder es ist noch zu wenig davon vorhanden. Man sieht also noch nicht, was diese Leute eigentlich könnten.

«Swiss Comedy Awards 2024», die Gewinner:innen

  • Patti Basler und Philippe Kuhn gewinnen an den Swiss Comedy Awards den Hauptpreis.
  • Zu den sechs Awardgewinnern und -gewinnerinnen gehören weiter Michael Elsener, Riklin & Schaub, Julia Steiner sowie Anaïs Decasper. Der Lifetime Award geht an Birgit Steinegger.
  • Sie alle wurden von 200 Expertinnen und Experten aus der Comedy-Szene bzw. vom Publikum auserkoren.

Die ganze Meldung

Sie wünschten Sich also gerade für Frauen im Comedybereich eine ausgeprägtere Nachwuchsförderung?

Wer mit Comedy beginnt, tut das meist im Kleinen. Man probiert sein Material bei kurzen Auftritten, etwa während Open-Mic-Veranstaltungen oder an Comedy-Nights. Das ist enorm wichtig. Hier kann man sich einen Erfahrungsschatz erarbeiten, der es später ermöglicht, ein abendfüllendes Programm zu gestalten. In der Schweiz ist es jedoch manchmal schwierig, zu genügend solchen kleinen Auftritten zu kommen.

Weil sie nicht in unserer DNA sind?

Vielleicht. Im angelsächsischen Raum gehen die Leute gern zu Comedy Nights, an denen etablierte Comedians, aber auch Newcomer auftreten. Herr und Frau Schweizer kaufen sich eher ein Ticket eines bekannten Comedians drei Monate im Voraus. Das soll keine Kritik sein, sondern widerspiegelt vielmehr die Realität, wie ich sie wahrnehme. Es wäre schön, wenn Veranstalter noch mehr Mix-Formate organisieren würden. Im Bernhard Theater in Zürich gibt es ein solches Format, bei dem auch Newcomer teilnehmen dürfen. Für die ist das Gold wert. Open Stages, an denen alle mitmachen und neues Material testen dürfen, sind sowohl für junge als auch etablierte Comedians sehr wichtig. Da können wilde Sachen passieren. Auftritte können katastrophal enden oder richtig toll werden.

Was braucht es, um als Comedienne beim Schweizer Publikum anzukommen?

Allgemein gesagt: Ein Bewusstsein dafür, wo man ist. In der Stadt Bern kommen nicht genau die gleichen Witze an wie in einer ländlichen Region des Kantons Zürich. Was ausserdem immer hilft: Sich mit den lokalen Begebenheiten vertraut zu machen. Sei das, indem man sich informiert, was politisch gerade läuft. Sei das, indem man auf die Querelen aus dem Nachbardorf eingeht. Und ja, auch Kantönliwitze kommen an. Weiter mögen es Schweizer:innen, wenn man selbstironisch ist und sich nicht allzu ernst nimmt.

Über Michelle Kalt

Michelle Kalt wurde 1989 in Zug geboren. Heute arbeitet sie als Anwältin in Zürich. Seit 2018 ist Kalt auch als Comedienne unterwegs, dies sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch. 2019 wurde sie für den Swiss Comedy Talent Award nominiert. Für das SRF-Format «Deville Late Night» verwandelte sie juristische Fragen in Satire-Nummern. Kalt ist eine von neun Jury-Mitgliedern bei den Swiss Comedy Awards am 7. September.

Sie haben vorhin den Perfektionismus angesprochen, den viele Frauen verinnerlicht haben. Kennen Sie dieses Problem von sich selber?

Durchaus. Irgendwann musste ich jedoch einsehen, dass ich nie auf der Bühne stehen würde, wenn ich’s zu perfekt machen will. Etwas gut oder auch nur halb gut zu machen ist immer noch besser, als etwas nicht zu machen. Deadlines helfen übrigens, die eigenen Ansprüche zu regulieren. Irgendwann müssen die Nummern einfach stehen.

Was würden Sie jungen Frauen raten, die Comediennes werden möchten?

Du hast etwas zu sagen. Deine Perspektive ist spannend. Es ist wichtig, sich das vor Augen zu führen. Ausserdem empfinde ich es als Frau als Vorteil, nicht die gleichen Erfahrungen zu machen und anders auszusehen als meine männlichen Kollegen. Es ist einfacher, etwas Neues und Interessantes zu sagen, wenn es nicht bereits 15 Versionen von einem gibt. Und: Es ist okay, auf der Bühne abzukacken. Das ist zwar verdammt unangenehm, aber es lohnt sich, weiterzumachen. Irgendwann verliert man die Angst vor dem Versagen. Wichtig ist, dass man sich mehrere Chancen gibt. Man darf nicht gleich nach dem ersten Auftritt aufhören, sondern sollte mindestens fünf Mal auf der Bühne stehen, bevor man sich entscheidet, ob man weiter macht oder nicht.

Text: SRG.D / Valeria Wieser

Bild: SRF / Oscar Alessio

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