Hannes Grassegger: «Die journalistische Methode lässt sich universell anwenden»
Der Mediendozent und Journalist Hannes Grassegger plädiert nicht nur für Medien-, sondern insbesondere für Informationskompetenz. Die Lösung sieht er in den journalistischen Grundregeln gemäss Journalistenkodex – auch für die Bevölkerung.
Zur Person
Zur Person
Hannes Grassegger ist ein mehrfach preisgekrönter Journalist und war bis 2023 Reporter bei «Das Magazin» von Tamedia. Als Experte für Technologiethemen war er zudem Mitglied des Global Future Council des WEF und Swiss Scholar am Woodrow Wilson Center in Washington, D. C. An der Universität Basel doziert er zu digitaler Desinformation und künstlicher Intelligenz im Journalismus. Mit dem 2022 gegründeten Projekt «Polaris News» arbeiten er und sein Team an einem digitalen Nachbarschafts-News-Netzwerk.
Hannes Grassegger, Corona und Trump haben es gezeigt, aber auch die Abzockermaschen mit gefälschten Promi-Artikeln auf Social Media: Viele Menschen fallen leichtgläubig auf Fake News rein. Fehlt es der Gesellschaft an Medienkompetenz?
Ich empfinde den Begriff Medienkompetenz als vage und tendenziell paternalistisch. Wer ist schon kompetent? Kompetent wofür? Wer beurteilt, wann ich kompetent bin? Wir befinden uns gerade in einem epochalen Medienwandel. Denn auf Social Media ist jeder und jede zum Medium geworden. Die Kernkompetenz dort heisst: schnell Aufregung erzeugen, um schnell Aufmerksamkeit zu ernten. Es geht also nicht um Wahrheit oder Fakten. Journalismus hingegen hat ein exzellentes Werkzeug-Set entwickelt, um aus der Flut der Informationen die Fakten zu fischen und zu erkennen, was unwahr ist. Journalismus ist keine Industrie, sondern eine nützliche Praxis. Die ganze Methodik ist komplett zugänglich, klar formuliert in verständlichen Kriterien im Journalistenkodex: der prüfende Blick, das Mehrere-Quellen-Prinzip etc. Journalismus kann den Menschen helfen, das muss man den Menschen vermitteln: Journalismus, das ist Medienkompetenz. Die journalistische Methode lässt sich universell anwenden, auf alle Inhalte: vom gesprochenen Wort bis zum Reel hilft sie, nicht auf Fake News reinzufallen.
Mehr als die Hälfte der unter 30-Jährigen informiert sich über Social-Media-Plattformen. Müsste man nicht wenigstens den Jungen Medienkompetenz vermitteln?
Wir müssten wohl eher die Erwachsenen trainieren. Erstens, wenn es um Fake News geht. Der Grossteil der Desinformation während der US-Wahl 2020 kam von mittelalten rechten Frauen, haben Forscher herausgefunden. Diskussion zu Medien beispielsweise in Schulen finde ich dennoch richtig. So auf Klassenstufe 4, kurz bevor alle ihr Smartphone kriegen. Die Frage ist: Was vermitteln? Wenn die armen Lehrpersonen Medienkompetenz vermitteln sollen, in der Praxis aber weniger wissen als die Kinder, machen sie sich angreifbar. Allein schon eine Übersicht über alle Snapchat-Einstellungen zu halten, ist ein 20-Prozent-Job, weil jede App laufend weiterentwickelt wird. Wir müssen Ankerwerte vermitteln, weil die digitalen Medien superfluide sind. Journalismus zeigt, wie man Infos filtert. Dazu gern noch, wie man sich schützt vor Zugriffen auf die Seele und die Sicherheit. Und auch das wiederum geht eigentlich zuerst an die Eltern. Schützt eure Kinder.
Was heisst das für die klassischen Medien?
Das ist zweischneidig. Newsmedien haben im Kontext von Social Media eine neue Funktion: Sie erledigen das mit dem prüfenden Blick für mich. Sie sind nicht mehr für das Newsbreaking da, ihr Service ist nun das Verifizieren. Breaking News bekomme ich zuerst auf Social Media. Dann schaue ich in klassischen Medien, ob das auch stimmt. Das «St.Galler Tagblatt» sagt mir einen Tag später, nach journalistischer Prüfung, ob das virale PDF mit Bidens Rücktrittserklärung real ist. Gleichzeitig ist die Presse auch Teil des Problems geworden.
«Ist die Werbung weg, weil auf Google oder Facebook, lebt die Presse eher von Abos.»
Wie meinen Sie das?
Die Presse treibt zum Teil die Polarisierung, die sie so oft Social Media zuschreibt. Das ist ökonomisch begründet. Weil die Werbegelder verschwinden, entstehen Anreize für Medien, zu Weltanschauungsbestätigern zu werden. Wir sehen es ja an den krassen Einschnitten, die Tamedia im August verkündet hat. Werbefinanzierte Medien leiden. Und daher ändern sie ihre Werte. Medien, die durch Werbung finanziert werden, verfolgen das Ziel, von so vielen Werbeempfängerinnen wie möglich gelesen zu werden – von rechts bis links. Daher der Begriff «Generalanzeiger-Modell». Allein das Businessmodell brachte Generalanzeiger dazu, «neutral» zu berichten. So konnten sie die Einnahmen maximieren. Nun: Ist die Werbung weg, weil auf Google oder Facebook, lebt die Presse eher von Abos. Abo-Medien aber haben eine andere Ökonomik: Sie müssen Abonnenten und Abonnentinnen einen Grund liefern, zu zahlen. Sie müssen die Zahlenden motivieren, sie müssen Position ergreifen. Je krasser, desto besser. Sie müssen die Demokratie retten oder das Klima. Das führt zu einer tribalisierten Presse. Jedes Medium mobilisiert für eine Weltanschauung, wie in den 1930ern.
Wie sieht dieses Mediensystem in der Schweiz aus und welche Dynamiken müssen wir verstehen?
Linke und rechte Medien spielen Pingpong miteinander; wer verliert, ist die Mitte, der Mainstream. Mir hat es geholfen, die historischen Wurzeln der NZZ und der SRG SSR zu kennen, um die Informationen, die ich aus diesen Quellen bekomme, einordnen zu können. Auch ist es wichtig zu wissen, dass etwa der Gratiszeitungsverlag Swiss Regiomedia AG von SVP-Politiker Christoph Blocher ein entscheidender Player im lokalen Journalismus ist – und Blocher dort seine Kolumne kostenlos veröffentlicht, gleichzeitig aber auch als Politiker aktiv ist. Wenn ich das nicht wüsste, würde ich vielleicht denken, er ist ein normaler Mitarbeiter auf der Redaktion in Wil, der bestimmte Ansichten hat. Dieses Hintergrundwissen ist sehr nützlich. Aber bevor ich Journalist wurde, habe ich auch nicht gross darauf geachtet, wer welche Artikel schrieb, ich habe auch die Begriffe Kommentar, Glosse oder Leitartikel nicht richtig verstanden. Wenn jedoch ein Medium ins Digitale übertragen wird – nicht über seine eigene Website, sondern über eine Social-Media-Plattform oder Ähnliches – dann geht diese Kategorisierung völlig verloren und niemand sagt einem, dass der ironisch geschriebene Text eine Glosse ist.
Das traditionelle Mediensystem wackelt also wegen der Digitalisierung.
Ja, mehr noch: Wir befinden uns in einer Transformation, die sich auf dem Niveau des Aufkommens des Buchdrucks bewegt. Der Buchdruck hat massgeblich dazu beigetragen, dass Luther, Zwingli und Calvin ihre Thesen dank Flugblättern schnell und einfach unter das Volk bringen konnten. Dies hat nicht nur zur Reformation beigetragen, sondern auch zum ersten Bestseller: Die Luther-Bibel ist sozusagen viral gegangen. Mit den Flugblättern kamen Informationen in den Umlauf, Ideen konfrontierten sich, es kam zu Streit. Dies hat schlussendlich zu einem kriegerischen Zeitalter geführt, das erst nach dem Dreissigjährigen Krieg zu Ende ging. Damals war das ein lokales Phänomen, es betraf nur die westliche Welt. Jetzt aber befinden wir uns in einem globalen Momentum der Informationsexplosion. Früher musste man sich Informationen suchen, heute wird man damit überflutet. Weil die Menschen damit überfordert sind, kommt nun die Debatte der Medienkompetenz auf. Ich spreche aber lieber von Informationskompetenz. Wir müssen uns innerhalb der Informationsflut zurechtfinden – nicht nur innerhalb der Medien.
«‹Tschugger› trägt vielleicht mehr zum Landeszusammenhalt bei als eine Nachrichtensendung.»
Welche Rolle können dabei die Medien selbst spielen?
Journalismus stellt durch die Bereitstellung einer gemeinsamen Informationsbasis ein Gemeinschaftsgefühl her, vermittelt so Identität. Wegen des aktuellen Funktionswandels der Medien zu «Fact-Checkern» und Agitatoren verändern sich die Mediengemeinschaften. Daher kommt es zu Angriffen auf die Medien und insbesondere auf den Service public, weil man nicht mehr richtig versteht, wofür der jetzt eigentlich da ist. Der Service public ist heute die Resistance des gesellschaftlichen Zusammenhalts der Informationsgesellschaft. Daher ist das Publikum aufgesprungen auf die Debatte, ob auf SRF zu viel Entertainment laufe. Entertainment wie «Tatort» und «Tschugger» sorgt für Gemeinsamkeit. «Tschugger» trägt vielleicht mehr zum Landeszusammenhalt bei als eine Nachrichtensendung. Das wollen die Kritiker nicht sehen, weil sie diesen Lagerfeuergedanken ablehnen. Deshalb sollte man bei dieser Debatte rund um Medienförderung nicht nur auf den Wert für die Demokratie fokussieren. Journalismus liefert gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Gerade im Lokalen gibt es aber immer weniger Medien, immer weniger Berichterstattung.
Wenn ein lokales Medium fehlt, müssen die Bürgerinnen und Bürger selbst nach lokalen Informationen suchen. Gerade im Internet prasseln aber sehr viele Informationen auf sie ein, das schreckt ab. Dieses Vakuum nutzen gewisse Akteure, und zwar nicht nur im digitalen Raum. Es gibt einige, die kapiert haben, dass sie in diese Lücke springen können. Sie betreiben zum Beispiel ein ultralokales Anzeigenblatt, finanziert von Gemüsemarkt, Coiffeur und Blumenladen, um ihr radikales Gedankengut unter dem Radar veröffentlichen zu können. Ultralokale Print-Desinformation ist eine grosse Gefahr. Deshalb braucht es gerade auf Lokalebene einen Service public oder zumindest ein Modell, das an Service public erinnert und das nach journalistischen Regeln funktioniert. Gegenüber dem Internet garantiert eine Tageszeitung das Gleiche wie die Migros gegenüber dem Mittelaltermarkt: Wer hier einkauft, stirbt nicht an einer Lebensmittelvergiftung; sprich, wer diese Zeitung liest, erhält verifizierte, nach journalistischen Regeln publizierte Informationen und keine Propaganda. Das ist sehr wertvoll.
Mit Ihrem neuen Projekt, «Polaris News», testen Sie ein ortsbasiertes Nachbarschafts-News-Netzwerk, in dem alle Bürgerinnen und Bürger journalistische Beiträge verfassen können. Fehlt ihnen dafür nicht das journalistische Handwerk?
Ich sehe die Lösung in der Vermittlung der journalistischen Grundregeln. Wir arbeiten im Ultralokalen, also auf Ebene von Gemeinden und sogar Quartieren, wo es oft schon keine Lokalzeitungen mehr gibt und worüber die grösseren Zeitungen aus kommerziellen Gründen nicht berichten. Während die Medien nach Grösse strebten, haben sie die Menschen auf der Strecke gelassen. Im Alttoggenburg im Kanton St. Gallen haben wir deshalb eine Art digitales Käseblatt entworfen, in dem die Bürgerinnen und Bürger ganz einfach selbst Inhalte publizieren können – wer keine journalistische Erfahrung hat, erhält eine Betriebsanleitung. Wir haben Technologien entwickelt, die den Menschen beim Nachrichtenmachen dabei helfen, journalistische Techniken zu nutzen. Uns ist wichtig, den Journalismus den Leuten näherzubringen und sie Teil davon werden zu lassen. So können sie selbst zur Informationsversorgung beitragen.
Warum braucht es das?
Es ist wichtig, dass die Menschen sich nicht nur über globale Medien wie BBC, «Die Zeit» oder «Le Monde» informieren, sondern auf lokaler Ebene einen Resonanzraum haben für ihre konkreten Anliegen im Alltag. An wen sollen sie sich wenden, wenn es keine Lokalzeitung mehr gibt? Der Nutzen von Medien für die Demokratie ist im Lokalbereich noch viel klarer, das zeigen Studien wie die von Johanna Burger von der Fachhochschule Graubünden oder aus den USA: Ohne Lokalmedien schwinden das Gemeinschaftsgefühl und die Motivation für ehrenamtliches Engagement; Politiker setzen sich weniger für ihre Region ein, weshalb die Region weniger Subventionen erhält und weniger investieren kann. Die Schweiz braucht eine neue Art Service-public-Journalismus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.
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