Gilles Marchand im Abschiedsinterview: «Wir müssen unsere Werte aufrechterhalten»

Gilles Marchand hat die Direktion der SRG am 1. November an seine Nachfolgerin Susanne Wille übergeben. Im Interview blickt er zurück auf seine schönsten und schwierigsten Momente.

Gilles Marchand, was war der speziellste Moment Ihrer Zeit als SRG-Direktor?

Mir ist ein Abend in Yaoundé in Kamerun in besonderer Erinnerung geblieben, wo ich für TV5 Monde vor Ort war, dem internationalen französischsprachigen Fernsehsender, an welchem die Schweiz auch beteiligt ist. Wir sassen in einer kleinen, typischen Bar, ich hatte aber kurz noch Kontakt mit der Tagesschau von RTS, mit «19h30». Da ging in dieser Bar auf einmal eine grosse Debatte los wegen eines Themas unserer Tagesschau – irgendeine lokale Geschichte im Kanton Waadt. Ich musste lachen: Mit einem Beitrag der SRG konnten wir den Menschen dort etwas mitbringen und unsere Welten ein bisschen verbinden.

Und worauf sind Sie besonders stolz?

Auf den 4. März 2018, als klar war, dass die No-Billag-Initiative nicht durchkommen würde. Das war ein sehr wichtiger Moment für uns, denn die Kampagne war sehr schwierig gewesen. Im Rückblick sieht das dann oft so einfach aus, da wir eine Zustimmung von über 70 Prozent erreicht haben. Aber das war es wirklich nicht. Insbesondere für mich: Mit meinem Deutsch war es eine Herausforderung, Debatten zu führen. Stolz bin ich auch auf unsere Projekte zur digitalen Transformation und die Lancierung von Play Suisse. Das Archivierungsprojekt, das wir 2005 in der Westschweiz gestartet hatten und schliesslich auf alle Sprachregionen ausweiten konnten, liegt mir ebenfalls am Herzen. Jetzt ist unser Erbe sicher. Ein Land, das keine Geschichte hat, kann keine Zukunftsvision entwickeln.

«Vielleicht ist unser Mehrwert auch deshalb so schwierig zu erklären, weil es in der Schweiz keinen nationalen Markt gibt.»

Was hätten Sie anders machen müssen?

Fast alles. (lacht) Ernsthaft: Es ist unmöglich, alles richtig zu machen. Es ist zu einer zweiten Initiative gegen die SRG gekommen, das bedeutet, wir haben nicht gut genug erklärt, warum wir wichtig sind. Natürlich gibt es eine politische Agenda, das ist in einer Demokratie normal. Aber es ist bedauerlich, dass die Debatte über den Nutzen der SRG erneut geführt wird. Wir können einige Dinge besser machen, das ist klar. Aber grundsätzlich liefern wir eine gute Leistung, auch im Vergleich mit anderen Ländern in Europa. Vielleicht ist unser Mehrwert auch deshalb so schwierig zu erklären, weil es in der Schweiz keinen nationalen Markt gibt. Unser Benchmark ist Deutschland respektive Frankreich oder Italien, doch uns mit diesen Ländern zu vergleichen, ist sehr schwierig. Sie sind einsprachig und viel grösser als die Schweiz. Gleichzeitig gibt es in ganz Europa derzeit einen grossen Druck auf den Service public. Dass dieser aber ausgerechnet in der Schweiz mit all ihrer Vielfalt und direkten Demokratie nochmals aufkommt, das bedauere ich.

Sie haben mit 38 Jahren als damaliger RTS-Chef gesagt, Sie wollten das Fernsehen in die Internet-Ära führen. Jetzt sind sie 62. Wo steht das Fernsehen heute?

Es gibt keine Gerätespezifikation mehr. Am Anfang meiner Zeit bei der RTS zeigte einzig die BBC ihre Nachrichtensendung im Internet. In der Westschweiz haben wir uns gesagt, das machen wir auch. Aber: Alle waren dagegen, es war ein Kampf! Das Resultat war absolut erfolgreich. Es gab ja auch noch kaum andere Akteure. Dann kam Social Media – das war bereits eine andere Geschichte – und jetzt kommt die Künstliche Intelligenz. Das zeigt: Wir haben keine Wahl, wir müssen mit der Zeit gehen und alle Möglichkeiten nutzen, um unser Publikum zu erreichen. Die Vektoren spielen heute keine Rolle mehr, Bilder und Videos gibt es inzwischen überall. Was aber wichtig ist, sind unsere Inhalte und Werte. Die müssen wir aufrechterhalten, egal, ob wir über Social Media oder live im Fernsehen berichten. Denn gerade in dieser neuen, sehr chaotischen Medienwelt müssen wir unsere Werte und Unterscheidbarkeit verankern, damit das Publikum das Vertrauen in uns nicht verliert.

Gleichzeitig gibt es Kritik von Privatmedien, die Online-Auftritte von SRF, RTS, RSI und RTR würden ihr Angebot konkurrenzieren. Hat die SRG zu stark ins Internet expandiert?

Die SRG ist stark, weil sie ein gutes Angebot hat. Daraus darf man aber nicht schlussfolgern, dass dies ein Problem für die Privatmedien ist. Ich verstehe, dass die Privatmedien in einer schwierigen Situation sind. Es wäre aber falsch zu glauben, wenn die SRG Probleme hätte, ginge es den anderen Medien besser. Eine kürzlich publizierte Studie des fög zeigt: Wer Inhalte von guter Qualität im Internet nutzt wie etwa das Service public-Angebot, hat ein Bedürfnis nach noch mehr Informationen. Diese holen sie sich dann oft bei Privatmedien. Ein anschauliches Beispiel ist die Werbung: Wir dürfen online keine Werbung schalten. Wo geht die Werbung nun hin? Nach Amerika zu den grossen digitalen Plattformen, und nicht zu den Schweizer Privatmedien. Das Gleiche gilt für das Publikum: Man kann den Menschen nicht einfach sagen, es gibt keine SRG mehr, jetzt müsst ihr Privatmedien nutzen. Die Menschen gehen dorthin, wo ihre Interessen liegen. Ich bin für mehr Zusammenarbeit zwischen den Medien. Wenn wir professionell bleiben und nicht politisch werden, können wir viel mehr erreichen. Denn die SRG ist weder Problem noch Lösung.

«Die kulturelle Vielfalt ist ein Mehrwert für die Schweiz und für die SRG – aber auch eine Herausforderung.»

Die Digitalisierung des Fernsehens war Ihr grösstes Projekt als RTS-Chef. Was war es als Direktor der SRG?

Das Projekt Play Suisse. Erwähnenswert ist aber auch unsere Reinvestition in die Fiktion. Wir haben 100 Millionen gespart, dafür 30 Millionen in Fiktion und Digital reininvestiert. Nebst gutem Journalismus ist auch Fiktion wertvoll, um eine Gesellschaft zu erklären. Gerade TV-Serien wie «Davos 1917», «Winter Palace» oder «Neumatt» sind sehr wichtig für die Schweiz. Nicht alle Serien funktionieren in allen Sprachregionen gleich gut. Wir haben schon nur in der Deutsch- und in der Westschweiz nicht die gleiche Art und Weise zu denken und zu sprechen. Das liegt nicht nur an der Sprache. In der Westschweiz sind die Menschen zum Beispiel viel impliziter, es gibt immer etwas Spielraum für Interpretationen oder Adaptation, in der Deutschschweiz sind sie hingegen viel direkter. In der Schweiz ein nationales Unternehmen zu führen ist eine Herausforderung. Wir müssen einen Weg finden, der für alle passt, aber auch unsere Vielfalt respektiert. Diese kulturelle Vielfalt ist ein Mehrwert für die Schweiz und für die SRG – aber auch eine Herausforderung.

Einen anderen Vorwurf, den die SRG immer wieder hört: Sie sei linksorientiert.

Das ist vielleicht der Eindruck, aber er ist falsch. Dies zeigen regelmässige interne Analysen, aber auch eine umfassende Studie des fög: Sie hat die Berichterstattung verschiedener Medien zu Volksabstimmungen im Zeitraum von 2018 und 2023 analysiert und kam zum Schluss, dass die SRG sehr ausgewogen berichtet. Die eine oder andere Sendung kann vielleicht mal etwas mehr in eine Richtung gehen, aber insgesamt sind wir wirklich sehr ausgeglichen. Der Eindruck, wir seien linksorientiert, kommt vielleicht deshalb, weil wir über gesellschaftliche Themen berichten. Für einige sind wir zu «woke», zu stark an Klimathemen orientiert. Aber wir versuchen zu erklären, welche Debatten es in unserer Gesellschaft gibt. Zudem sind wir da, um Missstände aufzuzeigen. Menschen, die an der Macht sind, freut das natürlich nicht.

«Ich weiss, dass die Bürger:innen unser Angebot schätzen.»

Eine andere grosse Herausforderung war die Standortfrage: War der Entscheid, einen Teils des Berner Radiostudios nach Zürich und die TV-Nachrichtenredaktion von Genf nach Lausanne zu verlegen, zu fest strategisch, haben Sie zu wenig an die Menschen gedacht?

Nein, es gab keinen Druck auf die Arbeitsplätze. Wir haben eher zu wenig an die Politik und Emotionen gedacht. Es gab Petitionen und viele Diskussionen. Aber die Debatte war nicht nur rational, es hatte auch viel mit Emotionen zu tun. Die Ansprüche an die SRG waren widersprüchlich: Wir müssen in eine neue Welt tauchen, um das Publikum zu erreichen, gleichzeitig aber mit weniger Mitteln arbeiten, wir müssen innovativ und effizient sein, aber dennoch die gute alte Broadcast-Welt erhalten. Einige unserer Entscheidungen waren schwierig, aber wichtig.

Hat die Coronapandemie der SRG geschadet oder genützt?

Stimmt, die gab es ja auch noch! Ein Unternehmen wie die SRG nur digital zu führen, ohne die Kolleg:innen sehen zu können, die Stimmung zu spüren, das ist extrem schwierig. Dank bestem IT-Support haben wir es geschafft. Wir konnten zeigen, dass wir wichtig sind für das Land und dass es einen starken Service public braucht. Und die Schweizer:innen haben zu uns gehalten: Der Marktanteil der Tagesschau lag bei fast 80 Prozent. Deshalb bedauere ich umso mehr, dass der Service public nun wieder in Frage gestellt wird. Wenn auch vor allem durch die Politik und nicht die Bevölkerung: Ich weiss, dass die Bürger:innen unser Angebot schätzen.

Zur Person

Gilles Marchand (*1962) war von 2017 bis 2024 SRG-Generaldirektor. Er stiess 2001 zur SRG, zuerst als Direktor des damaligen Télévision Suisse Romande (TSR) und danach ab 2010 von Radio Télévision Suisse (RTS). Aufgewachsen ist Gilles Marchand in Paris und Nyon. An der Universität Genf studierte er Soziologie. Seine berufliche Laufbahn begann er in der Buchbranche und kam 1988 zur «Tribune de Genève». 1992 wurde er Leiter Marketing bei Ringier Romandie und 1998 deren Direktor.

Text: Eva Hirschi

Bild: SRG.D

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