Marcy Goldberg: «Der Schweizer Film ist diverser geworden»

Es müssen nicht immer Berge und Bauern sein: Film- und Kulturwissenschaftlerin Marcy Goldberg stellt interessante Entwicklungen im Schweizer Filmschaffen fest – auch wenn es immer noch blinde Flecken gibt.

Zur Person

Marcy Goldberg ist 1969 in Montréal, Kanada, geboren. Sie hat Film- und Kulturwissenschaft in Toronto studiert und lebt seit 1996 in Zürich. Die Filmfachfrau befasst sich mit dem Forschungsschwerpunkt Schweizer Filmgeschichte und unterrichtet an mehreren Schweizer Kunsthochschulen. Weiter moderiert sie Gespräche und Podien an diversen Festivals und Kulturveranstaltungen und arbeitet als freie Publizistin, Übersetzerin und Medienberaterin.

Marcy Goldberg, die Schweiz war lange kein Serienland, und jetzt gelang gleich mehreren Schweizer Kreationen der Durchbruch. «Tschugger» läuft sogar im Kino und auf Netflix. Ist «Swissness» plötzlich in?

Serielle Erzählformen sind seit einiger Zeit weltweit ein Trend. Die SRG hat die Zeichen der Zeit erkannt und bei dieser Entwicklung mitgemacht, indem sie vermehrt die Serienproduktion unterstützt. Dies trägt nun Früchte. Gleichzeitig ist in jedem Land ein Bedürfnis vorhanden, Bilder zu sehen, Dialekte zu hören und Geschichten erzählt zu bekommen, die das eigene Land widerspiegeln. Es gibt jedoch eine paradoxe Beziehung zur Schweiz als Drehort für Filme: Die Schweiz schaut gern über ihre Landesgrenzen hinaus und vergleicht sich, steht jedoch unter dem Fluch, von grösseren Ländern umringt zu sein, die zudem zu den wichtigsten Filmländern gehören. Deutschland, Frankreich und Italien haben mit grossen Filmautorinnen und -autoren sowie Stars die Weltfilmgeschichte geprägt. Die kleine Schweiz liegt zwar in der Mitte und bekommt die Einflüsse mit, hat aber weniger Geld und eine kleinere Bevölkerung. Selbst wenn die ganze Schweiz einen Film im Kino schauen würde, hätte man mit dem Ticketverkauf immer noch nicht den gleichen Erfolg, wie es Filme in Deutschland oder Frankreich schaffen. Deshalb war die Schweiz immer schon hin und her gerissen zwischen internationalen Ambitionen, gleichzeitig aber auch dem Anspruch, den eigenen Spezialitäten und Eigenheiten gerecht zu werden.

Dennoch verzeichneten einige Schweizer Filme schon früh Erfolg.

Ja. Das erste goldene Zeitalter für den Schweizer Film war in den 1930er- und 1940er-Jahren, und zwar wegen der Geistigen Landesverteidigung. Die Schweiz suchte nach einem Gegengift gegen die politische Propaganda aus dem Nachbarland. Filme aus Nazi-Deutschland wurden hier verboten, weil man nicht wollte, dass sie den heimischen Markt dominieren und einen ideologischen Einfluss ausüben können. Deshalb wurde damals viel in heimische Produktionen investiert, was zu einer grossen Blüte des Schweizer Films führte. Es entstanden mehrere Klassiker, die sich mit Patriotismus und der Schweizer Nationalidentität auseinandersetzten, tendenziell aber einen konservativen Blick auf die Schweiz warfen. Es ging oft um kleine Dörfer, eine ländliche Idylle, kurz: die brave und die wahrhafte Schweiz. Es gab darunter aber durchaus Meisterwerke wie etwa «Die letzte Chance» von Leopold Lindtberg, der die Idee einer freien, humanistischen Schweiz stark geprägt hat.

«Das einheimische Publikum erwartet auch, dass sich Schweizer Filme kritisch mit der Schweiz auseinandersetzen.»

Wie entwickelte sich der Schweizer Film nach dem Weltkrieg weiter?

Die zweite prägende Zeit für den Schweizer Film war Ende der 1960er- bis Anfang der 1980er-Jahre. Damals entstand der «Neue Schweizer Film» als Bewegung unter jungen Cineasten in der Westschweiz und der Deutschschweiz. Die Generation ’68 war von einem grösseren Generationenkonflikt geprägt und auch gegenüber dem alten Schweizer Film kritisch eingestellt. Diese jungen cinephilen Menschen – beeinflusst von der Nouvelle-Vague-Bewegung aus Frankreich und anderswo – hatten Lust, Geschichten mit einem viel kritischeren Blick auf die Schweiz zu erzählen. Und hatten Erfolg damit. Beispiele sind «L’Invitation» von Claude Goretta und «La Salamandre» von Alain Tanner, aber auch «Höhenfeuer» von Fredi Murer und «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy. Letzterer ist nach wie vor der erfolgreichste Schweizer Film aller Zeiten!

Das heisst, es muss nicht immer ein Heimatfilm wie «Heidi» sein?

Im Gegenteil, diese Filme entstanden explizit als Gegenbewegung zum Schweizer Heimatfilm. Sie kritisierten die Schweiz auf allen Ebenen – von ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg über soziale Ungerechtigkeiten bis hin zum Unbehagen mit der Landschaft. «Nieder mit den Alpen» lautete der Slogan in den 1980er-Jahren. Diese Art von Filmen, die einen selbstkritischen Blick auf die Heimat werfen, dies aber auf genüssliche Art und Weise tun, finde ich faszinierend. Solche Filme findet man auch heute noch. Das einheimische Publikum erwartet auch bis zu einem gewissen Grad, dass sich Schweizer Filme kritisch mit der Schweiz auseinandersetzen. Ein jüngeres, erfolgreiches Beispiel ist «Grounding». Dieser Film war auch in seiner Machart interessant, weil er dokumentarisches Material mit fiktionalisierten Szenen mischte. Ganz aktuell ist «Landesverräter», inspiriert durch einen wahren Vorfall, der die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg kritisch beleuchtet.

Was ist typisch für den Schweizer Film?

Es gibt Tendenzen, aber es gibt auch Gegentendenzen. Die Landschaft spielt häufig eine grosse Rolle – meist, weil sie einfach da ist. Filmschaffende müssen eine Lösung finden, wie sie damit umgehen. Wollen sie die Schweizer Landschaft eher kitschig darstellen und feiern oder das Gegenteil. Im Film «Höhenfeuer» zum Beispiel wurde penibel darauf geachtet, dass keine Postkarten-Cadrage entsteht; Gipfel wurden abgeschnitten, es wurde bei schlechtem Wetter gedreht. Die urbane Schweiz ist aber auch ein beliebtes Sujet – im Positiven wie im Negativen. «Traumland» etwa erzählt die tragische Geschichte einer Prostituierten, die in der Weihnachtszeit nur die Kälte und Grausamkeit von Zürich erlebt. Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre gab es mehrere Filme, die sich mit der zubetonierten Schweiz auseinandergesetzt haben, wie etwa «Züri brännt» und «Reisender Krieger».

Welche gesellschaftliche Bedeutung haben Schweizer Filme?

Es gibt Filme, die die Schweiz zelebrieren, die lustig sind und zu Unterhaltungszwecken viele Klischees beinhalten. Und dann gibt es die anderen Filme, die kritisch sind, sich mit den Klischees auseinandersetzen, Fragen zu Identität und Geschichte stellen. Ich habe den Eindruck, dass die Filme, die ausserhalb der Schweiz auf Interesse stossen, oft eher die kritischen sind. Das ist interessant, kennt man die Schweiz international doch vor allem aus den Klischeebildern, die stets auch in der Werbung verwendet werden. Offenbar will das internationale Publikum jenseits der Klischees mehr über die Schweiz erfahren. In letzter Zeit gab es wieder mehr Filme, die auf einer wahren Gegebenheit beruhen und sich mit der Geschichte der Schweiz beschäftigen. In kleinen Ländern wie der Schweiz spielt das Kino eine wichtige Rolle als Spiegel für die eigenen Befindlichkeiten.

«Wir schauen gern Filme über Leute, die an Orten leben, die nah von uns sind.»

Können Filme zum Zusammenhalt der Schweiz beitragen?

In den 1930er-Jahren hat man das geglaubt, und es hat bis zu einem gewissen Grad auch funktioniert. Heute ist das komplexer. Die Einflüsse kommen von überall, wir konsumieren Medienbilder aus der ganzen Welt. In dieser globalisierten Welt wollen wir Weltbürgerinnen und -bürger sein. Gleichzeitig hat aber auch das Lokale einen grossen Wert, quasi als Gegenpol dazu. Unser Leben ist sehr geprägt von dem, was an unserem Wohnort passiert. Wenn es nur um ökonomische Effizienz ginge, würden alle Filme auf Englisch oder Hindi gedreht, doch dann würden bestimmte Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums nicht gedeckt. Wir schauen gern Filme über Leute, die an Orten leben, die nah von uns sind. Darum ist es wichtig, dass in allen Regionen der Schweiz Filme gedreht werden können.

Gleichzeitig sind «Tschugger» oder «Der Bestatter» in der Westschweiz und im Tessin kaum bekannt. Dienen solche Produktionen also nur der Deutschschweizer Kohäsion?

Die Mehrsprachigkeit und die kulturellen Unterschiede bilden tatsächlich eine Herausforderung, auch wenn es möglich ist, Filme zu machen, die in der ganzen Schweiz erfolgreich sind. In den 1960er- und 1970er-Jahren waren die Autorenfilme aus der Romandie in der ganzen Schweiz sehr beliebt. Deutschschweizer Filme hatten es eher schwer, in der Westschweiz ihr Publikum zu finden. Das ist bis heute so, es gibt aber immer wieder Ausnahmen. Die Komödie «Bon Schuur Ticino», die in der ersten Hälfte 2024 in die Kinos kam, ist der erfolgreichste Deutschschweizer Film aller Zeiten in der Romandie und im Tessin. Vielleicht ging die Rechnung aber auch deshalb auf, weil es im Film eben gerade um die Schweizer Mehrsprachigkeit geht und mit Vincent Kucholl zudem ein Star aus der Westschweiz mitspielt.

«Ich bin sehr besorgt über die Entwicklung, dass die Rolle der SRG immer mehr infrage gestellt wird.»

Braucht es besondere Massnahmen, um die Situation zu verbessern?

Es braucht unter anderem mehr Sichtbarkeit zwischen den Regionen. Beliebte Serien aus der Westschweiz liefen in der Deutschschweiz weniger gut, weil man sie hier schlicht nicht kannte – man denke zum Beispiel an «Quartiers des Banques» oder «Cellule de Crise». Das sehe ich aber nicht grundsätzlich als Problem. Jede Region hat ihre eigenen Befindlichkeiten, und diese Regionalität macht die Schweiz auch aus. Wichtig sind Plattformen, wo das Schweizer Filmschaffen in seiner ganzen Bandbreite zu entdecken ist. Diesbezüglich betrachte ich die Rolle der SRG als sehr wichtig, weil sie für diese Vielfalt und regionale Verankerung mit Qualitätsanspruch verantwortlich ist – und es hoffentlich auch bleibt. Ich bin sehr besorgt über die Entwicklung, dass die Rolle der SRG immer mehr infrage gestellt wird und Budgets noch stärker gekürzt werden sollen. Das ist eine sehr kurzsichtige, fahrlässige Entscheidung. Es braucht Unterstützung, damit es eine lebendige und kreative Filmbranche gibt in der Schweiz.

Wie hat sich der Schweizer Film verändert in den letzten Jahren?

Mir sind zwei Sachen aufgefallen. Einerseits gibt es viel mehr Filme, die mit populären Genres spielen, von Krimis über Western bis hin zu Romantic Comedy. Früher gab es eher Arthouse-Filme oder Autorenfilme mit persönlicher Handschrift. Genrefilme hingegen basieren auf bestimmten Erzählmustern und dienen vor allem Unterhaltungszwecken. Ich glaube, dieser Trend hat damit zu tun, dass jüngere Filmschaffende einen internationalen Blick haben. Die gesamte Filmbranche hat sich globalisiert, die Jungen saugen das auf und wollen diese Einflüsse in ihre Filmsprache integrieren.

Was ist Ihre zweite Feststellung?

Der Schweizer Film ist diverser geworden. Früher gab es wenige Regisseurinnen; sie hatten es sehr schwer, ihre Ausbildung zu machen und ihre Filme zu finanzieren. Das hat sich inzwischen verbessert, und das begrüsse ich sehr. Aber nicht nur in Bezug auf Gender, auch allgemein finde ich, dass der Schweizer Film diverser geworden ist, etwa durch Menschen mit internationalen Wurzeln oder Migrationshintergrund. Der Film «Reinas», der von einer schweizerisch-peruanischen Regisseurin stammt und in Peru spielt, geht bei den Oscars in der Kategorie «Bester internationaler Film» für die Schweiz ins Rennen. Diese Diversität bringt mehr Vielfalt und erweitert den Horizont. Somit wird die Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite zum potenziellen Stoff für neue Filme.

Gibt es auch blinde Flecken?

Lange war es diese Unterrepräsentation von Frauen. Das hat sich zwar verbessert, doch es gibt nach wie vor Nachholbedarf. Hingegen sind weitere Aspekte der Identität immer noch selten im Film zu sehen, zum Beispiel Filme von queeren Menschen oder von People of Color. 2022 erschien der Dokumentarfilm «Je suis Noires» über Schwarze Frauen, die in der Schweiz leben. Das war augenöffnend – diese Realität und Identitätsperspektive wurde bisher viel zu wenig behandelt. Das lässt sich aber nicht mit einem einzigen Film lösen. Ich würde es begrüssen, gäbe es mehr Sichtbarkeit für Menschen mit solchen Wurzeln. Thematisch gesehen sehe ich einen blinden Fleck in der Auseinandersetzung mit der postkolonialen Schweiz. In der Forschung ist dieses Thema gerade sehr aktuell, doch es wurde bis jetzt kaum filmisch behandelt. Aber ich denke, das wird kommen, denn es sind spannende Geschichten, die die Schweiz mit der Weltgeschichte verknüpfen.

Das Magazin für Mitglieder

Dieser Text erschien zuerst im «LINK», dem Magazin für alle Deutschschweizer Mitglieder der SRG. Sie interessieren sich für die Entwicklungen in der Schweizer Medienlandschaft, in der SRG und deren Unternehmenseinheiten? Mit «LINK» erhalten Sie fünf Mal jährlich spannende Beiträge zu den Entwicklungen im Journalismus, über den medialen Service public und die Menschen dahinter.

Jetzt Mitglied werden

Text: Eva Hirschi

Bild: Regisseurin Bettina Oberli am Set von «Emma lügt» SRF/Samuel Schalch

Wie beurteilen Sie die Relevanz des Schweizer Filmschaffens? Diskutieren Sie mit!

Kommentar

Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar inkl. Name in unserem LINK-Magazin veröffentlicht werden kann

Leider konnte dein Kommentar nicht verarbeitet werden. Bitte versuche es später nochmals.

Ihr Kommentar wurde erfolgreich gespeichert und wird nach der Freigabe durch SRG Deutschschweiz hier veröffentlicht

Weitere Neuigkeiten