Christian Walti: «Unsere Institutionen dürfen provokant auftreten»
Christian Walti gilt als progressive Stimme in der Schweizer Kirchenlandschaft. Der designierte Pfarrer des Zürcher Grossmünsters ist ein begnadeter Kommunikator. Sei es im Gottesdienst, im persönlichen Gespräch oder im digitalen Raum, Walti vermag, Leute für sich einzunehmen. Wir treffen ihn zum Gespräch über Service public, über den Wandel von grossen Institutionen in hektischen Zeiten, über das Buhlen um Aufmerksamkeit und über Prophet:innen von heute.
Christian Walti, die Schweizer Landeskirche und die SRG weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Zum Beispiel: Die Basis beider Institutionen bilden ideelle Werte wie Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenhalt. Gleichzeitig befinden sich beide Organisationen in einer Transformation. Wie erleben Sie diesen Wandel? Und inwiefern reichen ideelle Werte heute als Grundlage noch aus?
Zunächst glaube ich, dass die meisten Leute immer noch solidarisch sind. Sie haben aber zunehmend Mühe sich zu organisieren. Im Vergleich zu früher habe ich viel mehr Möglichkeiten, meine freie Zeit zu gestalten. Organisierte Solidarität wie im Sportverein oder in der Kirche buhlt mit Familie, Netflix, Instagram und unzähligen Aktivitäten um die arbeitsfreie Zeit. Eine feste Verpflichtung wird dadurch unattraktiv. Da kann ich durchaus nachvollziehen, dass sich Menschen nicht mehr binden möchten!
Für die Institutionen ist das aber eine Herausforderung.
Ja. Als Kirche dürfen wir deshalb den Menschen in Erinnerung rufen, dass gewisse Formen des Zusammenhalts nur langfristig organisiert funktionieren. Etwa die Solidarität mit Menschen, die eine komplizierte Biografie aufweisen: Sans-Papiers, Obdachlose oder Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Diese Menschen fallen oft durch die Maschen der staatlichen Fürsorge. Es passt aber schlecht zu unseren Werten, solche Menschen einfach sich selbst zu überlassen. Obdachlosenhilfe etwa lässt sich nicht einfach spontan organisieren. Auch der Journalismus leistet eine gesellschaftlich sehr wichtige Funktion. Und auch er braucht einen längerfristigen Rahmen, um zu funktionieren.
Der Journalismus befindet sich in einer finanziell sehr unsicheren Lage. Und auch die Landeskirche verliert zunehmend an Steuerzahler:innen. Was, wenn der von ihnen beschriebene Rahmen immer mehr auseinanderfällt?
Es ist für mich durchaus denkbar, dass es die steuerfinanzierte Kirche eines Tages nicht mehr gibt. Kirche muss nicht unterstützt werden, wenn niemand mehr einen Sinn in ihr sieht. Gleiches gilt auch für Medienhäuser, ob nun öffentlich oder privat finanziert. Aber bevor wir diese «Häuser» einreissen, möchte ich dennoch gefragt haben: Wollen wir als Gesellschaft wirklich ohne kostenlose Räume für Menschlichkeit, Solidarität und Spiritualität auskommen? Ich will nicht nur Kirchenwerbung machen, denn nicht nur die Kirche bietet solche Räume. Aber wir dürfen pointiert und provokant auftreten. Und Sie von der SRG in Ihrer Sache übrigens auch. Wollen wir wirklich eine Gesellschaft ohne freien Journalismus? Für Theolog:innen sind solche provokativen Fragen prophetisch. Und ich denke, auch Journalist:innen dürfen prophetisch sein.
«Auch Journalist:innen dürfen prophetisch sein.»
Nicht alle sehen das gerne. Der SRG würde wohl schnell Alarmismus vorgeworfen werden.
Sicher, Kritik gibt es immer, wenn man sich äussert. Auch die Kirche wird kritisiert, wenn sie öffentlich Stellung bezieht. Nehmen Sie das Beispiel der Konzernverantwortungsinitiative. Während dem Abstimmungskampf hatten gewisse Kirchen sich für ein Ja eingesetzt, gewisse sogar Plakate und Banner aufgehängt. Ich selbst engagierte mich damals öffentlich dafür. Als ich an einer Podiumsdiskussion auftrat, sagte mir dort ein Vertreter der Wirtschaft: Ihr von der Kirche, mischt euch nicht in Themen ein, bei denen ihr euch nicht auskennt! Dabei erinnerten wir lediglich daran, dass neben dem Profit eben auch andere Dinge zählen: Menschenrechte, Umweltschutz. Diese Meinung als Kirche öffentlich zu äussern, gehört doch zu unserer Aufgabe und zum demokratischen Diskurs dazu.
Sie sagen, der Wegfall einer Kirchensteuer sei für Sie nicht undenkbar. Es klingt aber fast, als wäre das für Sie nicht besonders schlimm?
Ich war die letzten Wochen in den USA unterwegs. Hier gibt es viel zivilgesellschaftliches Engagement, auch nach der Wahl von Anfang November– eine Katastrophe für ganz viele Menschen hier. Die Metro Baptist Church, in der ich Gast war, versucht, für Bedürftige in ihrem direkten Umfeld da zu sein. Und sie arbeitet über die Gräben hinweg, die sich durch die Politik immer weiter auftun. Das zu sehen gibt mir Mut und Zuversicht: Sollte eines Tages die Kirchensteuer wegfallen – davon bin ich überzeugt, auch wenn ich es nicht heraufbeschwören will –, so denke ich trotzdem, dass ich weiterhin ein öffentlicher Akteur bleiben werde. Die befreiende Botschaft unseres Glaubens ist nicht gebunden an eine Institution. Sie entspricht einem zutiefst menschlichen Bedürfnis.
Sprechen wir über Transformation. Die SRG richtet sich gerade neu aus. Auch die Landeskirche muss sich zukunftsorientiert aufstellen. Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaft, auf die wir uns ausrichten, sehr schnell. Können grosse Institutionen das Tempo dieses Wandels überhaupt mitgehen?
Das ist für mich eine Haltungsfrage. Wir Theolog:innen nennen das «Spiritualität». Die Werte, oder das Fundament, muss keine Trends mitgehen. Es geht darum, die Welt um uns herum aufmerksam wahrzunehmen. Ich habe keine Angst vor der technologischen Beschleunigung, sondern eher davor, dass wir in der falschen Haltung darin unterwegs sind. Wir sollten dafür offen sein, auch in den sozialen Medien zu kommunizieren. Dort verbringen die Menschen einen grossen Teil ihrer Zeit. Die Kirche sollte in dieser Lebenswelt also vorkommen. Gleichzeitig erkenne ich gerade in den sozialen Medien etwas, das ich «Drehtürenmoment» nenne. Es werden Argumente formuliert, auf die eine andere Seite mit einer bereits vordefinierten Antwort reagiert. Darauf wiederum folgt wieder die immergleiche Antwort. Das ist kein Diskurs, kein Sich-Einlassen auf die Argumente oder die Meinung des Gegenübers. Es braucht jemanden, der die Leute aus dieser Drehtür herausholt, mit neuen oder überraschenden Gedanken.
«Wir müssen als authentische Persönlichkeiten auftreten und nicht einfach nur als Religionsbeamte.»
Ist das die Rolle der Kirche oder von Pfarrpersonen?
Ja, und auch des Journalismus: Räume schaffen, die eine Diskussion ermöglichen. Deshalb finde ich positionalen Journalismus wahnsinnig langweilig. Ich will nicht wissen, was eine einzige Person denkt. Ich will Neues lernen und einen Austausch mitverfolgen. Ich finde jene Beiträge interessant, die mir überraschende Wege oder Lösungen eröffnen, frische Ideen oder spannende Personen näherbringen. Als christlicher Theologe nenne ich es «Evangelium», wenn eine Botschaft es schafft, die Leute aus den eingefahrenen Gedankenkreisen herauszuholen.
Sie gelten als digital affiner Kommunikator, sehr aktiv in ebenjenen sozialen Netzwerken. Gibt es eine Verschiebung der Aktivität von Pfarrpersonen vom Gottesdienst am Sonntag ins Digitale?
Ich glaube nicht, dass es zwangsläufig eine Verschiebung vom Kirchenraum in den digitalen Raum gibt. Die neuen Kanäle kommen als neue Dimensionen dazu, machen die Kommunikation von uns allen vielschichtiger. Die verschiedenen Schichten müssen aber miteinander verbunden werden. Und das müssen reale Menschen in stundenlanger Arbeit leisten.
Das bedingt, dass man die Regeln der digitalen Kommunikation versteht.
Absolut. Es ist eine Entwicklung, die auch vor Pfarrpersonen nicht Halt macht. Wir müssen als authentische Persönlichkeiten auftreten und nicht einfach nur als Religionsbeamte. Das fällt nicht allen leicht, weil es auch ein theologisches Problem darstellt: Es geht hier um Gott, nicht um mich – weshalb soll ich mich als Pfarrer da in den Vordergrund stellen? Aber will ich über die sozialen Medien kommunizieren, muss ich nun einmal als glaubwürdig, menschlich und persönlich wahrgenommen werden. Ansonsten erreiche ich auf diesem Kanal niemanden. Ich kann nicht einfach meine normale Predigt auf Instagram publizieren. Das ist das Gleiche, wie wenn SRF ihre Fernsehsendungen für Social Media adaptiert. Die Nutzer:innen dieser Plattformen erwarten eine andere, persönliche Art der Kommunikation.
Bedeutet das, dass Pfarrpersonen vermehrt zu Marken werden müssen?
Vielleicht. Authentifizierung funktioniert aber nicht über Marken, sondern über Menschen. Wichtig ist, dass die glaubwürdige Haltung einer Pfarrperson erkennbar ist, dass sie nicht nur eine Rolle spielt: es geht um ihren persönlichen Glauben! Ich denke, gerade in diesem so zentralen Aspekt unserer Arbeit haben wir von der institutionalisierten Kirche Aufholbedarf – aber wir werden immer besser.
Zur Person
Christian Walti (*1982) wird ab Februar 2025 Pfarrer im Grossmünster Zürich. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Nach einem Doktorat in Liturgiewissenschaft wurde er Pfarrer an der Friedenskirche im Berner Mattenhof-Holligen Quartier. Er leitete unter anderem das Projekt Dock8, einen Treffpunkt für randständige Menschen. Aktuell reist er im Rahmen eines Sabbaticals durch die USA und Mexiko.