Calum MacKenzie: «Die Frau rannte davon und rief: ‹Ich spüre nichts, in Russland ist alles gut!›»

Calum MacKenzie ist seit 2023 SRF-Korrespondent in Russland und blickte am 10. Januar 2025 an einer Veranstaltung der SRG Zürich Schaffhausen auf die letzten zwei Jahre zurück. In verschiedenen Episoden erzählt er hier von seiner Arbeit und seinem Leben zwischen Moskau, Tiflis und der Schweiz.

Die Kriegspropaganda – wie hier der Buchstabe «Z», ein Symbol der «Spezialoperation» – ist im Stadtbild Moskaus allgegenwärtig.

«Gespräche mit Menschen auf der Strasse sind in Russland möglich, aber nur noch über eher unverfängliche Themen. Über den Krieg kann man in der Öffentlichkeit kaum sprechen, da gibt niemand Auskunft. Die Leute wissen, dass sie sich durch ihre Aussagen selbst in Gefahr bringen könnten. Es gab bereits Verhaftungen von Personen, die sich bei Strassenumfragen von Medien zu den Kampfhandlungen in der Ukraine äusserten. Bei anderem schafft man es bis jetzt noch, Meinungen und Stimmen einzuholen. Doch auch bei kriegsfernen Themen erfahre ich inzwischen mehr Zurückhaltung. Ich befragte einmal Leute in einem Einkaufszentrum zur Inflation und ob die höheren Preise für sie eine Belastung darstellten. Da rannte eine Frau quasi vor mir davon. Sie rief mir nur noch zu: ‹Ich spüre nichts, in Russland ist alles Gut! ‘Es ist paradox: Regierungskritikerinnen und -kritiker, die sich – zwar anonym, aber dennoch®– öffentlich mit ihrer Meinung äussern möchten, sind einfacher vor das Mikrofon zu kriegen als regimetreue Personen. Ich will immer wieder Geschichten machen mit Menschen, die das jetzige System und den Krieg unterstützen. Ich erhalte viele Absagen. Wahrscheinlich haben sie einerseits wenig Vertrauen zu mir als westlichem Journalisten, andererseits ist da die Angst vor der eigenen Regierung. Und das, obwohl sie eigentlich deren Kurs vertreten. Sie denken wohl, allein der Kontakt zu einem westlichen Journalisten bringe sie in Schwierigkeiten.»

«In Russland fühlt man sich stets etwas unwohl. Man muss als Journalist immer damit rechnen, dass man beschattet oder abgehört wird. Dieses Gefühl ist immer im Hinterkopf präsent, da verhält man sich automatisch anders. Ich erlebte bisher glücklicherweise keine groben Eingriffe in meine Arbeit. Es waren eher niederschwellige Dinge, kleinere Schikanen. Ich wurde schon am Flughafen während rund zwei Stunden grundlos aufgehalten und befragt. Das ist dann einfach mühsam. Ich kenne aber Kolleginnen und Kollegen, denen mysteriöse Männer im Hotel einen Besuch abstatteten oder die auf der Strasse belästigt wurden. Damit muss man inzwischen leider rechnen. In dieser Atmosphäre fühlt sich die Luft immer etwas dünn an.»

Calum MacKenzie auf dem Roten Platz in Moskau im Dezember 2023.
Calum MacKenzie auf dem Roten Platz in Moskau im Dezember 2023.

«Mein Alltag besteht aus viel Büroarbeit. Es gibt immer Dinge, die erledigt werden müssen, insbesondere wenn ich nach Russland reise. Seit dem russischen Grossangriff auf die Ukraine gibt es nur noch kurze Arbeitsvisa für westliche Journalistinnen und Journalisten. Ich muss alle drei Monate mein Visum und meine Akkreditierung verlängern lassen. Der Prozess ist zeitraubend und bürokratisch. Während dieses Verlängerungsprozesses muss ich über längere Zeit in Russland sein, was die ganze Sache zusätzlich verkompliziert. Vor dem Krieg galten die Akkreditierungen von westlichen Medienschaffenden jeweils für ein Jahr. Mir wurde erklärt, die Massnahme sei eine Antwort an die ‹unfreundlichen Länder›, die russische Medien in Europa eingeschränkt hätten. Obwohl es in der Schweiz solche Einschränkungen nie gab, gelten die Bestimmungen auch für mich.»

Die Steppe im Nordosten Kasachstans, wo die Sowjetunion rund 40 Jahre lang Atombomben testete.
Die Steppe im Nordosten Kasachstans, wo die Sowjetunion rund 40 Jahre lang Atombomben testete.

«Überraschende Begegnungen erlebe ich in meiner Tätigkeit als Korrespondent unzählige. In einer Bar in St. Petersburg lernte ich beispielsweise jemanden kennen, der früher für das Medienimperium des ehemaligen Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin gearbeitet hatte. Mit ihm führte ich ein sehr interessantes Gespräch. Oder ein Fahrer, den ich mir in Georgien einst für eine Reportage organisiert hatte, erzählte mir, dass er in den 90er-Jahren als Soldat im georgischabchasischen Krieg und 2008 gegen Russland gekämpft hatte. Und in Kasachstan sprach ich mit einer Professorin über die Auswirkungen der von sowjetischen Atombombentests verursachten Strahlung auf die Gesundheit der lokalen Bevölkerung. Im Gespräch offenbarte sie mir, dass sie nicht nur zum Thema forscht, sondern ihre Familie aus einer betroffenen Region stammt. Ihre eigenen Kinder leiden unter genetischen Krankheiten. Das war schon eindrücklich.»

Die Beziehung zwischen Georgierinnen und Russen ist momentan angespannt. Seit dem Ukrainekrieg sind sehr viele Menschen aus Russland eingereist. Eine georgische Freundin hat sich kürzlich darüber beschwert, dass inzwischen überall Russisch gesprochen werde. Man muss sich bewusst machen: Russland hat vor nicht allzu langer Zeit noch Krieg gegen Georgien geführt, da gibt es also noch immer bestimmte Ressentiments in der Gesellschaft. Speziell an der Unterhaltung mit meiner Bekannten war, was kurz darauf passierte: Wir gingen durch die Stadt und entdeckten einen Mann, der über das Geländer einer Brücke kletterte, die über den Fluss Kura in Tiflis führt. Es stellte sich heraus, dass der Mann Russe war. Sie lief zu ihm hin und sprach mit ihm auf Russisch – in Georgien lernte man die Sprache lange in der Schule. Am Ende nahm das Ganze aber eine Wendung ins Absurde, denn der Mann war offenbar nicht lebensmüde, sondern Turmspringer – er wollte jemanden beeindrucken, indem er ins trübe Wasser des Flusses sprang. Wir hielten ihn dann aber auch davon ab. Die Episode zeigt trotzdem das Spannungsfeld auf zwischen Sorgen über die politischen Entwicklungen und der Empathie auf der zwischenmenschlichen Ebene, in dem sich viele Georgierinnen und Georgier aktuell befinden.»

Bild von Demonstrierenden In Georgien
Seit Monaten protestieren Georgierinnen und Georgier gegen den rasanten Abbau der Demokratie in ihrem Land. Die Regierung setzt maskierte Sicherheitskräfte gegen die Demonstrierenden ein.

«Als Korrespondent muss ich Augen und Ohren immer offen halten – auch in meiner Freizeit. Ein Beispiel: In Georgien starteten Ende November 2024 intensive Proteste. An dem Abend bereitete ich mich auf eine neue Reise nach Russland vor, am nächsten Tag musste ich fliegen. Im Stadtzentrum von Tiflis sah ich, wie die Leute spontan auf die Strasse strömten und sich vor dem Parlament versammelten. Später, in meiner Wohnung, hörte ich die Demonstrierenden während der ganzen Nacht. Ich merkte: Hier entsteht etwas Grosses. Am Ende war ich die ganze Nacht wach und aktualisierte meine Nachrichten-App, um mich auf dem Laufenden zu halten. Die Situation änderte sich ständig, und ich wollte wissen, was vor sich ging. Am nächsten Tag war ich ziemlich erschöpft und stieg etwas widerwillig in den Flieger nach Russland.»

«Als Korrespondent hat man vor Ort oft sogenannte Fixerinnen oder Fixer. Das sind Medienschaffende, die sich gut auskennen und bei der Vermittlung von interessanten Kontakten helfen. Aber in Russland geht das nicht mehr so gut. Diese Leute bewegen sich inzwischen juristisch auf sehr dünnem Eis. Erhalten sie Geld von ausländischen Unternehmen, insbesondere von ausländischen Medien, könnten sie als ausländische Agentinnen oder Agenten gelten und dafür juristisch belangt werden.»

Foto von einem Panzer vor einem Gebäude
Im «Park Patriot» nahe Moskau zeigen die russischen Behörden Militärfahrzeuge, die angeblich in der Ukraine erbeutet wurden. Unter das Rad eines Fahrzeugs wurde ein Teddybär gelegt, um die Propagandaerzählung von bösen ukrainischen Nazis zu unterstreichen

«Georgien ist für mich zum Arbeiten ganz anders als Russland – noch! Die Regierung festigt ihre autokratische Macht und wendet sich nach Jahren der EU-Annäherung nun zu Russland hin. Ein grosser Teil der Bevölkerung wehrt sich und demonstriert gerade lautstark und zahlreich. Die Menschen hier sind inzwischen an einen demokratischen Zustand gewöhnt. Es gibt eine sehr aktive Zivilgesellschaft. Als Journalist kann ich uneingeschränkt im Land umherreisen und mit Leuten sprechen. Meine Arbeit in Georgien ist deshalb eher vergleichbar mit der in der Schweiz als mit jener in Russland. Die russische Gesellschaft dagegen ist nach 20 Jahren starker Untjaperdrückung darauf konditioniert, dass man sich am besten einfach aus der Politik heraushält. Deshalb sind die Menschen verschlossen, sie möchten sich nicht äussern.»

EIn Tisch gedeckt voller Essen und eine Frau die am Tisch sitzt
Die Anwohner des ehemaligen Bombentestgeländes in Kasachstan legen Wert darauf, einen Besucher aus der Schweiz gebührend zu verpflegen.

Text: Aufzeichnung von Pascal Zeder

Bild: Die Bilder zu diesem Artikel wurden von Calum MacKenzie zur Verfügung gestellt

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