2020 mit pandemisch vielen Beanstandungen
Quasi mit Beginn des ersten Shutdowns wegen Corona Mitte März 2020 wechselte auch die personelle Besetzung der Ombudsstelle: Esther Girsberger und Kurt Schöbi übernahmen per 1. April von Roger Blum. Einarbeiten konnten sich die beiden nicht: es hagelte vom ersten Tag an Beanstandungen, bis zu einem Drittel wegen der Corona-Berichterstattung. Die Beanstanderinnen und Beanstander schlugen allerdings den Sack und meinten den Esel: Sie ärgerten sich nämlich mehrheitlich über die politischen Behörden und die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, welche die Pandemie überbewerten und für falsche oder zu strenge Angstmacherei sorgen würde. Und weil SRF der öffentliche Sender ist, schlossen die Kritikerinnen und Kritiker unbesehen daraus, dass Fernsehen und Radio der verlängerte Arm der Behörden oder der Covid-Taskforce sei.
Im Vergleich zu den Vorjahren gingen überdurchschnittlich viele Beanstandungen wegen Verletzung des Vielfaltsgebots (Art. 4 Abs. 4 RTVG) ein und vereinzelt wurden Zeitraumbeanstandungen in Bezug auf die Corona-Berichterstattung eingereicht. Wer sich genauer mit den Sendungen in Radio, Fernsehen und online beschäftigt, stellte aber fest, dass SRF nicht nur aktuell, vielfältig und hintergründig über die Pandemie berichtet hat, sondern auch kritisch. Wobei es legitim ist, die Minderheitsmeinungen weniger oft zu Wort kommen zu lassen – zum Beispiel Wissenschafter, die Covid 19 als weniger gefährlich als die Grippe einstufen oder solche, die eine Herdenimmunität für die Schweiz fordern. Die Ombudsstelle hiess vereinzelt Beanstandungen zur Corona-Berichterstattung wegen verletzter Sachgerechtigkeit (Art. 4 Abs. 2 des Radio- und Fernsehgesetzes) gut. Weitergezogene Schlussberichte wurden von der Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI abgewiesen oder sie trat nicht auf die Beschwerden ein.
Im Jahr 2020 gingen 1161 Beanstandungen ein. Das ist mit Abstand die höchste Zahl seit Einrichtung der Ombudsstelle im Jahr 1992. Das Jahr 2017 sorgte mit 787 Beanstandungen für die zweitmeisten Beanstandungen, wobei 550 auf die «Arena»-Sendung mit Daniele Ganser zurückzuführen waren. Auch im Jahr 2020 war es eine «Arena»-Sendung, die für sehr viele – nämlich 220 – Beanstandungen sorgte («Jetzt reden wir Schwarzen» vom 12. Juni 2020). Ansonsten war Corona für die pandemisch hohe Beanstandungszahl verantwortlich.
Ebenfalls coronabedingt wurde im Berichtsjahr an «nur» zwei Abstimmungssonntagen über insgesamt sieben eidgenössische Vorlagen abgestimmt, fünf davon gelangten am 27. September vors Volk. Zu Sendungen betreffend die «Begrenzungsinitiative» gingen 13 Beanstandungen ein. Dabei wurde in erster Linie die Namensgebung beanstandet. Die Initiative heisse «Begrenzungsinitiative», erklärten die Beanstanderinnen und Beanstander. SRF nannte die Initiative oft «Initiative gegen die Personenfreizügigkeit» oder «Kündigungsinitiative. Die Ombudsleute hielten in ihren Schlussberichten fest, sie würden die Verwendung «Begrenzungsinitiative» empfehlen, da doch eine politische Botschaft hinter der nicht notwendigen Umbenennung «Begrenzungsinitiative» gelesen werden könnte.
Der Bundesbeschluss über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge provozierte 25 Beanstandungen, wobei 12 davon auf einen Beitrag im «Rendez-vous» vom 19. August zurückgingen. Diese Beanstandungen wurden gutgeheissen, da die Interessenbindung des interviewten ehemaligen Luftwaffen-Kommandanten aus Israel nicht genannt worden war. Die anderen (abgewiesenen) 13 Beanstandungen gingen auf das Konto der «Rundschau» vom 2. September. Die Beanstanderinnen und Beanstander kritisierten das in ihren Augen unfaire Interview mit dem damals noch designierten Schweizer Luftwaffenchef Peter Merz. Je eine Beanstandung betraf Sendungen zur Erhöhung der Kinderabzüge und zum Vaterschaftsurlaub. Gegen die Änderung des Jagdgesetzes gingen 50 Beanstandungen ein, die sich allesamt gegen die Sendung «Netz Natur» vom 27. August richteten und teilweise gutgeheissen wurden.
Am 29. November gelangte die Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» (KVI) vors Volk. 35 Beanstandungen gingen ein. 3 richteten sich gegen einen «Echo der Zeit»-Beitrag vom 16. November sowie eine gegen den «DOK»-Beitrag vom 15. Oktober. Diese wurden teilweise gutgeheissen. Das Satire-Programm «Deville» vom 22. November bewirkte 15 Beanstandungen, die gutgeheissen wurden und ein grosses mediales Echo auslösten.
Nach wie vor ist das Fernsehen am meisten der Kritik ausgesetzt. Es umfasst rund 75 Prozent der Fälle im Vergleich zu 19 Prozent, die das Radio betreffen. Entsprechend der neuen Nutzungsgewohnheiten gerät der Online-Bereich immer stärker in den Fokus der Beanstanderinnen und Beanstander. SRF News ist am meisten davon betroffen, wobei die Online-Artikel sich ja meistens auch auf eine ausgestrahlte Sendung beziehen, sodass eine strikte Trennlinie nicht immer gezogen werden kann. Ebenfalls nicht weiter überraschend ist, dass mittlerweile auch Beanstandungen gegen Youtube-Inhalte und Tweets eingehen. Die Ombudsstelle ist der Auffassung, dass Inhalte, welche ausschliesslich oder vorwiegend aus Drittbeiträgen bestehen, in der Regel nicht als redaktionelle Publikationen erfasst werden und daher nicht unter die Zuständigkeit der Ombudsstelle fallen.
Die seit April 2020 im Amt stehenden Ombudsleute halten sich entsprechend ihrer Funktion als Schlichtungsstelle mit öffentlichen Verlautbarungen zurück. In zwei Fällen sind sie aktiv an die Öffentlichkeit getreten. Im ersten Fall handelte es sich um die «Arena» vom 12. Juni 2020 («Jetzt reden wir Schwarzen»), der zweite Fall betraf das Satire-Programm «Deville» zur Konzernverantwortungsinitiative, das eine Woche vor dem Abstimmungssonntag am 22. November ausgestrahlt worden war. Wie schon ihr Vorgänger Roger Blum behandeln auch die heute amtierenden Ombudsleute alle Beanstandungen gegen Abstimmungssendungen vor der Abstimmung, da sie dies als staatspolitisch wichtig erachten. Bei «Deville» verschickten sie den Schlussbericht bewusst erst am Tag nach dem Abstimmungssonntag, da man ihnen sonst Beeinflussung hätte vorwerfen können. Gleichzeitig veröffentlichten sie ihre Überlegungen in den Medien, was Kritik hervorrief. Es wurde moniert, dass die Ombudsleute nicht jeglichen Inhalt, der nicht gegen die Grundrechte verstösst, als Satire durchgehen lassen. Und, es sei wünschenswert -– wie das schon Vorgänger Roger Blum in einem Schlussbericht gegen «Deville» festgehalten hatte -–, dass sich die UBI dazu äussert, ob sich auch Satire-Programme zu Abstimmungsvorlagen an die Publizistischen Leitlinien von SRF zu halten hätten, was den zeitlichen Rahmen betrifft. Die diesbezügliche Beschwerde bei der UBI ist hängig.
Alles in allem hatten die Ombudsleute ein überaus bewegtes erstes Jahr – und hoffen, dass es zwar «bewegt» weitergeht, aber nicht in erster Linie wegen «Corona».