Ist anwaltschaftlicher Journalismus zulässig?

Darf in einer Sendung die Position der Neutralität aufgegeben werden, mit dem Ziel, für ein Anliegen Verständnis zu wecken? Wenn ja, welche spezifischen Anforderungen müssen eingehalten werden? Die Ombudsstelle hatte kürzlich über diese wichtigen und grundsätzlichen Fragen zu befinden.

- Von Achille Casanova

Es ging um den Beitrag «Fallstricke – wie ­Sibel Arslan zu Fall gebracht wurde», der in der Sendung «Passage» vom 5. Juni 2015 auf Radio SRF 2 Kultur ausgestrahlt wurde. In seinem fast einstündigen Beitrag berichtete SRF-Redaktor Christoph Keller über die 34-jährige Basler Juristin und Politikerin Sibel Arslan. Sie wurde zur Leiterin des Baselbieter Straf- und Massnahmevollzugs ernannt und hätte ihre neue Funktion per 1. Februar 2015 antreten sollen. Doch nach einer zehntägigen Medienkampagne der «Basler Zeitung», die Sibel Arslan insbesondere mangelnde Führungserfahrung und hohe Schulden vorwarf, entschied der grüne Regierungsrat und Sicherheitsdirektor Isaac Reber, seinen «Fehler zu korrigieren» und ihre Anstellung rückgängig zu ­machen. An diesem Beispiel wollte der Autor der ­Sendung «ein Lehrstück über die Macht der Medien» analysieren.

Unbewiesene These

Die Sendung sei einseitig und unsachgerecht, kritisierte der Anwalt des betroffenen BAZ-Journalisten auch im Namen der «Basler Zeitung». In seiner sehr ausführlichen Eingabe monierte er unter anderem, dass der Autor des Beitrags das Gebot der Unvoreingenommenheit verletzt habe. Er hätte die Rollen seiner Protagonisten bereits zu Beginn klar verteilt: Auf der einen Seite befindet sich die junge, weibliche und sympathische Migrantin, die ohne Grund ihren Job verliert, weil sie über einen Migrationshintergrund verfügt. Auf der anderen Seite steht der ehrgeizige Journalist, der Arslan gnadenlos, ungerechtfertigt und aus rassistischen Motiven zu Fall bringt. SRF-Redaktor Christoph Keller habe während der ­Sendung eine These verfolgt, die er nur durch Auslassungen und Unterschlagungen stützen konnte. Das Sachgerechtigkeitsgebot sei deshalb verletzt worden.

Anwaltschaftlicher Fokus

Auch wenn Franziska Baetke, Programm­leiterin Radio SRF 2 Kultur, in ihrer Stellungnahme diese Kritiken mehrheitlich zurückwies, konnte die Ombudsstelle die Reaktion des Beanstanders sowie seine Begründung durchaus nachvollziehen. Denn sie gelang zur Auffassung, dass die Sendung in weiten Teilen des Beitrags einen anwaltschaftlichen Fokus einnahm. Dass der Autor eine klare These vertrat, sich als Anwalt des Anliegens von Arslan verstand, für das er Verständnis wecken wollte, und sich auf ihre Seite stellte, ist schon auf Grund der Anmoderation sowie des Pressetextes zur Sendung deutlich erkennbar.

Wurde deshalb das Sachgerechtigkeitsgebot verletzt? Konnte sich das Publikum ­keine eigene Meinung bilden? Bei der Beantwortung dieser wichtigen Fragen hat sich die Ombudsstelle nach der Praxis der Unabhängigen Beschwerdeinstanz UBI ­sowie des Bundesgerichts zu richten.

Programmautonomie und Transparenz

Der «anwaltschaftliche Journalismus» ist für beide Instanzen Bestandteil der ­Programmautonomie von Radio und Fernsehen (Art. 6 Abs. 2 RTVG) und deshalb grundsätzlich als zulässig zu betrachten. Dies aber unter der Voraussetzung, dass dies transparent erfolgt und der Beitrag insgesamt sachgerecht und nicht manipulativ wirkt. Die journalistische Unvoreingenommenheit verbietet nicht, gewisse ­Hypothesen zu formulieren, solange das Publikum befähigt bleibt, sich aufgrund der Sendung eine eigene Meinung zu bilden. Zudem muss das Prinzip des «audiatur et altera pars» (beide Seiten anhören) auch bei ­einem engagierten, anwaltschaftlichen Journalismus respektiert werden.

Der Standpunkt des Kritisierten ist in ge­eigneter Weise darzustellen. Das Sach­gerechtigkeitsgebot verlangt aber nicht, dass alle Sichtweisen qualitativ und quantitativ gleichwertig zum Ausdruck kommen. Entscheidend ist, dass der anwaltschaftliche Fokus für die Zuhörenden erkennbar ist und diese in der Lage sind, wahrzunehmen, inwiefern eine Aussage umstritten ist.

Diese rechtlichen Voraussetzungen des ­anwaltschaftlichen Journalismus sind bezüglich des Beitrags über den Fall Arslan weitgehend respektiert worden. Der BAZ-Journalist erhielt die Gelegenheit, seinen Standpunkt zu den wichtigen Aspekten der Angelegenheit zu erläutern und seine Kritik an der Ernennung von Sibel Arslan umfassend zu begründen. Der BAZ-Redaktor konnte ebenfalls seine Arbeitsweise und ­seine Motivation darlegen. Dass auf seine ­wiederholten Anfragen sowohl Sibel Arslan wie auch Regierungsrat Reber keine ­Antworten erteilen wollten, wurde in der Sendung mehrmals unterstrichen. Dem ­Publikum war es insgesamt möglich, zwischen Fakten und Ansichten zu unter­scheiden, und es wurde korrekt informiert.

Meinungsbildung gewährleistet

Nach Auffassung der Ombudsstelle war die Tonalität des Beitrags nicht neutral und wies teilweise einen gewissen tendenziösen Charakter auf. Dieser war allerdings Folge des anwaltschaftlichen Fokus des Beitrags. Entscheidend ist aber, dass der teilweise tendenziöse Charakter wie auch der besondere Blickwinkel des Beitrags deutlich erkennbar und deshalb auch nicht dazu geeignet waren, die Meinungsbildung des Publikums zu verfälschen. Dies war in der Sendung «Passage» vom 5. Juni eindeutig der Fall gewesen. Gemäss geltender Praxis kam die Ombudsstelle zur Auffassung, dass das Sachgerechtigkeitsgebot nicht verletzt wurde. Die Beanstandung wurde deshalb abgewiesen.

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