Radio-Nachrichtensendung «Heute Morgen» über den Brexit beanstandet

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Sie haben mit Ihrer e-Mail vom 24. Juni 2016 die Berichterstattung von Radio SRF zum Brexit, dem Entscheid Großbritanniens, aus der EU auszutreten, beanstandet, und sich dabei vor allem auf die Sendung „Heute morgen“ um acht Uhr des gleichen Tages bezogen. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Voraussetzungen für eine Beanstandung. Folglich kann ich auf sie eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„In der Berichterstattung über den Brexit ist mir aufgefallen, wie die Begriffe ‚Europa‘ und ‚EU‘ durcheinandergewirbelt werden. Da werden Gegner der EU als ‚Anti-Europäer‘ bezeichnet, obwohl diese nichts gegen Europa, sondern nur etwas gegen die EU haben. Die Briten haben ‚Europa verlassen‘, obwohl sie jetzt kaum zu Amerika gehören. Da wird von einem ‚traurigen Tag für Europa‘ berichtet, obwohl die EU gemeint ist. Da werden ‚antieuropäische Gefühle‘ angesprochen, obwohl die Gegnerschaft zur EU gemeint ist.

In der Primarschule wurde mir bereits beigebracht, dass Europa vom Atlantik zum Ural und meinetwegen bis zum Kaukasus reiche, die Türkei jedoch grossteils bereits zu Kleinasien gehöre. Bei SRF wird Europa anscheinend häufig mit der EU gleichgesetzt. Ich fühle mich aber durchaus als Europäer, auch wenn ich die erwiesenermassen vertragsbrüchige EU (vgl. Verträge von Maastricht, Lissabon usw.) als Fehlkonstruktion sehe.“

B. Soweit Ihre Begründung. Wie üblich, habe ich die zuständige Redaktion zur Stellungnahme eingeladen. Herr Fredy Gsteiger, stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF, schrieb:

„Gerne nehme ich die Gelegenheit wahr, Stellung zu nehmen zur Beanstandung

Nr. 4288. Herr X äussert sich darin zu unserer Berichterstattung über den Brexit und bezieht sich dabei auf die Sendung ‚Heute Morgen um acht Uhr‘ am 24. Juli 2016.

Ich habe die Sendung nachgehört und dabei festgestellt, dass Moderator Philippe Chappuis und die Korrespondenten sehr konsequent von EU sprachen und es offenkundig vermieden, EU und Europa als Synonyme zu verwenden, was sie gewiss nicht sind. Bereits in der Anmoderation zur Sendung war gleich dreimal von der Trennung EU-Grossbritannien die Rede. Ebenso mehrfach im ersten Live-Moderations-gespräch mit Grossbritannienkorrespondent Martin Alioth. Auch Bundeshausredaktor Dominik Meier machte in seinen Antworten klar, dass der Brexit ‚jenen Kräften in der Schweiz Auftrieb gibt, die gegenüber der EU sehr kritisch eingestellt sind‘ – also nicht gegenüber Europa.

Die von Herrn X angeführten Formulierungen kommen in der Sondersendung ebenfalls vor. Jedoch praktisch ausnahmslos in der Form von Zitaten, in der Regel indirekten. Bei Zitaten haben wir nicht die Formulierungshoheit. EU-Korrespondent Oliver Washington zum Beispiel berichtet, dass ‚in Brüssel von einem traurigen Tag für Europa‘ die Rede ist. Das war in der Tat der Fall; es ist eine Tatsache; genau so haben es viele Politiker und Beobachter in Brüssel und in europäischen Hauptstädten formuliert. Deutschland-Korrespondent Peter Voegeli zitiert Aussenminister Steinmeier mit dessen Twitter-Zitat, wonach es nach einem ‚traurigen Tag für Europa‘ aussieht. Und Martin Alioth wiederum spricht von ‚Anti-Europäern und Euro-Skeptikern‘ in der Konservativen Partei. Auch das ist nicht falsch; es gibt bei den Tories – wie überhaupt in Grossbritannien seit Jahrhunderten – eine starke Strömung von Politikern und Parteimitgliedern, die nicht nur EU- und Euro-Skeptiker sind, sondern grundsätzlich ihr Königreich als Europa nicht wirklich zugehörig betrachten. In der zwanzigminütigen Sendung fand ich lediglich eine einzige Stelle, wo in der Tat vom Auftrieb für ‚anti-europäische‘ Kräfte die Rede ist, jedoch besser von ‚Anti-EU-Kräften‘ gesprochen worden wäre. Aber auch hier ergibt sich unmittelbar aus den Sätzen davor und danach, was gemeint war. Zu erwähnen ist auch, dass all die Gespräche in der Sondersendung live waren und in der gesprochenen Sprache nicht exakt dieselben Massstäbe gelten können wie in geschriebenen und gelesenen Texten. Wir sprechen umgangssprachlich auch gelegentlich vom ‚amerikanischen Präsidenten‘, wenn es streng genommen ‚US-amerikanischen Präsidenten‘ heissen müsste. In jedem Fall muss aber für das Publikum unmissverständlich klar sein, was gemeint ist und was nicht. Das heisst, es muss sich aus dem Kontext unmissverständlich ergeben, wovon wir gerade sprechen.

Grundsätzlich gilt für uns: Wir stimmen mit Herrn X völlig überein, dass Europa und EU nicht dasselbe ist. Das eine ist ein geographischer und historischer Raum, das andere ein politischer Verbund. Wir legen in unserer Berichterstattung Wert darauf, klar zu unterscheiden. Passiert das nicht, dann wird das auch in unserer internen Sendekritik thematisiert.“

C. Damit komme ich zu meinem eigenen Kommentar. Sie haben völlig recht: Man muss unterscheiden, und die Medien müssen genau sein. Geographisch wird Europa begrenzt durch den Atlantik und den Ural – und man muss ergänzen: auch durch die Norwegische See, die Barentsee, das Mittelmeer, den Bosporus, das Schwarze Meer, das Asowsche Meer und den Manytsch. Danach ist Russland ein europäisches Land, weil sowohl die Mehrheit der Bevölkerung als auch die Hauptstadt Moskau westlich des Ural-Gebirges und des Ural-Flusses zu finden sind, die Türkei aber nicht, weil die Hauptstadt Ankara im vorderasiatischen Anatolien liegt, das überdies 97 Prozent der Fläche des Landes und 87 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Geographisch auch nicht zu Europa zählen im strengen Sinne Zypern, Georgien, Armenien und Aserbeidschan. Zypern aber ist Mitglied der Europäischen Union (EU). Und wohin gehört das dänische Außengebiet Grönland? Umgekehrt muss geographisch ein Teil Kasachstans zu Europa gerechnet werden, nämlich jener, der westlich des Ural-Flusses liegt. Vollends verwirrlich wird der politische Europa-Begriff verwendet, wenn wir uns internationale Organisationen anschauen: Zum Europarat mit 47 Mitgliedern zählen auch Zypern, die Türkei, Georgien, Armenien und Aserbeidschan, nicht aber Kosovo und Weißrussland.[1] Zur European Platform of Regulatory Authorities (EPRA) , der Organisation der Medienregulierungs-Behörden, der aus der Schweiz auch die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) angehört, zählen 46 Länder, darunter auch Kosovo, Zypern, die Türkei, Georgien, Armenien, Aserbeidschan und Israel.[2] In der European Broadcasting Union (EBU) mit Sitz in Genf, in der die europäischen Public Service-Sender organisiert sind, sind 56 Länder vertreten, darunter auch Zypern, die Türkei, Georgien, Armenien, Aserbeidschan, Israel, Libanon, Jordanien, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko[3], also außer Syrien alle Länder rund um das Mittelmeer. In der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit 57 Partnerstaaten wiederum finden wir neben Weißrussland, Zypern, der Türkei, Georgien, Armenien und Aserbeidschan auch die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien und die Mongolei sowie die nordamerikanischen Länder USA und Kanada.[4] Was im politischen Sinne als europäisch gilt, wird je nach Opportunität etwas enger oder etwas weiter gefasst.

Das ändert aber alles nichts an Ihrem berechtigten Anliegen, dass zwischen Europa und der EU unterschieden werden muss, da die beiden nicht identisch sind. Herr Gsteiger hat überzeugend aufgezeigt, wie Radio SRF mit den Begriffen umgeht, welches die Tonalität der Sendung war und warum man gerade in Großbritannien mit Grund von „antieuropäischen Kräften“ sprechen kann, weil diese nämlich nicht einfach die EU meinen, sondern den Kontinent überhaupt. Britannien-Korrespondent Martin Alioth vergisst im Beitrag „Heute morgen“ an drei Stellen, von der EU zu sprechen, nämlich erstens, als er sagt: „...entschieden haben, Europa zu verlassen“ (2:41), zweitens, als er von der „antieuropäischen, fremdenfeindlichen UKIP-Partei“ spricht (4:30) und drittens, als er „Antieuropäer und Euroskeptiker“ in der Konservativen Partei erwähnt (5:00). Oliver Washington in Brüssel spricht ebenfalls von „antieuropäischen Kräften“. Ich bin der Meinung, dass die Begriffe „antieuropäisch“ und „Antieuropäer“ im Zusammenhang mit Politikern und Parteien nicht falsch sind, gleichgültig, ob sie sich auf die EU oder auf eine andere Organisationsform beziehen. Ein antieuropäischer Politiker ist nicht gegen den Kontinent, auf dem er lebt, sondern gegen mehr europäische Integration, ob diese nun durch die EU, den EWR, die EFTA oder den Europarat realisiert wird. Die Schweiz hat beispielsweise lange gezögert, die Europäische Sozialcharta zu unterzeichnen, weil sie sich diesem Vereinheitlichungsschritt nicht unterziehen wollte. Sie verhielt sich damit antieuropäisch, weil sie die nationale Lösung der europäischen vorzog. Insofern sind drei der vier problematischen Stellen in der inkriminierten Sendung ohne weiteres akzeptabel. Es bleibt der Halbsatz „...entschieden haben, Europa zu verlassen“. Das war zwar ein Fehler, aber kein schlimmer, eher ein Versprecher in einer Live-Sendung, der dadurch entschuldigt ist, dass Martin Alioth vorher und nachher mehrfach vom Austritt aus der EU sprach, und die Zuhörerinnen und Zuhörer stets wussten, was gemeint war. Das Publikum ist also in keiner Weise hinters Licht geführt worden. Wenn aber Ihre Beanstandung dazu führt, dass sich die Redaktionen noch sorgfältiger um die jeweils richtigen Begriffe kümmern, dann hat sie ihr Gutes.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] www.coe.int/de/web/portal/47-members-states . Die Nichtmitgliedschaft Weißrusslands und Kosovos haben politische, nicht geographische Gründe.

[2] www.epra.org/organisations . Israel ist vor allem dabei, weil es Radio und TV ähnlich reguliert hat wie europäische Länder.

[3] http://www.ebu.ch/files/live/sites/ebu/files/About/EBU_Directory/EBU-Active-Members.pdf

[4] www.osce.org/states . Eigentlich müsste die OSZE längst den Namen ändern.

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