Ausstrahlung des Films «Feuchtgebiete» auf SRF 1 beanstandet

4314 bis 4354, 4357 und 4359
Sie haben mit Ihrer Beanstandung die Ausstrahlung des Spielfilms „Feuchtgebiete“ beanstandet. Der Film wurde durch Fernsehen SRF am 17. August 2016 ab 22:55 Uhr gesendet. Neben der Ihren gingen 42 weitere Beanstandungen ein. Die 43 Beanstandungen waren von insgesamt 48 Personen unterzeichnet. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Anforderungen einer Beanstandung. Ich kann folglich auf sie eintreten.

A. Ich kann hier nicht alle 43 Begründungen ausbreiten, sondern fasse sie zusammen. Dies tue ich, indem ich die Argumente in thematische Abschnitte gliedere. Sie äußerten sich

  • Zum Inhalt: Der Film „Feuchtgebiete“ sei moralisch und ethisch nicht vertretbar, ja inakzeptabel, denn der Inhalt sei ekelhaft und ekelerregend, pervers, abartig, abnorm, gefühlskalt, egozentrisch, herzlos, scheusslich, schamlos, schändlich, widerwärtig, krank, voller Dreck, Schmutz und Schweinereien, menschenunwürdig, frauenverachtend, schnmuddelig, voll von Pornographie, ein bewusster Tabubruch, ein moralisches Schwerverbrechen. Man habe entsetzt und schockiert vom Film Kenntnis genommen, denn er verletze die Gefühle vieler Zuschauerinnen und Zuschauer. Es werde einem schlecht beim Zuschauen. Die gesunde Moralvorstellung werde zerstört.
  • Zum Sendezeitpunkt: Der Beginn der Ausstrahlung um 22:55 sei zu früh, nicht jugendfreie Sendungen sollten erst nach Mitternacht beginnen. In gewissen Gegenden der Schweiz sei die Ausstrahlung in die Schulferien gefallen, so dass Minderjährige durchaus noch haben wach sein können.
  • Zur Wirkung auf Minderjährige und auf Flüchtlinge: Ein solcher Film habe schlechte Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Sie erhielten ein ganz verdrehtes Bild von der Sexualität. Der Film mache Kinderseelen kaputt, so dass sie Therapien und Medikamente brauchen oder sogar Suizid begehen. Er fördere die Re-Traumatisierung bereits versehrter Menschen. Eine 16jährige schrieb im Namen der Kinder und Jugendlichen, dass die Botschaft des Films sie „wie ein Giftstachel mitten ins Herz“ getroffen habe. Wer solche Inhalte an unter 16jährige vermittle, mache sich nach Artikel 197 Absatz 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches strafbar.[1] Der Film übe auch eine schlechte Wirkung auf die Flüchtlinge aus, die aus anderen Kulturkreisen kommen und denen so ein falsches Bild sexueller Freiheit vermittelt werde.
  • Zum Einsatz von Gebührengeldern: Es sei ein Skandal, dass solche Filme mit Gebührengeldern finanziert werden. Das sei eine Verschleuderung. Man müsse sich nicht wundern, wenn man nach solchen Erfahrungen der No-Billag-Initiative zustimme. Die SRG habe ja bei der Abstimmung über das Radio- und Fernsehgesetz vom 14. Juni 2015 erlebt, wie wackelig ihre Unterstützung in der Bevölkerung sei.
  • Zu den gesellschaftlichen Auswirkungen: Ein solcher Film verderbe die Bevölkerung, zerstöre die Gesellschaft, richte irreparable Schäden an. Immer mehr Menschen würden durch solche Sendungen psychisch krank. Statt Auswege aus den gesellschaftlichen Problemen zu zeigen, tue das Fernsehen das Gegenteil. Das sei kein Service public, denn der Streifen sei nicht lehrreich und alles andere als ein Vorbild. Der Film werfe auch ein schlechtes Bild auf die Schweiz und schädige ihren Ruf. Man wolle ein Programm, für das man sich nicht schämen müsse.
  • Zur Verantwortung der SRG: Es sei unverantwortlich, einen solchen Film auszustrahlen. Gerade ein „Staatssender“ dürfe das nicht tun. Der Film sollte verboten und die SRG bestraft werden. Viele von Ihnen ersuchten die Programmverantwortlichen, ihre Doktrin zu überdenken und es das nächste Mal besser zu machen.

B. Soweit die Zusammenfassung Ihrer Argumente. Die 43 Beanstandungen wurden den Verantwortlichen von SRF zur Stellungnahme vorgelegt. Herr Heinz Schweizer, Redaktionsleiter Einkauf Fiction, Factual und Einsatzprogramme von Fernsehen SRF, schrieb darauf:

„Nach der Ausstrahlung des Spielfilms ‚Feuchtgebiete‘ am Mittwoch, 17. August 2016 im Programm von SRF 1 sind direkt bei der Ombudsstelle SRG.D insgesamt 43 schriftliche Beanstandungen eingegangen. Nur eine einzige Zuschauerreaktion ist über den Kundendienst von SRF direkt bei uns eingetroffen. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung des Inhalts. Über den Film (D 2013) von Regisseur David Wnendt und den zugrundeliegenden Roman ‚Feuchtgebiete‘ von Charlotte Roche (2008) und dessen Spiel mit Tabubrüchen wurde in den vergangenen Jahren in unzähligen Medien ausführlich berichtet. Auch in einzelnen Beanstandungen werden Szenen oder Handlungsstränge mehr oder weniger ausführlich nacherzählt. Die Hauptvorwürfe an die Programmverantwortlichen von SRF lauten zusammengefasst: Die Ausstrahlung von ‚Feuchtgebiete‘ am 17.8.2016 ab 22.55 Uhr

  • verstösst trotz später Sendezeit und FSK-16-Freigabe gegen den Jugendschutz
  • verstösst gegen Art. 197 Absatz 1 im Schweizerischen Strafgesetzbuch
  • verletzt (absichtlich) Tabus und Moralvorstellungen der Schweizer Bevölkerung
  • verschleudert Konzessionsgelder (mehrfache Erwähnung der No-Billag-Initiative)
  • verhindert die Integration junger ‚Migranten‘ durch ein falsch dargestelltes Frauenbild

Die zuständige Redaktion Einkauf Fiktion, Factual und Einsatzprogramme nimmt wie folgt Stellung:

Das eingekaufte fiktionale Programm von Schweizer Radio und Fernsehen besteht aus Filmen und Serien. Jedes Jahr bestücken wir ca. 1500 Sendeplätze mit Spielfilmen und zeigen rund 5000 Serienfolgen, verteilt über jeweils 24 Stunden auf die beiden Sender SRF 1 und SRF zwei. Ein herausragendes Merkmal dieses Programmangebots ist die inhaltliche Vielfalt. Vom Kinderfilm bis zum harten Krimi, von der Romanze am Nachmittag bis zum anspruchsvollen Arthouse-Titel im Spätabend bieten wir unserem breit interessierten Publikum ein ebenso breit gefächertes Angebot. Dass nicht jedes Programmelement für jeden Zuschauer gleich attraktiv ist, gehört zu den Grunderkenntnissen unseres Berufs. Das simple Sprichwort ‚Des einen Freud ist des anderen Leid‘ trifft auch immer wieder auf die Rezeption fiktionaler Programme zu.

Wir verstehen unseren Programmauftrag explizit so, dass wir in begründbaren Einzelfällen auch einmal irritierende, kontroverse, manchmal sogar verstörende Produktionen zeigen. Dabei beachten wir selbstverständlich die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften sowie die Vorgaben der SRF-Jugendschutzrichtlinien[2] und des SRF-Gewaltpapiers. Beide Dokumente können unter www.srf.ch heruntergeladen werden.

Der Spielfilm ‚Feuchtgebiete‘, den wir am 21. August 2015, also vor genau einem Jahr, erstmals ausgestrahlt haben (damals ohne Reaktionen aus dem Publikum), gehört sicher in eine Kategorie von Produktionen, die an Grenzen gehen, in diesem Fall an diejenige des guten Geschmacks. Dennoch haben sich viele öffentliche deutsche Förderinstitutionen finanziell engagiert und der öffentlich-rechtlichen Sender ZDF hat koproduziert. Der Film wurde weltweit an zahlreichen Festivals gezeigt, und vor allem die junge Schweizer Hauptdarstellerin Carla Juri wurde mehrfach für Preise nominiert (z.B. für den ‚Bambi‘ und den Deutschen Filmpreis). Die Schweizer Filmkritiker verliehen ihr anlässlich der Welturaufführung am Festival in Locarno den Preis für die beste Darstellerin. Aber auch der Film selber erhielt von Kritikern mehrheitlich gute bis sehr gute Rezensionen. Es ist dabei unbestritten, dass ‚Feuchtgebiete‘ die gleichen - vor allem sexuellen - Tabus abhandelt, die schon den Roman auszeichnen. Der katholische Filmdienst schreibt dazu in seiner Kritik:

<Die vorzüglich gespielte und inszenierte Verfilmung des ‚Skandalromans‘ von Charlotte Roche jongliert mit expliziten Fäkal- und Masturbationswitzen, um eine lieblose, sich im Vordergründigen verlierende Gesellschaft zu entlarven, macht aber hinter der gesuchten Provokation die zwischen Narzissmus und Verzweiflung schwankende Protagonistin ansatzweise durchaus glaubwürdig.> (Alexandra Wach, FILMDIENST 2013/17)

In vielen Beanstandungen wird der FSK-Entscheid kritisiert. Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) ist eine angesehene deutsche Institution mit deutscher Rechtsprechung, an deren Beurteilungen wir uns bei SRF wegen der engen kulturellen Verwandtschaft stark orientieren. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil SRF sehr viele Produktionen mit der öffentlich-rechtlichen europäischen Sendegemeinschaft produziert (z.B. die ‚Tatort‘-Reihe). Die Aufgaben der FSK gemäss Website www.fsk.de:

<Die FSK-Kennzeichnungen erfolgen auf der Grundlage von §§ 12, 14 des Jugendschutzgesetz. Sie sind gesetzlich verbindliche Kennzeichen, die von der FSK im Auftrag der Obersten Landesjugendbehörden vorgenommen werden. Die FSK-Kennzeichnungen sind keine pädagogischen Empfehlungen, sondern sollen sicherstellen, dass das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen einer bestimmten Altersgruppe nicht beeinträchtigt wird.>

Und nachstehend der Wortlaut der FSK-Freigabebegründung für ‚Feuchtgebiete‘ vom 17.06.2013:[3]

<Das Drama nach dem gleichnamigen Bestseller von Charlotte Roche erzählt von einer 18-jährigen, die durch ihren experimentellen, tabulosen Umgang mit Sexualität und Körperhygiene ihre Umwelt ständig vor den Kopf stösst. Vermischt mit Rückblenden in ihre Kindheit und Traumsequenzen handelt der Film sehr offen von Themen wie Analverkehr, Intimhygiene, Masturbation und Intimrasur, widmet sich im Verlauf der Handlung aber immer mehr den emotionalen Bedürfnissen und Verletzungen seiner Hauptfigur. Die Inszenierung ist dabei sehr explizit, ohne jedoch in eine voyeuristische Haltung abzugleiten. Da sie durch Stilisierungen und die deutliche Überzeichnung der Hauptfigur auch immer wieder Distanzierungsmöglichkeiten eröffnet, können sich Jugendliche ab 16 Jahren ohne Überforderung mit der Geschichte auseinandersetzen und die gezielten Tabubrüche reflektieren. Auch einzelne bedrohlich gestaltete Traumsequenzen und Darstellungen exzessiven Drogenkonsums kann diese Altersgruppe verarbeiten und kritisch bewerten, ohne dass eine desorientierende Wirkung zu befürchten wäre.>

Um 20.00 Uhr beginnt bei SRF das Hauptabendprogramm, das sich an ein mündiges bzw. beaufsichtigtes Publikum richtet. Entsprechend können in Sendungen Szenen mit heiklen Inhalten vorkommen. Zwischen 22 Uhr und 6 Uhr erfolgen Sendungen mit Altersfreigabe ab 16 Jahren bzw. ab 23 Uhr ebenso Sendungen mit Altersfreigabe ab 18 Jahren. Vor Sendungen, welche ab 16 bzw. 18 Jahren freigegeben sind, werden entsprechende Warnungen in Schrift und Ton ausgestrahlt. Während der Dauer dieser Sendungen wird zudem als Warnsymbol dem Senderlogo ein roter Balken (sog. ‚Logo Rouge‘) unterlegt.

Diese Vorgaben wurden auch im aktuellen Fall korrekt angewendet. Die Wiederholung von ‚Feuchtgebiete‘ am Mittwoch, 17. August 2016 stand in direktem Zusammenhang mit einer siebenteiligen SRF-Dokumentation über junge Schauspielschüler. Im Anschluss an jede Folge wurde ein Spielfilm programmiert, in dem junge Schweizer Schauspieler erfolgreich Hauptrollen verkörpern. In ‚Feuchtgebiete‘ brilliert wie schon erwähnt die Tessinerin Carla Juri in einer anerkannt heraus-fordernden Rolle. Der Sendebeginn ergab sich aus der Kombination dieser Programme.

Wir bedauern, dass sich einige unserer Zuschauerinnen und Zuschauer (der Film wurde insgesamt von über 50‘000 Personen gesehen) an der Präsentation und vor allem am Inhalt dieses Films gestört haben. Wir können diese Irritation selbstverständlich nachvollziehen, möchten aber darauf hinweisen, dass wir ‚Feuchtgebiete‘ nicht als Provokation, sondern ganz einfach als Teil unseres umfangreichen fiktionalen Gesamtangebotes ausgestrahlt haben. Als eine Facette im unendlich weiten Kosmos des aktuellen Filmschaffens. Eine erneute Wiederholung ist übrigens nicht geplant, da die Ausstrahlungs-rechte verbraucht sind.

Nach Lektüre aller 43 Dokumente lässt sich feststellen, dass es sich wohl grösstenteils um eine ‚konzertierte Aktion‘ handelt, zumal in einem Brief auch die Vorlage beigefügt war, nämlich eine umfassende Auflistung möglicher Beanstandungspunkte. Die meisten Vorwürfe und Formulierungen finden sich denn auch in den Schreiben, die aber selbstverständlich trotzdem als Unikate zu betrachten sind. Geographisch können sie den Regionen Rheintal, Schaffhausen/Thurgau und dem Berner Mittelland zugeordnet werden. Eine einzige Beanstandung stammt aus der Nähe von Wien, wo das Programm von SRF kaum regulär empfangen werden kann.

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Beurteilung der Sache. Ich habe großes Verständnis für Ihre Beanstandungen. Sie sind Ausdruck einer Sorge, die über die Ausstrahlung dieses Films hinausgeht: dass die gesellschaftliche Moral zerfallen könnte; dass man nicht mehr weiß, was an die Öffentlichkeit und was zum Bereich des Privaten, ja Intimen gehört; dass alle Tabus gebrochen werden. Ich habe für die Beanstandungen Verständnis, auch wenn einige von Ihnen den Film gar nicht gesehen, sondern nur gehört haben, er sei ausgestrahlt worden, und obwohl sich etliche unter Ihnen in eine organisierte Kampagne einspannen liessen. Ganz egal, unter welchen Umständen und aus welchen Motiven Ihre Beanstandung zustande kam: Sie haben das Recht dazu. Das Publikum darf aufbegehren, wenn ihm in der Schweiz etwas an den Radio- und Fernsehprogrammen nicht passt. Darum nehme ich Ihre Kritik ernst.

Zuerst aber muss ich tadeln und belehren: Viele von Ihnen schrieben, ein solcher Film passe nicht zur SRG als „Staatssender“. Da liegen Sie falsch! Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) ist kein Staatssender, sondern ein privater Verein, der vom Bund eine Konzession und einen Leistungsauftrag hat. Er ist in seiner Programmarbeit absolut vom Staat unabhängig. So steht in der Bundesverfassung in Artikel 93 (Absatz 3): „Die Unabhängigkeit von Radio und Fernsehen sowie die Autonomie in der Programmgestaltung sind gewährleistet.“[4] Das Radio- und Fernsehgesetz verdeutlicht das nochmals in Artikel 3a: „Radio und Fernsehen sind vom Staat unabhängig“.[5] Staatssender kennen Länder wie die Türkei, Russland, China, Thailand oder Ghana, nicht aber die Schweiz. Darum ist es völlig normal, dass Radio und Fernsehen SRF in politischen Sendungen auch den Bundesrat oder die Bundesversammlung kritisieren. Das gehört zu ihren journalistischen Aufgaben.

Dies vorweg. Und jetzt komme ich zum Film „Feuchtgebiete“.

Wir müssen uns zunächst bewusst sein, dass sich die Sexualmoral gewandelt hat. Seit der 68-Bewegung ist sie offener und vielfältiger geworden. Es gibt weniger Tabus. Man ist freizügiger. So wurde denn auch die Filmzensur in den Kantonen nach und nach abgeschafft. Allgemein gilt, dass die Verklemmtheit und Prüderie der 50er und 60er Jahre der Vergangenheit angehören und dass man mehr zulässt, auch in den Medien.

Das Radio- und Fernsehgesetz sagt in Artikel 4, Absatz 1: „Alle Sendungen eines Radio- oder Fernsehprogramms müssen die Grundrechte beachten. Die Sendungen haben insbesondere die Menschenwürde zu achten, dürfen weder diskriminierend sein noch zu Rassenhass beitragen noch die öffentliche Sittlichkeit gefährden noch Gewalt verherrlichen oder verharmlosen.“[6] Zur Debatte steht also, ob der Film „Feuchtgebiete“ die öffentliche Sittlichkeit gefährdet. Was versteht man unter öffentlicher Sittlichkeit im Zusammenhang mit Radio- und Fernsehsendungen?

Denis Masmejan arbeitet im Standardwerk zum Radio- und Fernsehgesetz[7] heraus, was damit gemeint und was nicht gemeint ist. Nicht gemeint sei beispielsweise eine Sendung über homosexuelle Lebensrealität. Auch ein Beitrag, der auf gewisse Sexualpraktiken hinweise, falle nicht darunter. Auch das Porträt einer Frau, die eine Art sexuellen Marathon durchlaufen habe, verletze das Gesetz nicht. Ein Film hingegen, der sado-masochistische Praktiken in einer voyeuristischen Weise zeige, verstosse gegen die öffentliche Sittlichkeit. Gleichermaßen auch Filmszenen, in denen Jugendliche zum Sexualobjekt gemacht werden, um den Voyeurismus der Erwachsenen zu befriedigen.

Zwei Stichworte kommen immer wieder vor, wenn von einer Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Rede ist: Voyeurismus und Pornographie. Unter einem Voyeur versteht der Duden „jemand, der durch [heimliches] Zuschauen bei sexuellen Handlungen anderer Lust empfindet“[8] Und unter Pornographie versteht der Duden die „sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität“.[9] In beiden Fällen gibt es Betrachter, die zu den Handelnden keine direkte Beziehung haben; in beiden Fällen wird deren Reizung mehr durch die mechanische Seite der Sexualität erreicht als durch die erotische. Bei beiden sieht der Betrachter, was normalerweise gegenüber Dritten verhüllt wird. Wird am Fernsehen Pornographie gezeigt, werden alle Zuschauerinnen und Zuschauer zu Voyeuren.

Der Film „Feuchtgebiete“ hat zweifellos einen pornographischen Touch. Durfte Fernsehen SRF diesen Film zeigen?

Dafür spricht, dass dieser Film 2013 am Filmfestival von Locarno der Eröffnungsfilm war, der von 3500 Personen bejubelt wurde und dem man große Chancen zubilligte, den „Goldenen Leoparden“ zu gewinnen. Er erhielt vor allem auch Lob dank der herausragenden schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin Carla Juri, der 1985 geborenen, schon mehrfach preisgekrönten, aus dem Tessin stammenden Schweizerin. Sebastian Handke schrieb am 13. August 2013 im Berliner „Tagesspiegel“: „Die Schweizerin Carla Juri trägt den Film souverän – mit ihrer mutigen Darstellung einer jungen Frau, die frei und zwanghaft, herausfordernd und verletzlich, abgebrüht und kindlich, offen und verlogen und noch ein paar andere Dinge zugleich ist. Sogar sexy. Dafür sollte es am Wochenende in Locarno einen der Preise geben. Auch Regisseur David Wnendt, der bereits mit dem Neonazi-Psychogramm ‚Die Kriegerin‘ beeindruckte, hat das Hauptproblem gut gelöst: Wie zeigt man Ekliges so, dass es gerade noch zeigbar ist – und zugleich: ohne es abzuschwächen? Auf der Pressekonferenz beschwerten sich zwar Journalisten: Das will man doch nicht so genau sehen! Diesen Vorwurf allerdings kann man jeder Literaturverfilmung machen, ob sie nun von Analfissuren handelt oder nicht.“[10] In der „Welt“ schrieb Peter Praschl am 11. August 2013: „Eines an der ‚Feuchtgebiete‘-Verfilmung aber ist atemberaubend gut: ihre Hauptdarstellerin, eine bisher kaum bekannte Schweizerin namens Carla Juri. Sie schafft es, mit Zauber und Anmut durch den Film zu waten und dabei so unschuldig und rein zu bleiben, dass man Audrey Hepburn in ihr zu erkennen glaubt. Das ist eine sensationelle Leistung in einer Rolle, die von ihr verlangt, sich zwischen den Beinen zu kratzen, über ihre Analfissur zu reden und sich mit Eigenblut und noch unhübscheren Körperabsonderungen zu besudeln.“[11] Den „Goldenen Leoparden“ erhielt der Film dann allerdings nicht.

Für die Ausstrahlung spricht weiter, dass der Film in Deutschland und in der Schweiz ab 16 Jahren freigegeben wurde. Die Freiwillige Selbstkontrolle Filmwirtschaft (FSK) in Deutschland schrieb, dass „sich Jugendliche ab 16 Jahren ohne Überforderung mit der Geschichte auseinandersetzen und die gezielten Tabubrüche reflektieren“ können, und weiter: „Auch einzelne bedrohlich gestaltete Traumsequenzen und Darstellungen exzessiven Drogenkonsums kann diese Altersgruppe verarbeiten und kritisch bewerten, ohne dass eine desorientierende Wirkung zu befürchten wäre.“ [12] Die Schweizerische Kommission Jugendschutz im Film (JIF) gab den Streifen ab den 16. Altersjahr frei, empfahl aber, ihn sich erst ab 18 anzusehen.[13] Für die Ausstrahlung spricht, dass der Film in den Kinos lief und dass ihn das Fernsehen SRF schon im Sommer 2015 mal ausgestrahlt hat, ohne dass es damals auch nur eine einzige Beanstandung gegeben hätte. Dafür, den Film zu zeigen, spricht ferner, dass es sich um einen Spielfilm handelt, für den die Kunstfreiheit gilt. Kunst soll Auslauf haben, soll auch Gewagtes und Ungewohntes präsentieren, soll provozieren. Wer das nicht erträgt, kann mit dem Fernbedienungsgerät abschalten oder umschalten.

Aber es gibt natürlich auch Gründe, die gegen die Ausstrahlung dieses Films durch das Fernsehen SRF sprechen. Das Publikum erwartet vom Service public-Anbieter SRG ein gewisses Niveau. Es erwartet, dass alle Teile des Programms allen Bürgerinnen und Bürgern zumutbar sind und dass sie nicht aus Abscheu abschalten müssen. Für mich als Ombudsmann steht allein die Frage im Zentrum, ob es richtig war, dass das Fernsehen SRF diesen Film - ein zweites Mal – ausgestrahlt hat. Ich muss das Buch von Charlotte Roche nicht gelesen haben. Ich kann mich sogar darüber ärgern, dass die Buchautorin und der Filmregisseur aus diesem fäkalischen Stoff ein Geschäft machten. Ich muss den Film auch nicht filmkritisch-ästhetisch beurteilen. Die einzige Frage, die sich stellt, ist, ob er quer zur öffentlichen Sittlichkeit steht und ob man das Publikum vor ihm hätte schützen müssen.

Ich habe den Film mit zwiespältigen Gefühlen erlebt. Auf der einen Seite imponierten mir die schauspielerischen Leistungen, vor allem die von Carla Juri, mich beeindruckten Kameraeinstellungen, Schnitte, die Musik. Auf der anderen Seite schaute ich mit ziemlich viel Widerwillen, ja teilweise mit Abscheu zu, denn ein solches Hohelied der Unhygiene ist schwer erträglich. Ich empfand den Streifen als künstlerisch überhöhte und verbrämte Pornographie.

Und da müssen wir vom Jugendschutz reden. Bei Radio und Fernsehen SRF können ab 20 Uhr auch Sendungen mit heiklem Inhalt ausgestrahlt werden, aber nur solche, die ab dem 12. Altersjahr freigegeben sind. Solche, die erst ab dem 14. Altersjahr freigegeben worden sind, müssen mit einem besonderen Jugendschutz-Signal angekündigt werden. Ab 22 Uhr sind Sendungen mit Altersfreigabe ab 16 Jahren, ab 23 Uhr auch solche mit Altersfreigabe ab 18 Jahren möglich. Diese werden aber nur mit Warnsignal ausgestrahlt. Fernsehen SRF hat also mit dem Film „Feuchtgebiete“ die eigenen Richtlinien eingehalten und sich auch nicht strafbar gemacht. Es ist indessen allen klar, dass diese Regeln heute nur noch relative Gültigkeit haben. Das Internet stellt den Unterschied zwischen den Programmen am helllichten Tag und den Programmen zur Nachtzeit auf den Kopf. Denn Kinder und Jugendlich können, sofern sie über die nötigen Zugangskenntnisse verfügen, die „verbotenen“ Sendungen unschwer in der Mediathek oder auf Youtube angucken, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Allerdings ist der Film „Feuchtgebiete“ auf Youtube nur zu besichtigen, wenn man sich anmeldet und wenn man sein Alter angibt. Es gibt also Schranken. Und auch generell sind die Jugendschutz-Massnahmen nicht unnötig: Es ist weiterhin richtig, wenn sich Radio und Fernsehen SRF strikt an die vorgeschriebenen Tageszeiten und die vorgeschriebenen Signale halten. Und es ist weiterhin richtig und wichtig, wenn Eltern dafür sorgen, dass die Kinder nicht zur falschen Zeit vor dem Fernseher sitzen.

Es handelt sich ohne jeden Zweifel um einen Grenzfall. Rechtlich kann sich Fernsehen SRF darauf berufen, dass der Film als künstlerisch wertvoll gilt, dass er von der JIF freigegeben wurde und dass die Vorschriften des Jugendschutzes strikt eingehalten wurden. Die Respektierung der Kunstfreiheit spricht dafür, dass man auch einen solchen Film im Fernsehen zeigt. Aber es ist zumindest fraglich, ob er der öffentlichen Sittlichkeit nicht entgegensteht. Er macht nicht nur Intimes, sondern auch Abartiges öffentlich: Müssen beispielsweise zwei junge Frauen ihre blutigen Tampons miteinander tauschen? Müssen vier Männer auf eine Pizza masturbieren? Dieser Ekel steht quer zur gesellschaftlichen Moral. Daher war es meines Erachtens unklug, dass Fernsehen SRF den Film ein zweites Mal ausgestrahlt hat.

Mit dieser Meinungsäußerung endet meine Zuständigkeit als Ombudsmann. Ich kann SRF nicht verbieten, solche Filme auszustrahlen. Ich kann nur Warnsignale aussenden. Und ich kann auch SRF nicht bestrafen. Der Ombudsmann hat keine Entscheidungs- und Verfügungsgewalt. Und das ist auch gut so: Es liegt im Charakter der Pressefreiheit, dass Veröffentlichungen nicht im Voraus unterbunden, sondern allenfalls hinterher kritisiert werden. Und es gehört zur Pressefreiheit, dass Einrichtungen wie die Ombudsleute Diskussionen auslösen, aber nichts unterbinden können.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] Art. 197 Abs. 1 StGB lautet: „Wer pornografische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornografische Vorführungen einer Person unter 16 Jahren anbietet, zeigt, überlässt, zugänglich macht oder durch Radio oder Fernsehen verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19370083/index.html

[2] http://www.srf.ch/allgemeines/kinder-und-jugendmedienschutzrichtlinien

[3] https://www.spio-fsk.de/?seitid=2737&tid=469&Vers=1&FGID=1048

[4] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html

[5] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20001794/index.html

[6] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20001794/index.html

[7] Masmejan, Denis/ Bertil Cottier/ Nicolas Capt (Ed., 2014): Loi sur la radio-télévision. Berne : Stämpfli Editions, p. 90/91.

[8] http://www.duden.de/rechtschreibung/Voyeur

[9] http://www.duden.de/rechtschreibung/Pornografie

[10] http://www.tagesspiegel.de/kultur/urauffuehrung-in-locarno-feuchtgebiete-ist-ja-gar-nicht-so-eklig/8629304.html

[11] https://www.welt.de/kultur/kino/article118873366/Diese-Feuchtgebiete-sind-nichts-fuer-Erwachsene.html

[12] https://www.spio-fsk.de/?seitid=2737&tid=469&Vers=1&FGID=1048

[13] http://filmrating.ch/de/verfahrenkino/suche.html?search=Feuchtgebiete

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