«Reporter» über «Die Nacherzieherin» beanstandet

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Mit Ihrem online zugestellten Brief vom 2. Oktober 2016 haben Sie die Sendung „Reporter“ vom gleichen Tag und dort den Film „Die Nacherzieherin“ beanstandet.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen, die eine Beanstandung erfüllen muss. Ich kann daher auf sie eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„ Mit grosser Bestürzung habe ich heute die Sendung Reporter ‚Die Nacherzieherin‘ auf SF1 verfolgt. Der Film ist nach meinem Dafürhalten klar zu tendenziös und nicht seriös. Sätze wie ‚Jugendliche, abgestumpft durch jahrelange, erfolglose Therapien‘, ‚er sei nicht krank nur schlecht erzogen‘ und ‚Sie (Frau Garibovic) stoppte alle Therapien, setzte das Ritalin ab.....‘ etc., erwecken klar den Eindruck eines vermeintlich wissenschaftlichen Hintergrundes. Durch die Art der Berichterstattung werden psychologische Abklärungen, am Beispiel von ‚Leandro‘, und Medikamente quasi als für überflüssig befunden.

Die darauf vom Reporter schwach vorgetragenen Einwände werden in keinster Weise durch ausgewiesene Fachleute untermauert oder entkräftet. Im Gegenteil, Frau Garibovic nimmt die konkrete Frage des Reporters dankbar zur Gelegenheit, ihre pseudowissenschaftlichen Thesen noch weiter auszuführen. Als Belege für ihre Expertise werden lediglich vage Aussagen zu Weiterbildungen wie ‚Therapeutin und Konfliktmanagerin‘ gemacht. Keine der erwähnten Behörden wie die KESB, Schulbehörden und/oder Ärzte können sich zu den Behauptungen äussern. Warum Frau Garibovic vom Schweizer Fernsehen dann sogar noch eine solch prominente Plattform zur Vermarktung ihres Buches geboten wird, entzieht sich meinem Verständnis. Hiermit reiche ich offiziell Beschwerde ein und beanstande diese Sendung in aller Form. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Bemühungen und freue mich auf Ihre Nachricht.“

B. Soweit Ihre Argumente. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Frau Nathalie Rufer, Redaktionsleiter „Reporter“, schrieb:

„Gerne nehmen wir Stellung zur kritischen Reaktion von Herrn X auf die Sendung ‚ Reporter ‘ vom 2. Oktober 2016:

Vorausschickend sei das Konzept der Sendung ‚Reporter‘ kurz dargelegt: ‚Reporter‘ ist eine Autorensendung. Sie beleuchtet aus der subjektiven Sicht des Autors eine interessante, umstrittene, an einem Wendepunkt stehende oder sonstwie aussergewöhnliche Person. Im Falle des beanstandeten Films ist das die als ‚Nacherzieherin‘ bekannte Sefika Garibovic.

Der Beschwerdeführer X wirft dem Autor vor, er befinde psychologische Abklärungen von Jugendlichen als überflüssig. Unseres Erachtens trifft das nicht zu. Die genannten Aussagen sind stets klar als solche erkennbare Zitate der Protagonistin des Films, Sefika Garibovic. Bereits der Titel der Reportage ‚Die Nacherzieherin‘ macht deutlich, dass es sich um ein Porträt besagter Frau handelt, in dem es darum geht, ihre Arbeitsmethoden darzustellen, und keineswegs um eine Bestandesaufnahme der Schulpsychologie oder von Therapieansätzen.

Einzig der Satz ‚Jugendliche, abgestumpft durch jahrelange, erfolglose Therapien‘ stammt vom Autor selber. Im Kontext mit dem Bild wird klar, wie er zu dieser Aussage kommt: Die Szene zeigt eine irritierend überschwängliche und intime Begrüssung zwischen Sefika Garibovic und einem ihrer Schützlinge. Auf die entsprechende Frage des Reporters antwortet die ‚Nacherzieherin‘, sie tue das absichtlich, um die Jugendlichen aus dem oft jahrelangen Trott gewohnter Therapienormen herauszureissen.

Der Beschwerdeführer wirft dem Film vor, einen ‚vermeintlich wissenschaftlichen Hintergrund‘ und ‚pseudowissenschaftliche Thesen‘ zu präsentieren. Das können wir nicht nachvollziehen. Wir sind vielmehr der Ansicht, Sefika Garibovic klar als eine Einzelgängerin zu präsentieren, die sich abseits der gängigen wissenschaftlichen Grundsätze von Pädagogik und Psychologie positioniert.

Wie bei unseren Filmporträts üblich, verzichtet auch dieses bewusst auf einen fachlichen Diskurs. Uns geht es darum, die Porträtierten fassbar zu machen und den Zuschauern das Urteil zu überlassen. Dass dabei auch das Buch erwähnt wird, das Garibovic verfasst hat, erscheint uns eine wichtige Zusatzinformation über die Protagonistin.

Wir sind der Ansicht, dass der Film ‚Die Nacherzieherin‘ das Gebot der Sachgerechtigkeit erfüllt.“

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Einschätzung des Films. Sie kritisieren, dass den Aussagen und Methoden von Sefika Garibovic keine Gegenpositionen gegenüber gestellt wurden. In der Konsequenz werfen sie dem Autor vor, dass er das Publikum in eine bestimmte Richtung gelenkt und damit manipuliert hat. Die Redaktion hingegen argumentiert, dass der Fokus auf der Person von Sefika Garibovic lag und nicht auf der Frage, welche Therapien für auf die schiefe Bahn geratene Kinder und Jugendliche die richtigen seien. Es handle sich um ein Porträt und nicht um eine Wissenschaftssendung. Aus der Sicht der Redaktion ist der Film sachgerecht, weil die Person korrekt dargestellt wurde - so, wie sie leibt und lebt.

Vergegenwärtigen wir uns doch mal die unterschiedlichen journalistischen Darstellungsformen. Wir können drei Grundtypen unterscheiden: referierende, interpretierende und kommentierende. Je nach Typus muss auch der Beitrag anders gestaltet werden.

Journalistische Darstellungsformen

Typus Formen Konsequenz
Referierende Darstellungsformen Meldung, Bericht, Dokumentation Die Journalisten sind neutral. Sie erwähnen alle relevanten Fakten und zitieren verschiedene Positionen
Interpretierende Darstellungsformen Interview, Porträt, Feature, Reportage, Analyse Die Journalisten nehmen eine teilhabende Rolle ein. Sie komponieren ihre Geschichte. Sie befragen aber Dritte nur bei schweren Anschuldigungen.
Kommentierende Darstellungsformen Kommentar, Glosse, Satire, Literatur-, Theater-, Konzert-, Film-, Architektur-, Kunstkritik Die Journalisten beziehen Position. Sie können angriffig sein, ohne dass sie die Angegriffenen zu Wort kommen lassen müssen. Sie sagen frei ihre Meinung.

Das Porträt von Sefina Garibovic, das der Autor Patrick Schellenberg gestaltet hat, gehört zu den interpretierenden Darstellungsformen. Das heisst: Es enthält, wie bei diesen Darstellungsformen üblich, eine sehr subjektive Sicht auf das Thema. Das ist unproblematisch, solange nicht konkrete Vorwürfe gegen bestimmte Personen oder bestimmte Organisationen und Institutionen erhoben werden. Die Porträtierte sagt zwar, dass sie bei den von ihr Betreuten die bisherigen Therapien beende und das Ritalin absetze, aber sie nennt nicht Namen von Ärzten, Therapeuten oder Institutionen, die sie beschuldigt, alles falsch gemacht zu haben. Folglich ist es auch nicht zwingend, dass Verfechter anderer Methoden zu Wort kommen.

Ein Porträt ist immer sehr persönlich und verführt das Publikum fast automatisch zur Parteinahme: Entweder die dargestellte Person begeistert, oder sie wirkt abstossend. Ich selber habe diesen Film gern und mit viel Sympathie für Sefina Garibovic angeschaut. Wiewohl ich überzeugt bin, dass man Kindern viel Freiheit lassen muss, damit sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, finde ich, dass Sefina Garibovic Recht hat, wenn sie sagt, man müsse Grenzen setzen (wie ja auch der Titel ihres neuen Buches heißt)[2]. Dass aber ihre Methoden auch nicht garantiert erfolgreich sind, zeigt die Tatsache, dass sie mit ihrem Konzept bei einem der Knaben scheitert. Gerade dadurch kommt zum Ausdruck: Nur der Mix verschiedener Methoden und Therapien führt zum Erfolg, und die porträtierte „Nacherzieherin“ kann auch nicht zaubern. Aber es gelingt dem Film, sie so zu zeigen, dass man ihr Respekt zollt – wegen ihrer Hartnäckigkeit und Unermüdlichkeit, wegen ihres Glaubens an das Gute im Menschen.

Konzessionierte Radio- und Fernsehprogramme müssen in der Schweiz die Vielfalt nicht in jeder Sendung, sondern im Laufe längerer Programmperioden spiegeln. So ist es sicherlich wünschenswert, dass gelegentlich (im „Club“, in der „Sternstunde“, in der „Rundschau“ oder wo auch immer) über Therapiemethoden bei Kindern in schwierigen Stadien diskutiert wird. Aber die einzelne Sendung, und namentlich ein Porträt, ist auch dann sachgerecht, wenn nicht im gleichen Film noch andere Positionen zum Ausdruck kommen. Der Autor fragt ja am Anfang kritisch: Ist es wirklich so einfach (wie Sefina Garibovic sagt)? Und seine Reportage zeigt: Es ist nicht so einfach. Auch die „Nacherzieherin“ kann scheitern. Dadurch wird das Publikum zum Nachdenken gezwungen, und es kann sich frei eine eigene Meinung bilden. Und daraus folgt, dass ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen kann.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] http://www.srf.ch/sendungen/reporter/die-nacherzieherin

[2] http://www.srf.ch/sendungen/dok/es-fehlt-an-erziehung-nicht-an-therapien

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